index     vollmacht     impressum     disclaimer     CCAA     Archiv der Gründer - Der Roman     Akte Hunnenschlacht     Akte Hunnenschlacht 2

Dossier Kaiser Otto III.     Dossier Störtebeker     Dossier Jan van Werth     Akte Petersburg     Dossier Casanova 2    
Akte 9/11

Columnae     collection widerwort     Akte Orgacons     Akte Datacons    
LC-reviewed     editorials    
Aurum Agrippae     Zett ...?     Plumbum Agrippae

illigdebatte

Nota Agrippae


Hier wurden Ausgaben von agrippas mund gesammelt, in denen ab Januar 2004 Strategische Notizen prominenter Ratsmitglieder erschienen. Für die Wahrhaftigkeit von Äußerungen und Ernsthaftigkeit von Plänen übernehme ich keinerlei Gewähr. Ich bitte daher alle Leser, es sich reiflich zu überlegen, bevor sie ihre Lebensplanung oder auch nur einen einzigen Wertpapierkauf auf diese Texte gründen.
Köln, den 16.06.2007
Stefan Frank

Der Raum der Gründer
von
Dimitrij Samjatin, praefectus strategus
(15.01.04)


Liegt das Zeitalter der Gleichgewichtspolitik in Europa hinter uns? Noch vor zwei Jahren hätte man gesagt: ja - jedenfalls im eurasischen Binnengefüge, für das wir uns zuständig fühlen. Heute, nach den amerikanischen Versuchen, in Spanien, Polen und Großbritannien Konterbalance gegen eine sich entwickelnde EU zu organisieren - weniger deutlich. Entschieden nein - im Verhältnis zwischen den Global Players auf Ebene der Räte und Staaten, man betrachte nur die deutsch-französisch-russische Triplealliance gegen den Irakkrieg oder Europas Zusammenarbeit mit China betreffend das GALILEO-Satelliten-Navigationssystem.
Innereurasisch jedoch geht nach wie vor jede zielführende Überlegung von nur mehr zwei Polen aus – der Europäischen Union und Russland. Sie sind, auf dem Spielfeld, das wir als das unsere betrachten, langfristig Partner oder Gegner, denn auf völlige Verschmelzung beider Blöcke hinzuarbeiten, halten wir für illusorisch. Wir streben keine Hegemonie eines Blocks über den anderen mehr an, sondern, wenn irgend möglich, Partnerschaft, wirtschaftlich wie militärisch.
Um die Pole herum gruppieren sich weitere Staaten. Ohne ihnen geradezu die Existenzberechtigung abzusprechen, betrachten wir manche davon, etwa Weißrussland, als Trabanten ihres jeweiligen Zentrums. Die Türkei können wir sinnvollerweise überhaupt keinem Pol zuordnen. Wir wollen nicht einmal verschweigen, dass ihre Integration in die EU vom Rat kontrovers diskutiert wird. Andere Staatsgebilde, etwa die Schweiz, koexistieren problemlos mit ihrem Pol. Bei wieder anderen, so den drei baltischen Republiken, fällt es in Wahrheit gar nicht leicht, sie eindeutig nur einem Pol zuzuordnen. Denn wie sehr ihre Staatsvölker auch die europäische Integration wünschen, wie stark ihre kulturelle Verwurzelung in Europa spätestens seit der Hansezeit sein mag – wir halten es durchaus für unentschieden, ob die hastige Integration Estlands, Lettlands und Litauens in EU und NATO nicht langfristig für Konflikte zwischen der EU und Russland sorgt, vielleicht, im Worst-Case-Szenario mit einem wiedererstarkten faschistoid-nationalistischen Russland, sogar zu militärischem Konflikt. Die russischen Minderheiten sind dort zahlreich und Russlands postsowjetische Traumata bleiben noch lange virulent. Eine letzte Gruppe von Trabantenstaaten ist dabei, uns zu entgleiten. Ich spreche von GUS-Staaten mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung, die seit Abwicklung der Sowjetunion teils deutlich unter den Einfluss unseres Bruderrates CLU geraten sind, teils, im Bestreben sich von der russisch/sowjetischen Ex-Kolonialmacht abzunabeln, die Nähe der USA suchen.
Was also wollen wir?
Wir wollen Frieden in unserem Raum – von der Südspitze Sachalins bis zum Turm von Belem. Der Kaukasus, Ostanatolien mit der Kurdenfrage, der exjugoslawische Balkan, Zypern, Nordirland und das Baskenland bilden jeweils eigene Problemlagen. Hoffen wir, dass nicht eines Tages die Exklave Kaliningrad und Korsika hinzukommen!
Gleich wichtig ist uns der äußere Friede an der unendlich langen Südgrenze unseres Raumes – von Gibraltar bis Wladiwostok. Wir streben nicht an, unseren Einflussbereich zu vergrößern. Im Gegenteil – wenn die südlichen GUS-Staaten zwischen Russland, Indien und China einen dezidiert islamischen Weg wählen, ist die nächste Generation unserer Führung bereit, gemeinsam mit CLU nach Übergangslösungen zu suchen, denn es würde unser Zentrum vergiften, eine fanatisierte Peripherie, die sich ablösen will, gewaltsam zu halten.
Wir streben wirtschaftliche Kooperation an, wo nicht ohnehin schon Integration stattgefunden hat oder -findet. Wir fördern Rechtsstaatlichkeit, wo immer dies möglich ist, ohne mit unseren Hauptzielen in Konflikt zu geraten. Wir stellen unsere Ressourcen in den Dienst des Kampfes gegen jede Art von Terrorismus. Wir verzichten im Verhältnis zu unseren Bruderräten auf die Erstanwendung von Gewalt. Wir sind die Gründer, der zweitälteste Rat auf unserem Planeten. Wir stehen zu unserer Verantwortung.

Der Pol Europäische Union
von
Adam Bonaventura Czartoryski, princeps consilii
(10.02.04)


Nachdem Spaniens und Polens verantwortungslose Politik samt der inkompetenten italienischen Ratspräsidentschaft Ende 2003 zum Scheitern der Europäischen Verfassung geführt hatte, entschied ich, diesen Abschnitt persönlich zu bearbeiten. Zuvor sollte mein successor Bucholtz unsere Positionierung bezüglich der Europäischen Union übernehmen. Ihm sei ausdrücklich gedankt für die Bereitwilligkeit, mit der er seinen Entwurf kassierte, um sich nunmehr den Angelegenheiten Russlands zu widmen.
Was wollten die destruktiven Länder auf dem EU-Gipfel erreichen, abgesehen davon, dass sie ihre Vasallenpflicht gegenüber Washington erfüllten? Ich denke, man erfasst ihr strategisches Ziel mehr oder minder mit dem Begriff Freihandelszone. Sie wollen offene Märkte für ihre Produkte und Arbeitskräfte. Zähneknirschend nehmen sie dafür in Kauf, ihre eigenen Märkte fremden Produkten zu öffnen. Sie wollen Mittel aus Europäischen Agrar- und Regionalfonds, über deren Verteilung sie als Bezieher gern gleichberechtigt mitbestimmen möchten. Damit ist ihr europäischer Ehrgeiz vielfach erschöpft – ich rede hier von der politischen Klasse, nicht von einer teils begeisterten Jugend oder intellektuellen Eliten. Doch die politische Klasse ist zu anspruchslos. Wir Gründer wollen mehr. Wir wollen keine Freihandelszone, sondern eine Europäische Union, die sich auf den Weg vom Staatenbund zum Bundesstaat macht.
Bleiben wir bei Polen: mehrfach geteilt zwischen Russland, Österreich und Preußen, nach Aufständen blutig niedergeworfen, auferstanden nach dem Ersten Weltkrieg, erneut zerstückelt von Hitler und Stalin, im Stich gelassen von Westeuropa, um Meilen und Abermeilen auf der Landkarte nach Westen verschoben und ein halbes Jahrhundert unter sowjetischer Kuratel – kein Wunder, dass das Land seine nationalstaatliche Integrität ein bisschen länger als vierzehn Jahre auskosten möchte, bevor es sie erneut verliert, im Prozess der Auflösung und Verschiebung von Kompetenzen nach Brüssel. Ich habe Verständnis für diese Position. Kein Verständnis habe ich für Politiker, die beides wollen - den Vorteil ohne die Lasten der Mitgliedschaft. Kein Verständnis habe ich für beinharte Verhandlungspartner, die um jeden Eurocent Zuschuss feilschen, um dann die Europa abgerungenen Fördergelder in US-Kampfflugzeuge zu investieren. Aber sehen wir nicht zu schwarz: Vieles könnte sich in diesem Jahr relativieren, besonders, was Polen angeht. Schon heute beispielsweise befürwortet nur noch ein Fünftel der Polen den Einsatz im Irak. Wenn sich dieser neue Realismus durchsetzt, könnte die Verfassung durchaus auf einem der beiden nächsten Gipfel beschlossen werden. Wenn nicht, dann eben nicht. Aber für diesen Fall muss ich, nicht als princeps der Gründer, auch nicht als Historiker, sondern als polnischer Patriot daran erinnern, wie Polen sich selber handlungsunfähig machte, bevor seine Nachbarn herfielen über das wehrlose Land. Es war das unumschränkte Recht eines jeden Magnaten im polnischen Sejm, durch sein Liberum Veto das ganze Land zu blockieren, das zur Unregierbarkeit führte und ausländischem Einfluss Tür und Tor öffnete. Im Jahr 2003 wollte Polen vergleichbare Abstimmungsmodalitäten für die EU erzwingen. Wieder stand nicht das konstruktive Element des Mitgestaltens im Vordergrund, sondern stures Beharren auf der Verhinderungsmacht. Eine traurige historische Parallele.
Die Gründer wollen demgegenüber ausdrücklich eine EU mit eigener Sicherheitsidentität, die weit hinausgeht über heutige GASP-Ansätze. Vielleicht verstehen es ja die Polen erst, nachdem sie sich als Kunden und Handlanger Amerikas gründlich die Finger verbrannt haben. Es könnte nämlich der Fall eintreten, dass Russland und Amerika sich zur Konsolidierung des pazifischen Raums so eng verbünden, dass Amerika dem wiedererstarkten Russland im Westen freie Hand lässt. Und zweifellos wird Russland wieder erstarken. Ob dann die US-gesteuerte NATO noch hinreicht, oder Ostmitteleuropa einen spezifisch europäischen Sicherheitsverbund benötigt zum Schutz vor revanchistischen Plänen Moskaus, sei dahin gestellt.
Ganz klar jenseits aller Debatten lautet die Position der Gründer: Europa braucht ein außen- und sicherheitspolitisches Instrumentarium, das der Kontrolle Washingtons entzogen ist. Natürlich könnte die EU niemals militärisch gegen die USA oder auch nur Russland antreten. Das will ja auch niemand. Doch aus europäischer Sicht schadet es auch nicht, die Kosten - etwa einer russischen Intervention rund um die Exklave Kaliningrad - so in die Höhe zu treiben, dass solchen Pyrrhussieg niemand mehr wünschen kann. In jedem Fall muss das Instrumentarium her, denn auch bei gänzlichem Mangel an Fantasie erkennt jedermann bald schon absehbare Szenarien in Nordafrika und im Nahen Osten, bei denen die sicherheitspolitischen Vorstellungen diesseits und jenseits des Atlantik nicht mehr überbrückbar sind. Außerdem: Russland erstarkt, während Amerika schwächelt.
Kurzum - wir begrüßen die Initiative Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs zur militärischen Integration mit faktisch eigenem Hauptquartier, gleichwie es dann de jure heißt. Wir missbilligen die Störmanöver ostmitteleuropäischer und südeuropäischer Staats- und Regierungschefs, die sich zu Handlangern Amerikas machen, die gemeinsame europäische Außenpolitik sabotieren, die Sicherheitspolitik sabotieren und in der Hoffnung auf ein Schulterklopfen vom großen Bruder darauf hinarbeiten, dass Europa zur Handelsunion mit eigener Währung verkommt. Die Herren Miller, Schüssel, Aznar-Nachfolger Rajoy und vielleicht noch Berlusconi werden in dieser Sache von uns hören. Das Vereinigte Königreich ist ein Sonderfall, auf den anderenorts einzugehen ist. Ein weiterer Sonderfall, da wir schon einmal über Amerikas trojanische Pferde auf unserem Schachbrett sprechen, ist die Türkei. Viele Leser der Website kennen die diesbezügliche Kontroverse zwischen mir und meinem Stellvertreter. Bucholtz will - nicht aus sentimentalen Gründen, sondern im Sinne einer Vorwärtsverteidigung des säkularen Staatsgedankens - die Integration der Türkei in die EU. Ich lehne dies ab - weil ich nicht an der Südostflanke erschaffen will, womit wir an der Nordwestflanke Europas in Gestalt Großbritanniens schon zu kämpfen haben. Um dies ganz unmissverständlich auszusprechen: Solange ich als regierender princeps COT führe, kommt es nicht zum EU-Beitritt der Türkei.
Wir wollen die – durchaus stark variierenden - europäischen Lebensstandards sichern in einem zunehmend härteren internationalen und interkontinentalen Wettbewerb. Wir wollen schonender mit Ressourcen umgehen, als wir es bisher getan haben. Da Westeuropa beim Wettbewerb um die niedrigsten Kosten nicht mithalten kann, setzen wir auf Innovation und technologische Spitzenleistung. Wir wollen fortschreitende Integration des Binnenmarktes, möglichst flankiert vom Abbau der Brüsseler Bürokratie. Wir wollen Stärkung des Europäischen Parlaments und Straffung von Kommission und Ministerrat. Wir wollen, cum grano salis, Gewichtung der Stimmen gemäß der Bevölkerung des jeweiligen Mitgliedslandes. Wir wollen auf die gemeinsame Außenpolitik der EU hinarbeiten, die es noch lange nicht geben wird. Wir wollen für den Krisenfall eine EU-Verteidigung bereitstellen. Wir wollen rechtsstaatliche Integration und EUROPOL. Im Kampf gegen den internationalen Terror legen wir den Maßstab hoch an – bei der stupenden Professionalität des französischen Untersuchungsrichters Jean-Louis Bruguière. Insbesondere Deutschland sollte sich hieran ein Beispiel nehmen. Wir wollen die Defizitverfahren gegen Verschuldungssünder so gestalten, dass die Großen Zwei Frankreich und Deutschland in nicht allzu große Schwierigkeiten kommen.
Den Fahrplan der EU bis 2008 billigen wir.
2004: Europäisches Unternehmensrecht. Öffnung der Gas- und Elektrizitätsmärkte für Unternehmen. Verwirklichung des einheitlichen Luftraums. Arzneimittelmarktreform.
2005: Reform der Finanzmärkte.
2006: Marktöffnung für Postdienstleister.
2007: Verbraucherorientierte Liberalisierung der Gas- und Elektrizitätsmärkte.
2008: Galileo-Satellitennavigation einsatzbereit. Totale Marktöffnung der Eisenbahnnetze.
EU-Skeptiker sollten besser austreten, als den Integrationsprozess zu behindern. Da Europa handlungsfähig bleiben muss, auch im unüberschaubaren Wachstumsprozess, handelt COT nach dem Grundsatz: Vertiefung vor Erweiterung. Wo immer nötig – ein Kerneuropa, das in wechselnden Allianzen vorangeht. Dabei sollte die EU Empfindlichkeiten der Kleinen nicht provozieren. Doch genauso wenig sollte die Gemeinschaft sich durch übertriebene Rücksichtnahme blockieren lassen. Sie sollte vielmehr die Kleinen offensiv mit der Frage konfrontieren, ob sie als kleine Partner Amerikas oder Russlands – oder auch klein und ganz allein – tatsächlich besser fahren.
Innerhalb der EU wollen wir strukturelle Kriegsführungsunfähigkeit. An den Grenzen der EU betreiben wir Deeskalation und Friedenssicherung, vergessen allerdings auch nicht, Verteidigungsfähigkeit aufzubauen, denn wir können heute weder abschätzen, was aus Russland wird, dem Sorgenkind unseres Raumes, noch kontrollieren wir die Lage in Nahost oder auf unserem afrikanischen Nachbarkontinent.

Der Pol Russland
von
Karl Bucholtz, successor principis
(10.02.04)


Sehen wir den Tatsachen ins Auge: schade ist es nur um Jabloko. Aber diese Liberalen erreichten schon bei der Parlamentswahl vor vier Jahren kaum 6 Prozent und waren kein Machtfaktor mehr. Die zweite demokratische Oppositionspartei, die Union rechter Kräfte, vertritt ein neoliberales Programm – in einem Land, wo ohnedies 43 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Um die Einbußen der Kommunisten ist es bestimmt nicht schade. Und dass nun Schirinowski noch inbrünstiger als zuvor davon träumt, die Stiefel der Roten Armee im Indischen Ozean zu baden, ist zwar bedauerlich, wird aber ausbalanciert durch das Zweidrittel Übergewicht der zynischen Pragmatiker von Putins Einigem Russland.
Ohne Schnörkel: Das Land ist eine Entwicklungsdiktatur mit demokratischem Feigenblatt - unschön, aber unvermeidlich, denn alles andere hieße Chaos. Schon jetzt toben hinter den Kremlmauern Machtkämpfe, von denen nichts nach außen dringt. Mancher Fraktion der Sicherheitskräfte ist das demokratische Feigenblatt viel zu groß und Putins „gelenkte Demokratie" noch viel zu liberal und demokratisch. Andere fühlen sich zu kurz gekommen bei der Umverteilung des Volkseigentums - das schönste Beispiel war der Versuch, Chodorkowskis Aktienpaket zu kapern, weshalb Putin dann auch nicht uneingeschränkt glücklich war mit der Verhaftung des Ölmilliardärs. Am Ende passte die Verhaftung Chodorkowskis zwar zu Putins schmutzigen Wahlkampf - doch immerhin hatte Chodorkowski tatsächlich vorgehabt, Ölaktien für 25 Milliarden Dollar nach Amerika zu verkaufen, zu einem Zeitpunkt, da Amerika bereits in Georgien, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan massiv präsent ist. Öl ist mittelfristig Russlands Zukunft. Hatte Chodorkowski das übersehen, als er so viel Zukunft dem strategischen Rivalen von gestern anbot? Das Gefährlichste an dieser Affäre ist nicht der geoffenbarte Mangel an Rechtsstaatlichkeit, sondern die widerliche antisemitische Begleitmusik putintreuer Medien. Wir beobachten das aufmerksam.

Im Westen, hinter dem Glacis aus Ukraine und Weißrussland, lockt und provoziert der vergleichsweise reiche Gürtel aus erweiterter EU und NATO. Welche Provokation, wie nun baltische Republiken und Polen die Königsberger Enklave abwürgen! Welche Demütigung für die einstige Weltmacht! Und wie vergleichsweise verantwortungsbewusst Russlands Elite diese Bürde trägt!
Der ewig unruhige Kaukasus, wo strategische Ölinteressen im Streit liegen mit nationalen, oft tribalen Bewegungen, deren Freiheitsdrang sich meist darin erschöpft, den Clan durch erpresserische Geiselnahme zu bereichern und die Scharia durchzusetzen. Auf einer Seite die Pest Al-Quaida in Tschetschenien, längst auch die Nachbarrepubliken Inguschien und Daghestan im Würgegriff der Islamisten. Nach Afghanistan und neben dem Irak wird der Kaukasus mehr und mehr zum Durchlauferhitzer einer neuen Generation von Dschihad-Kämpfern. Auf der Gegenseite die Pest Russische Armee, die Kriegsgefangene von Panzern vierteilen lässt. Russland auf dem Kaukasus – das hieß schon immer: Barbarei. Lesen Sie Tolstois Hadschi Murat!
Wie der Krieg anfing? Da ging es nicht nur um Öl! Die bis heute aufgelaufenen Kriegskosten hätten längst hingereicht, ein Dutzend Pipelines um das winzige Ländchen herum zu bauen! Aber damals brach alles weg. Der Warschauer Pakt. Der Süden des Imperiums. Der Westen. Die Ostseerepubliken. Tschetschenien ist das Exempel, das Russland statuieren musste, weil der Westen, getrieben von den USA, zu gierig wurde. Tschetschenien ist Barbarei – aber aus dem Blickwinkel russischer Staatsräson unvermeidlich. Trotzdem muss dieser Konflikt beendet werden, weil nur so möglicherweise der Islamismus jener Region an sich selber erstickt.

Dazwischen und daneben wacklige Länder mit uralteuropäischen Kulturen wie Georgien oder Armenien. Überalterung. Alkoholismus. Erosion der Infrastrukturen. Kriminalisierung des Geschäftslebens. Korruption der Staatsapparate.
Ich weiß, es klingt zynisch, wenn ich feststelle, dass abgesehen von alledem die Weichen doch grundsätzlich in unserem Sinn gestellt sind, vernünftig, indem einerseits die Pipeline Baku-Noworossisk das aserbaidschanische Öl Russland zugänglich macht, andererseits die Trasse Baku-Batumi/Supsa die Anbindung ans Schwarze Meer gewährleistet, sodass Russland nicht übermütig wird. Baku-Ceyhan wird zur Lebensversicherung für Westeuropa und ist einer von vielen Gründen für die Notwendigkeit enger Beziehungen zwischen Türkei und Europäischer Union.
Bleiben wir beim Öl, das einstweilen 45 Prozent der russischen Staatseinnahmen ausmacht. Ölschulden Weißrusslands und der Ukraine gewährleisten eine gewisse russische Wirtschaftsdominanz in diesen Ländern und bilden eine Klammer gegen die von Amerika forcierte Drift auch jener Länder nach dem Westen. Wir sind der Meinung: Man kann die Atommacht Russland nicht endlos demütigen, ohne einen virulenten Revanchismus zu erzeugen. Belorus und die Ukraine sollten also weiterhin zum russischen Glacis gehören. Die geplanten Ostseepipelines sind in doppelter Hinsicht begrüßenswert - als Devisenbringer für Russland ebenso, wie als effektiv vergrößerte Unabhängigkeit Westeuropas von der Golfregion. An den beiden Bögen der Traceca ist nichts mehr zu ändern, allerdings führt die geplante Trasse im Norden, Almaty-Aktau-Baku, nicht nur durchs Kaspische Meer, sondern auch durch Kasachstan, das, anders als die abdriftenden Republiken Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan weiterhin eng mit Moskau kooperiert - man betrachte nur die Verlängerung des Baikonurvertrages bis 2050. Wann wir dort wen aus unserer Zuständigkeit in jene des Halbmondrates entlassen, werde ich hier nicht öffentlich machen. Das hängt von CLU ab, vom Verhalten der Amerikaner auf Rats- und auf staatlicher Ebene und nicht zuletzt von der Entwicklung dieser Republiken selber.

Die Öl- und Gasausbeuten zwischen Jakutsk und Irkutsk fließen naturgemäß nach China, während die einstige Gefängnisinsel Sachalin einen Teil der japanischen Versorgung übernimmt. So wird in den kommenden Jahrzehnten genügend Geld nach Russland fließen, um den von siebzig Jahren Kommunismus zerrütteten Koloss wirtschaftlich wieder zu beleben. Ein Projekt, das bei den Gründern allerhöchste Priorität genießt, denn nur, wenn Russlands Menschen nach europäischem Maßstab einigermaßen menschenwürdig leben, gibt es langfristig Frieden und Partnerschaft zwischen den beiden Polen unseres Gebiets. Wir würden es begrüßen, wenn CNM sich hierbei als ebenso kooperativ erwiese, wie der Orakelrat, was aber leider nicht der Fall ist.

Im Pazifik ist Russland ein stabilisierender Faktor, nördlich des explosiven Vierecks, das von China, Taiwan, Japan und den beiden Korea gebildet wird. Und so soll es auch sein. Sibirien längs der Bahn- und Öltrasse Transsib, auch Lena-, Tura-, Yenisey- und Ob-abwärts wird bald offen stehen für chinesische Investitionen und Migranten.

Ein Wort an den Herausgeber: Natürlich wollen wir in Russland die Zivilgesellschaft stärken. Aber die überwältigende Präsenz postsowjetischer Sicherheitsapparate ist doch nicht zu leugnen. Was, lieber Freund, machen diese Leute in einer Zivilgesellschaft? Was denkst Du? Lassen die sich eine Demokratie westlichen Zuschnitts gefallen? Oder putschen sie? Oder wie willst Du sie, immerhin einige Millionen, teils bewaffnet, teils in Schlüsselpositionen tätig, politisch neutralisieren? Ist es nicht klüger, abzuwarten, bis sie friedlich wegsterben? Ist es nicht humaner, Geduld zu bewahren, bis die Kinder der neuen Gesellschaft nachwachsen und demokratisieren, was immer sie für nötig halten?
Russland hat keine demokratische Tradition. So etwas kann sich nur entwickeln, bilden, langsam und gefährdet, so wie alles, was noch wächst. Noch halten die zivilgesellschaftlichen Ansätze Russlands keinem Sturm stand – nicht wenn die Sicherheitsapparate entschlossen und brutal vorgehen. Einstweilen werden daher in Russland die Menschenrechte häufig  mit Füßen getreten. Wo übrigens nicht auf der Welt, abgesehen von drei Dutzend privilegierten westlichen Gesellschaften – ganz seltenen historischen Glücksfällen? Wenn wir Glück haben, viel Glück und sehr verantwortungsbewusste Politiker, werden wir uns zeitweilig regionaler Kooperation erfreuen. Mehr zu erwarten wäre Illusion. Es schadet nicht, ab und zu ein Geschichtsbuch in die Hand zu nehmen.

Gründer und Orakelrat
von
Herr Dsien, magister imperii
(26.2.04)


Als Marcus Vipsanius Agrippa endlich, nach drei gescheiterten Versuchen Dschuns,  vom Atrium her den Garten betrat, um sich die in Sand geharkte Kalligrafie erklären zu lassen, erwuchs dem Orakelrat sein junger Bruder: creatores orbis terrarum, die Gründer.
Viele Heere sind seit damals zwischen Ost und West geritten und gesegelt – doch jener versklavte Dschunkenkapitän des Orakelrats, versklavt übrigens aufgrund einer Intrige jemenitischer Weihrauchhändler, knüpfte ein Band, das kein militärischer Konflikt je wieder kappte, nicht einmal der kolonialistische Exzess des Opiumkriegs oder die Gräuel des internationalen Expeditionskorps unter Graf Waldersee.
Dschun heißt: die Anfangsschwierigkeit. Es gab lange Jahre des Kriegs zwischen Gründern und Orakelrat, dann folgte eine Zeit chinesischer Abkapselung, doch zum Schluss siegte die Vernunft: Wir schlossen den Vertrag, um Führungspersonal auszutauschen und eines Tages beide Räte zu verschmelzen.
Ich überlasse den Gründern, das Wirken Siau Chous zu bewerten. Über das Wirken seines Partner José Sampaio sage ich nur so viel: Meine Familie hätte ohne ihn nicht überlebt, und Deng Xiaoping wäre nach seinem zweiten Sturz 1976 nie wieder auch nur in die Nähe der Macht gelangt - hätte nicht „Onkel Jo" geholfen. Kein Mitglied des Orakelrates versäumt, zum Jahrestag der Ermordung Sampaios durch De Kempenaers Bande ein Weihrauchstäbchen zu entzünden.
Wir sind der Auffassung, dass Europa und China zusammengehören, und zwar nicht nur durch Handel mit aufgelassenen Plutoniumfabriken, durch Produktpiraterie, Glückskekse oder den immer ernsteren Kampf der Mediziner gegen drohende Pandemien. Ich weiß, dass ein festeres Band uns Räte verknüpft: der Wille, die Dummheit der Macht zu bändigen, umso mehr, als in unseren Tagen staatliche Macht überall auf der Welt schwindet und der Anarchie der Märkte weicht. Jawohl - wir wollen kontrollieren. Jawohl - wir scheitern bei diesem Unterfangen. Regelmäßig. Jedenfalls deutlich öfter, als wir gewinnen.

Nennt es bescheiden die Utopie des Möglichen! Nennt es, wie ihr wollt! Doch ohne uns – wenn ihr euch die Welt ohne uns vorstellen wollt, dann braucht Augen ohne Tränen.
Im physischen Sinn ist das Band nicht die Seidenstraße, sondern Russland. Russland mit seiner ungeheuren geografischen Ausdehnung. Russland ist der Resonanzraum. Was China tut, spürt Europa über diesen Resonanzraum an seiner Ostgrenze, sogar dann, wenn sämtliche Flughäfen der Welt schließen. Und was Europa tut, spürt China. Was Russland tut, das spüren alle beide. Wir haben also ein Brett mit drei Spielfeldern. Zwei davon, geografisch und wirtschaftlich überlegen, gehören den Gründern. Eines, weit überlegen durch die Anzahl seiner Menschen, ist China, das der Orakelrat besetzt. Links und rechts des Spielfelds erstreckt sich je ein Ozean, der auf beiden Seiten die Ufer Amerikas beleckt. Im Norden liegen raueste See und ewiges Eis. Im Süden liegen teils asiatische Regime, die nur den Orakelrat angehen, je weiter wir aber südwestlich schauen, desto auffälliger wird der politisch aggressive Islam. Doch welches Spiel wird nun auf diesem Brett gespielt? Das Spiel heißt Rückversicherung, Ausbalancierung. So wie China den Gründern nach dem Zweiten Weltkrieg dazu gedient hat, expansive Ambitionen Sowjetrusslands zu neutralisieren, so balanciert heute Russland mit China die USA aus. Gleichzeitig wiederum bilden Japan und Indien, vielleicht eines Tages auch Indonesien und Vietnam, Gegengewichte zu China. Chinas enge Partnerschaft mit Pakistan wiederum diente dem Zweck, Indien auszubalancieren, und so weiter und so fort.
Oder sollen wir die Landkarte anders erzählen? Nach dem Elften September, zu dem auch die gewagteste Konstruktion keine chinesische Verbindung herstellen kann, sieht China sich umgeben von US-Stützpunkten in Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan, Afghanistan, Pakistan, Diego Garcia, Singapur, Guam, auf den Philippinen, in Taiwan, Okinawa, Japan, Südkorea - ganz zu schweigen von der Siebten US-Flotte. Washington will anderthalb Milliarden Chinesen die Entwicklung abwürgen, um nicht in fünfzig Jahren Nummer Zwei im Pazifik zu sein. Washington betreibt Containment. Doch diese weise Strategie George F. Kennan's, dank derer der Sowjetimperialismus ohne Weltkrieg besiegt wurde, trifft nunmehr ein China, das nie sonderlich expansiv war. Nungut, ja Tibet - das geschah gegen den Willen des Orakelrats. Die Wiedervereinigung mit Taiwan befürwortet der Rat, nicht nur aus nationalen Gründen, sondern auch, um eines hoffentlich nicht fernen Tages die chinesische Entwicklungsdiktatur mit Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu konfrontieren. Danach, nach dem Anschluss Taiwans - ist China jedoch saturiert und auswärtige Konflikte drohen allenfalls noch im Streit um die Ölvorkommen des Südchinesischen Meeres.
Das Bündnis ist zwangsläufig. Wohin sollte China sich wenden, wenn nicht nach Nordwesten? Nach Russland, und über Russland nach Europa? Wo sollen wir heute Partner suchen, wenn nicht in der einzigen Lücke, die die überflüssige Einkreisung des Pentagon uns lässt? Haben wir je die USA angegriffen – oder bilden nicht vielmehr Skelette chinesischer Gastarbeiter das Fundament amerikanischer Eisenbahntrassen from coast to coast? Waren wir in Japan? Oder waren nicht eher die Japaner bei uns? Warum also kreist man China ein, dasselbe China, dessen mäßigenden Einfluss auf das geisteskranke nordkoreanische Regime man so dringend erbittet?
Dass der Orakelrat die Gründer braucht und ein ehrlicher Partner ist, steht außer Frage. In meiner Funktion als magister imperii der Gründer habe ich jedoch gelernt, dass dies auch umgekehrt gilt, und chinesisches Misstrauen, das noch aus Kolonialzeiten stammt, heute überflüssig ist. Die Gründer wollen mehr Behutsamkeit in der Taiwanfrage, sie kritisieren die Menschenrechts- und Minderheitenpolitik Chinas – und somit auch in gewisser Weise des Orakelrates. Abgesehen hiervon jedoch liegt wenig Trennendes zwischen der Vaterstadt Marco Polos und der Gelben Pagode.
Die Gründer verfolgen Chinas rasante und mit vielen Risiken behaftete Entwicklung sehr aufmerksam. Alarmiert wären sie jedoch, käme die Entwicklung zum Stillstand, denn dies wäre das größte vorstellbare Menschheitsrisiko. Umgekehrt wäre kaum etwas nützlicher für die gesamte Welt, als die friedliche Partnerschaft der großen Drei im Norden der eurasischen Platte: Europäische Union, Russland und China. Wenn dann die USA, wenn Japan, und Indien hinzustießen, gäbe es kein Problem mehr, das nicht zu lösen wäre. So viel als optimistischer Beiklang zu den pessimistischen Tönen meines verehrten Freundes Bucholtz.
Ihm, wie auch meinem Dienstherrn, dem princeps, sage ich heute ohne Hintergedanken: Es war richtig, dass der Orakelrat im Römischen Kaiserreich einen Partner gesehen hat. Es war richtig, jene Dschunke zu schicken.
Möge Agrippa stets und immerdar einen Mund haben!

Gründer und der Rat vom Berge
von
Benjamin Manners, praefectus extra
(Ende März 2004)


Japans konstitutiver Deal mit dem Sieger ist bestechend einfach: Es genießt den atomaren Schutz der USA und profitiert von der US-Garantie für seinen Ölimport. Im Gegenzug ist Japan politisch wie militärisch fügsam und zieht seine Investitionen nicht aus USA ab, weil sonst US-Wirtschaft und Dollar hoffnungslos einbrächen.
Im Resultat wirkt Japan manchmal wie der Transmissionsriemen der USA im Pazifik, ein Transmissionsriemen der uns gelegentlich verwundert ob seiner Schmiegsamkeit, besonders auf Ebene der Räte. Der Rat vom Berge war nicht immer auf reibungsloses Geschäft bedacht. Auch wenn ich nicht mehr dieser Generation angehöre, so kenne ich doch ehemalige Mitglieder der Dreiunddreißig, die sich lebhaft erinnern, wie stur der Rat vom Berge nicht nur die Kooperation, sondern gleich jegliche Kommunikation verweigerte, während die Dreiunddreißig sich vergeblich mühten, den Schaden zu begrenzen, der durch ein außer Kontrolle geratenes Nazideutschland und seinen italienischen Partner über die Welt kam.
Japans Ausbruch nach der isolationistischen Shogun-Ära, die expansive Phase nach der Meji-Restauration hatten etwas, ich bin versucht, zu sagen - Physikalisches. Wie bei einem Kessel, in dem der Druck endlich sein Ventil findet. Nach Hiroschima und Nagasaki schlug das geschichtliche Pendel zurück, und Japan duckte sich in eine splendid isolation, mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass die Zurückhaltung nur dem harten machtpolitischen Instrumentarium galt. Wirtschaftlich praktizierte man geradezu die Umkehrung des jahrhundertealten Tokugawa-Shogun-Kurses. Anstatt dass holländischen Ausländer in der winzigen Enklave Deshima landeten und Handel trieben, sonst aber Japan ein fast unzugängliches Land war, expandierte es nun heftigst in alle wirtschaftlich aktiven Weltregionen, das heißt, sieht man von Nordamerika und Europa ab, vornehmlich in die fernöstliche Nachbarschaft des Landes. Die Episode am Panamakanal und den Wunsch, den USA Kalifornien abzukaufen, können wir getrost vergessen, doch eine besondere, uns liebe, Amerika sicher ärgerliche Rolle, spielt der japanische Handel in Bezug auf China: Das gewaltige Handelsbilanzdefizit Japans von rund vierzig Milliarden Dollar, das sich für China jahrelang als Wohlstandszuwachs in ebendieser Höhe darstellt, hat die Entwicklung Chinas erst möglich gemacht und treibt sie weiter voran.
Kaum vorstellbar, dass dies Washingtons Intention entspricht. Noch unwahrscheinlicher, dass die japanisch-russische Annäherung, insbesondere im Energiebereich, den Strategen des neuen amerikanischen Jahrhunderts besonders lieb ist. Ein Japan, das unabhängiger ist vom Golf, ist unabhängiger vom Schutz seiner Ölimporte durch US-Flotten, ist unabhängiger von den USA, könnte eines Tages Dollarinvestitionen kündigen und in den Euro-Raum umdisponieren – wäre da nicht der gewaltige Handelsbilanzüberschuss Japans mit den USA, den es um jeden Preis zu erhalten gilt.
Und wie interpretieren wir Japans gewaltige Aufrüstung? Wirklich nur als reines Burden Sharing im Windschatten des überdehnten Imperiums Amerika? Oder als Wiederauferstehung einer vierten großen Macht im Pazifik? Ob die am schnellsten alternde Nation der Welt dieses Risiko eingehen sollte?
Die Gründer fordern den Rat vom Berge zur fairen Marktöffnung auf. Wir betrachten den Rat vom Berge als potenzielles Gegengewicht sowohl gegen China, wie auch gegen Amerika – ansonsten richten wir keine Erwartungen an Japan, außer, dass es weitermacht, wie bisher. Die maritimen Grenzkonflikte bezüglich der Kurilen, im Takeshima-Gebiet und im Senkaku-Archipel werden, wenn unsere Informationen stimmen, nie zur militärischen Virulenz reifen. Mag also Japan den USA Basen stellen, die Region wirtschaftlich stabilisieren, ein Steinchen bilden auf der großen Waage des Gleichgewichts, mag es sich an der Finanzierung der US-Raketenabwehr beteiligen, all dies begrüßen wir. Trotzdem knüpfen die Gründer auch das Band zwischen Russland und Japan. Die Gründer fördern das chinesisch-japanische Verhältnis. So verlockend es sein mag, Amerika als weltweite Ordnungsmacht zu sehen, deren Monopol um des lieben Friedens willen nicht gebrochen werden darf – sollte nicht Japan, um ein Stück Zukunft zu erschließen, aus der Botmäßigkeit des Kriegsverlierers erwachsen werden und sich konstruktiv den Nachbarn zuwenden?
Die Gründer meinen: ja. Zwar wird die Welt dann unberechenbarer, doch Japan muss einen selbstständigen politischen, nicht nur wirtschaftlichen Kontakt zu den alten Kriegs- und Kolonialgebieten herstellen, bevor eines Tages Amerikas Schutz wegbricht, oder die demografische Falle zuschnappt. China ist ein anspruchsvoller Nachbar.
Die Gegner dieser These sagen: Erinnert euch an Gorbatschow, wie verständnislos ihn jeder anglotzte, als er von der Sowjetunion als einem Ordnungsfaktor sprach! Und nun schaut euch den Kaukasus an, die Bomben in Moskaus U-Bahn, die Nachfolgeregimes im Süden Russlands! Was, glaubt ihr, was geschieht diesem Planeten, wenn die Ordnungsmacht Amerika abdankt zugunsten unsicherer Multipolarität? Dem setze ich entgegen: Wäre das Sowjetsystem nicht friedlich abgewickelt worden, eine Tat von so epochaler Bedeutung, dass heute noch niemand sie versteht, am allerwenigsten die Russen selber, dann gäbe es diesen Planeten vielleicht gar nicht mehr. Die letzten Vorwarnzeiten beliefen sich auf gerade einmal acht Minuten.
Was dann geschieht? Wenn Japan sich emanzipiert, und die USA sich kampflos aus dem Pazifik zurückziehen? Dann werden sich Allianzen bilden. So wie sich heute Allianzen bilden, die einander die Waage halten oder im Machtgefälle gegenüberstehen. Diese Allianzen werden ihre Konflikte kriegerisch lösen oder friedlich beilegen. Wo dann Japans Platz ist, ob das überalterte Land den Ansprüchen noch selber gerecht werden kann, die es heute zaghaft formuliert und denen es später ausgeliefert sein wird - sei dahingestellt. Es wird geschehen, was immer schon geschah. Eine Epoche macht der Zukunft Platz.
Relativ sicher ist nur, dass Japan zu den letzten funktionierenden Staaten der Erde gehören dürfte. Man braucht nicht alle Pessimismen Martin van Crevelds zu teilen, um dieser Analyse zuzustimmen: Kaum eine Gesellschaft ist so dafür prädestiniert, der Erosion staatlicher Macht standzuhalten, wie Japan. Wir wünschen Euch viel Glück, Kollegen!

Gründer und Indischer Rat
von
Karl Bucholtz, successor principis
(Ende März 2004)


Von Kaschmir zu den Philippinen, von Kathmandu über Singapur bis in die Guerillakriege Ceylons - ein Kreuz auf der Landkarte, das grob den Wirkungsbereich des Indischen Rates skizziert. Obwohl er sich 1945 geordnet und friedlich von uns gelöst hat, hielt seine Region die Welt mit Krieg und Völkermord in Atem, wie kaum eine zweite. Auf die Unabhängigkeit Britisch-Indiens folgten der erste und der zweite pakistanische Sezessionskrieg. Pakistan und Bangladesh wechselten in die Zuständigkeit des Halbmondrates, der Indochinakrieg ging dem Vietnamkrieg voraus, dem wiederum, immer noch im Schatten des Kalten Krieges zwischen Kommunismus und westlicher Welt, die Gräuel der Killing Fields folgten, sodass die Marcos-Diktatur auf den Philippinen als vergleichsweise harmlose Episode gelten darf, ganz zu schweigen von heutigen muslimischen Separationsbestrebungen dort.
Fast so sehr wie in Afrika gilt für das Territorium des Indischen Rates, dass es der Fluch der bösen Tat ist, dass stets nur Böses sie gebiert. Die böse Tat, der europäische Kolonialismus, der sich nicht begnügte, Handel zu treiben, sondern Land besetzen -, Völker unterwerfen wollte, diese böse Tat war unser Fehler, der Fehler der Gründer. Nicht, dass wir diese Art von Kolonialismus je gewollt hätten! Sie hat uns einen schrecklichen Preis gekostet, obwohl wir sie nicht wollten - aber wir haben bei ihrer Verhinderung versagt. Die europäische Dynamik war zu groß, um beherrschbar zu sein. Der Preis für uns als Rat war ein legatenkrieg mit dem Orakelrat, dem es schwer fiel, an unsere Unschuld zu glauben. In der Gelben Pagode analysierte man die europäische Kolonialisierung Asiens als Teil eines perfiden Gründerplans zur Erringung der Weltherrschaft. Die Gründer und ihr Beharren darauf, einfach nur partiell die Kontrolle verloren zu haben, fanden schlicht kein Gehör. Zu offensichtlich schienen die Entwicklungslinien. Unsere Schöpfung, der Templerorden, war zugrunde -, seine iberischen Reste im Christusorden aufgegangen. Heinrich der Seefahrer spielte seine Rolle als portugiesischer Entdecker. Eine ganz bestimmte Art von Kreuzen schmückte die Segel der Flotte von Cristobal Colon. Das portugiesische Goa war Sitz unseres legaten in Asien. Die Portugiesen in Macao besetzten als Erste ein Stück chinesischen Bodens. Die Philippinen wurden spanisch - und das alles passte zu gut, als dass die Wahrheit noch eine Chance gehabt hätte.
Ein Segen, dass dieses Missverständnis aus der Welt ist! Ein Segen auch, dass wir heute keine Strategien mehr entwickeln müssen bezüglich Thailands, Malaysias, Vietnams, Kambodschas oder der Philippinen, ein Segen, dass wir uns darauf beschränken dürfen, zu helfen, wo unsere Hilfe erwünscht ist und möglich!
Auf die kritische Region jedoch, in der China, Indien, Pakistan, Afghanistan aufeinander treffen – und in Gestalt Tadschikistans und Usbekistans auch Gebiete, die de jure noch unserem Territorium angehören, nehmen wir Einfluss. Hier müssen wir Einfluss nehmen. Und ich sehe mit großer Genugtuung, dass eine Reihe von Gesprächen, die ich Ende November, Anfang Dezember 2003 in Köln geführt habe, beginnt, Früchte zu tragen. Ich schreibe dies an dem Tag, an dem erstmals seit Jahren wieder ein Eisenbahnzug die Grenze zwischen den verfeindeten Atommächten Indien und Pakistan überquert.
Prinzipiell gibt es in der Region vier Sorten problematischen Gebiets. Indische Gebiete, die China beansprucht und von China besetzte Gebiete, die Indien beansprucht – beide wollen wir vernachlässigen, obwohl Pakistan ohne den mächtigen Partner China niemals den pakistanisch-indischen Konflikt auf jüngste Spitzen getrieben hätte. Dann gibt es von Pakistan besetztes Gebiet, das Indien beansprucht, sowie von Indien besetztes Gebiet, das Pakistan beansprucht. Letztere beiden Gebiete bilden Kaschmir, die umstrittene Region. Bewohnt wird sie zumeist von Pandschabis, deren Siedlungsgebiet sich von Neu-Dehli über Kaschmir weit nach Pakistan hinein erstreckt, sowie von Paschtunen, der Ethnie, die Nordostpakistan und Südwest-Afghanistan bewohnt und für das Hochkommen der Taliban verantwortlich zeichnet – doch hiervon später. Wenn es uns jetzt gelingt, ob mit oder ohne Wahlen, ob mit oder ohne Referendum – denn Demokratie ist schön, aber längst nicht so schön, wie die Vermeidung eines Atomkrieges - wenn es uns jetzt gelingt, diesen Kaschmirkonflikt zu entschärfen, dann leisten wir nicht nur etwas für den Frieden, sondern demonstrieren eindrucksvoll, dass Vernunft und Ausgleich möglich sind – sogar an der islamischen Bruchlinie, wofür es bisher leider nicht so viele Beispiele gibt. Wenn CLU das mitträgt, nicht mit einem anderen Volk des Buches, nicht mit Monotheisten als Partnern, sondern mit dem hinduistisch dominierten Indien, wo sogar sonst bestechend genauen Korrespondenten die Feder ausrutscht im „faulen Atem der Vielgötterei“ – kurzum, wenn das gelingt, dann will ich meine Hoffnung wieder auskramen aus der Schublade, wo sie seit Jahren verstaubt. Wenn das gelingt, wenn der Halbmondrat eine solche Reife beweist, dann will ich mit Freuden Verhandlungen aufnehmen über die Entlassung Turkmenistans, Usbekistans, Tadschikistans und Kirgistans in seine Zuständigkeit, sobald ich, was noch lange dauern möge, meinem Herrn, dem princeps auf dem Stuhl nachfolge.
Ist Hindu-Nationalismus nützlich? Nein. Ich finde ihn sogar wenig ansprechend, hoffe jedoch, dass er abflaut, auch innerindisch, sobald die Kaschmir-Krise sich erkennbar auf eine Lösung hin bewegt. Es gibt ein jahrhundertealtes Pfund der Toleranz, mit dem sich in Indien wuchern ließe. (Ja, ich weiß, Witwen werden immer noch verbrannt und wer das Klo putzt, gilt als unberührbar, doch dieses Vorurteil ist auch im saturierten Europa gar nicht selten.) Ich sehe Indien im Weltsicherheitsrat, genauso übrigens wie Japan. Ich sehe Indien als Markt und demnächst Konkurrenten unserer Räume. Ceylon und Kambodscha allerdings machen mich ratlos. Dass ein Land nur zur Ruhe kommt, wenn es die Täter des Völkermordes schont und integriert ...? Vermutlich gelte ich als Deutscher in dieser Frage als befangen. Dass ein krankes ethnisch-religiöses Konfliktgefüge eine wunderschöne Insel unlebbar macht - ?
Vielleicht besser noch ein Wort zu Pakistan - ja, die Gründer haben den Afghanistankrieg befürwortet, er machte Sinn. Pakistans, hauptsächlich von Paschtunen betriebener Geheimdienst hatte die bärtigen Religionsschüler gefördert, die Afghanistan erst infiltrierten, dann unterjochten, um schließlich Al-Quaida Asyl zu gewähren. Einmal davon abgesehen, dass viele arabische Dschihadisten nach Abzug der Sowjetunion ohnedies in Afghanistan verblieben waren, hat es nicht geschadet, dieses Nest der Prämoderne, der Intoleranz und des Terrorismus auszuräuchern. Allerdings wäre es klüger gewesen, nicht gleich im Irak eine Filiale aufzumachen, wo sich das vertriebene Gesindel nun nach Herzenslust und ohne wirksame Kontrolle tummelt. Der Irak war eine säkulare Diktatur. Dabei hätte man es belassen sollen, das hätte nicht nur innerirakisch, sondern auch weltweit weniger Leben gekostet.
Kann also Afghanistan wieder zum Staat werden? Ja – wenn wir uns mit einem Staat begnügen, der massive Drogenproduktion ebenso toleriert, wie islamistisch motivierte Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sonst wohl kaum. Sonst würden die Warlords und Separatisten obsiegen. Ob das so schädlich wäre? Ob es immer nötig ist, widerstrebende Ethnien ins Korsett westlicher Staatsmodelle zu pressen, mag dahin gestellt sein.
Entschärft die Bombe Kaschmir! So lautet unser Imperativ. Ohne den Kaschmir-Konflikt würde Afghanistan für Pakistan uninteressant, nicht einmal der paschtunisch gesteuerte Geheimdienst fände dann noch Argumente für seine Politik von gestern. Besonnenere Kräfte würden ihren Einfluss geltend machen, auf beiden Seiten der Bruchlinie.

Die Gründer und der Nahe Osten
von
Jules V. Polignac, praefectus horrei
(19.04.2004)


Vorab Grundsätzliches: Israels staatliche Existenz muss sicher sein. Die Palästinenser haben Anspruch auf Selbstbestimmung im eigenen Staat - allerdings läuft die Zeit für einen Staat Palästina aus demografischen Gründen ab, was Israel in Bedrängnis bringt. Der Westen braucht das Öl der Golfregion und ist folglich erpressbar. Die Regimes der Golfregion haben die unermesslichen Einkünfte der letzten Jahrzehnte vergeudet - weshalb in den Völkern der Region eine Wut herangewachsen ist, mit der sich nur schwer Frieden schließen lässt.

Israels staatliche Existenz muss sicher sein.
Hierüber diskutieren die Gründer nicht. Punktum. Wer dem beipflichtet, findet uns in mancher Hinsicht kompromissbereit. Wer nicht beipflichtet, kann unser Freund nicht sein.
Um unser Engagement in diesem Punkt zu verstehen, muss man wissen, dass wir hier vom zweitgrößten Bogen in der Geschichte unseres Raumes sprechen. Einen noch größeren Bogen bildet nur Rom selber, unser Rom, gegen das Zeloten und Sikarier aufständisch wurden, wofür Vespasian und Titus sie mit Krieg überzogen, bis ihre letzte verzweifelte Schar den Freitod wählte, nachts bevor der Feldherr Silva ihre Burg Masada stürmte. Jerusalem war zerstört. Vom Tempel des unsichtbaren Gottes stand nur noch ein Stück der Westmauer. Der Eid Nie wieder Masada! ist auch zweitausend Jahre später Israels kämpfenden Einheiten geläufig. Damals erreichte der Wellenkamm unfreiwilliger jüdischer Diaspora seinen vorletzten Höhepunkt vor dem Bar-Kochba-Aufstand und Hadrians Strafmaßnahmen. Ich betone unfreiwillig, weil ich hier von Flucht, Vertreibung und Versklavung spreche, nicht von Kolonien jüdischer Kaufleute in römischen Häfen.
Aber es ist natürlich nicht der zweitgrößte Bogen an sich - es ist sein entsetzlicher Schlusspunkt. Tatsächlich am Beginn unseres Engagements für ein Israel in gesicherten Grenzen standen unsere Trauer und Scham angesichts der Schoah. Unser gescheiterter Versuch, das Verbrechen Nazideutschlands an den europäischen Juden zu verhindern, ist unser schwerstes und schlimmstes Versagen. Wieder-gut-machen konnten wir den millionenfachen Mord nicht. Aber für die Überlebenden musste Genugtuung erfolgen, in Form eines eigenen israelischen Staates. Irreversible Genugtuung. Und es musste eine Zuflucht geben für jene, die es in Europa nicht mehr aushielten. Wo sollte diese Zuflucht liegen, wenn nicht im Heiligen Land?
Die Jewish Agency anerkannte den UN-Teilungsplan für Palästina - die Araber nicht. Im Jahre 1948 gründete sich der unabhängige Staat Israel, wurde anerkannt von USA und UdSSR und sofort von Jordanien, Ägypten, Irak, Syrien und Libanon überfallen. Palästinenser flohen vor Krieg und neuer israelischer Staatsmacht - 850.000 Menschen verloren ihre Heimat. Aber der Gazastreifen gehörte immer noch Ägypten und das Westjordanland mit halb Jerusalem zu Jordanien. Unter dauernder militärischer Bedrohung durch die Araber nahm Israel am britisch-französischen Sinaifeldzug teil und führte 1967 den präventiven Sechstagekrieg, an dessen Ende es die Golanhöhen, Ost-Jerusalem, das Westjordanland, den Gazastreifen und die Halbinsel Sinai okkupiert hatte. Der palästinensische Terror brandete hoch, mit Flugzeugentführungen und dem Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft. Im Oktober 1973 brachen die Araber den Jom-Kippur-Krieg vom Zaun, verloren ihn und begannen in hilfloser Wut, das Öl als politische Waffe gegen den Westen einzusetzen. Trotzdem reifte die Zeit für zwischenstaatliche Vernunft. Begin und Sadat schlossen Frieden - unter amerikanischem Druck. Die Israelis zogen sich vom Sinai zurück, verstärkten aber ihre Siedlungspolitik im Westjordanland und im Gazastreifen. Die erste Intifada kam und verging. Der Libanonkrieg kam und verging. Rabin und Arafat einigten sich auf einen autonomen Palästinenserstaat - unter amerikanischem Druck.  Rabin wurde von einem orthodoxen Juden ermordet, weil seine Konzessionen an die Palästinenser nicht zur jüdisch orthodoxen Illusion von Groß-Israel passten. Rabins Nachfolger im Amt waren der Lage nicht gewachsen. Erst Barak und Arafat kamen sich noch einmal sehr nahe - unter amerikanischem Druck - doch diesmal wurde Arafat zu gierig und glaubte, mit Terror mehr zu erreichen als mit Verhandlungen. Ariel Scharon bestieg, während die Muslime in der Al-Aksa-Moschee beteten, an einem Freitag mit großem Tamtam den Tempelberg und löste die immer noch andauernde Al-Aksa-Intifada aus. Die palästinensischen Selbstmordanschläge häuften sich. Israels Armee schlug immer härter zurück, fuhr mit Panzern in die autonomen Palästinensergebiete, riss die Häuser von Attentätern nieder, führte gezielte Tötungen durch, bombardierte verdächtige Stadtviertel, belagerte Arafat, während palästinensische Terroristen sich in Kirchen und Klöstern verschanzten.
Eskalation ist die einfachste Sache der Welt.

Und was ist mit dem Anspruch der Palästinenser auf Selbstbestimmung im eigenen Staat? Was ist gerecht?
Die Überlebenden der Schoah, mit dem Rücken am Meer, in das sie erklärtermaßen gejagt werden sollen, gehen nicht immer fair und gerecht mit ihren palästinensischen Nachbarn um. Wie denn auch? Wie sollen Menschen großzügig sein, deren erste Niederlage ihre letzte ist? Jeder andere Staat kann Kriege führen und Niederlagen erleiden, ohne dabei gleich unterzugehen. Israel nicht. Israels erste Niederlage wäre sein Untergang. Wie sollen Menschen fair sein, wenn sie keinen Bus ohne Todesangst besteigen können?
Das relativiert natürlich nicht die Barbarei, dass eine Palästinenserin im Straßengraben entbindet oder die Erniedrigung, wenn links und rechts der Rasensprinkler schnalzt, während der palästinensische Nachbar kein Wasser zum Duschen hat. Aber der unbedingte Wille, jene letzte Niederlage zu vermeiden, erklärt vielleicht, mit welcher oft die eigenen Züge verzerrenden Bitterkeit Israel kämpft - kämpfen muss.
Wir hegen keine freundlichen Gefühle für die PLO mehr, seit die Palästinenser versuchten, Jordanien zu unterjochen. Die Rolle der PLO im Libanon ist ebenso unrühmlich wie in Tunis. Wir verlangen nur, dass die Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland besser leben. Selbstbestimmt leben. Frei leben. Außerhalb israelischer Autorität. Allerdings auch um den Preis, dass sie dann nicht von ihrem Territorium weiterkämpfen gegen Israel. Israels Überlebensfrage heißt: Wie soll man diesen Handel verlässlich abschließen? Wer schützt uns davor, dass, wenn wir die Siedlungen im Westjordanland aufgelöst haben, gerade aus dieser Gegend der nächste Vorstoß in unser schmales Kernland erfolgt? Oder beim Gazastreifen? Ja wer denn? Arafat? Seine korrupte Entourage? Irgendein Chef von einem Dutzend rivalisierender Geheimdienste? Die kranken Selbst- und Massenmörder von Hamas und Hisbollah? Die Fatah-Milizen? Warum? Warum sollten sie die Wahrheit sagen, wenn es darum geht, Israel zu schaden? Warum sollten die Palästinenser nicht zuerst unterschreiben, das Land in Besitz nehmen, um dann von vergrößerter Basis ihren Angriff zu verdoppeln? Warum nicht?
Ein einziger Grund wäre denkbar: wenn Israel jetzt, noch aus der Position überwältigender militärischer Stärke, die Siedlungspolitik erkennbar revidieren, die Siedlungen räumen und sich dann militärisch zurückziehen würde. Allenfalls, um Israels Zugang zum Wasser des Jordan und des Sees Genezareth zu gewährleisten, könnte ein Netz von Militärposten bestehen bleiben. Ansonsten reden wir von rund vierhunderttausend Siedlern (2001) auf dem Golan, im Westjordanland und im Gazastreifen. Ob sich nicht Mancher durch finanziellen Anreiz bewegen ließe, seinen Wohnort in unstrittig israelisches Staatsgebiet zurück zu verlegen - genauso wie er sich einst durch finanziellen Anreiz in die gefährliche und gefährdete Siedlung locken ließ? Wie groß ist tatsächlich die Anzahl streng orthodoxer Träumer, die die Zukunft ihres Landes einer Illusion von Groß-Israel opfern wollen? In Wahrheit klein, verglichen mit ihrem überproportionalen Einfluss. Und das spiegelt sich wider im Schaden, den die Siedlungen anrichten. Reden wir vom Westjordanland. Übernehmen wir die Zahlen der israelischen Menschenrechtsorganisation B'tselem. Danach besetzen die Siedlungen nur 1,7 Prozent des Bodens, kontrollieren jedoch insgesamt 41,9 Prozent des Westjordanlands. Wer aus freiem Entschluss, ungezwungen, dieses Unrecht revidierte, könnte Vertrauen bilden. Einen anderen Weg weiß ich nicht.
Mit der geplanten Auflösung der Siedlungen im Gazastreifen sah es kurz so aus, als ob Scharon einen ersten Schritt auf diesem Weg täte, wenn auch hauptsächlich unter dem Druck hoher Kosten. Er, der bislang die Siedlungen vorangetrieben hatte, ließ nach seiner Zustimmung zur Roadmap for Peace sogar zwei illegale Neusiedlungen durch die Armee auflösen.
Umgekehrt: Der Palästinenserführer, der aus freiem Entschluss gegen den Terror von Hamas und Fatah-Milizen vorgeht, bildet Vertrauen. Auch hier weiß ich keinen anderen Weg. Die Alternative wäre der endlose schreckliche Kreislauf von palästinensischen Selbstmordattentaten und Strafaktionen der israelischen Armee. Aber der palästinensische Terror tobt unvermindert weiter - trotz Scharons Geste bei den Siedlungen. So schafft man kein Vertrauen!
Erst recht allerdings schafft man es nicht mit dem Ergebnis von Scharons Washingtonreise vom 14. April 2004! Das war ein schwarzer Tag für Nahost. Abzug der Siedlungen aus dem Gazastreifen - das wäre ein Anfang gewesen. Dass sich Scharon aber vom offensichtlich wieder einmal überforderten US-Präsidenten absegnen ließ, viele Siedlungen im Westjordanland sollten für alle Ewigkeit bei Israel bleiben, ist eine Katastrophe. Wo sollen denn nun die Palästinenser ihren Staat errichten? Was bleibt ihnen da noch: ein paar Quadratkilometer Gaza und ein Flickenteppich westlich des Jordan? Und in diesen Flickenteppich sollen sie dann auch noch die Flüchtlinge integrieren,  jene palästinensischen Flüchtlinge, die ins israelische Kernland zurück möchten, aber aus  demografischen Gründen nicht dürfen. Mit dieser unverhandelten, fremdbestimmten, ungerechten Regelung können die Palästinenser sich nicht zufrieden geben. Die Roadmap for Peace ist nur noch ein Fetzen Papier.
Warum dürfen die Flüchtlinge nicht nach Israel zurück? Weil schon ohne ihre Rückkehr die Zeit für einen Staat Palästina abläuft. Bald werden die Palästinenser selber ihn nicht mehr wollen, spätestens dann, wenn sie die Bevölkerungsmehrheit in Israel stellen und demokratisch nach der Macht greifen. So rapide, wie der Palästinenseranteil an der israelischen Gesamtbevölkerung heute wächst, dauert das nicht mehr lange.
Und dies ist nicht Israels einziges Problem auf der Zeitachse. Seit Beginn der Al-Aksa-Intifada stagniert und schrumpft die Wirtschaft des Landes. Wie soll da unbegrenzt jene Hochrüstung finanziert werden, die bis dato Israels Sicherheit garantiert? Israel ist schon heute eine Transfer-Ökonomie, doch die Zuschüsse und Flugzeugspenden aus den USA werden, auch wenn man eine noch so starke pro-israelische Lobby unterstellt, nicht unbegrenzt in unbegrenzter Höhe fließen – da ist das amerikanische Haushaltsdefizit vor.

Wie können wir Israel zum Frieden verhelfen, Israel und den Palästinensern? Wir als Westen, dessen Industrieländer das Öl der Golfregion brauchen und folglich erpressbar sind?
Wären wir unabhängig vom Ölimport, könnten wir stärker Druck ausüben auf Israels feindselige Nachbarn – und über sie auf den palästinensischen Terror und die schiitische Hisbollah im Libanon - eine Aufgabe, der die palästinensische Autonomiebehörde offensichtlich nicht gewachsen ist. Da wir jedoch abhängig sind, müssen wir so tun, als nähmen wir die angeblichen Sachwalter palästinensischer Interessen ernst. Dabei hat keine arabische Brudernation auch nur den Finger gekrümmt zur ernsthaften Linderung palästinensischen Flüchtlingselends. Zwar flossen und fließen Milliarden, um Krieg zu führen gegen Israel oder palästinensischen Terror zu finanzieren, doch in Wahrheit sind all diese vermeintlich außenpolitischen Aktionen innenpolitische Sedativa, von korrupten Ölregimes ihren eigenen aufgebrachten Völkern verordnet.
Aufgebracht? Warum sind die Araber aufgebracht?
Bleiben wir zunächst beim Öl. Müssten wir nicht aufs Öl Rücksicht nehmen, wäre Israels Zukunft längst ein für alle Mal gesichert. Aber - so ist die Welt nun einmal nicht. Ist also Amerikas Irakinitiative tatsächlich zu verdammen? Lassen wir einmal das ganze Geschwätz von Massenvernichtungswaffen und Demokratie beiseite - ist der Versuch des Regimewechsels, angenommen, er hätte Erfolg, tatsächlich verdammenswert? Verstieße es gegen Menschenrechte, prowestliche Regimes zu installieren, wo heute korruptes Gesindel regiert, unter dem Damoklesschwert islamistischer Opposition? Das wäre für den Ölfluss besser, für die Menschen Arabiens allemal, für den Weltfrieden und ganz gewiss für Israel. Nur - der Plan ist zwar schön, aber er geht nicht auf, denn die Menschen im Irak haben ihren eigenen Willen. Zum Schluss, wenn Amerika abrückt, bleibt bestenfalls ein schiitisch dominiertes islamisches Land, das seine hilflose Wut auf Amerika an Israel abreagiert. Oder der Irak zerfällt: Der kurdische Norden zerreißt die Türkei. Die sunnitische Mitte lässt sich den Alltagsterror von den saudischen Wahabiten sponsern. Und der schiitische Süden überlegt, ob er iranisch werden will - oder lieber den eigenen Gottesstaat aufmacht.

Hilflose Wut scheint heute das Grundthema der muslimischen Welt zu sein. Was empfinden die Menschen, die arabischen und persischen Muslime, mit denen Israel Frieden schließen soll? Wut und Hass auf Israel, den vermeintlichen Kreuzfahrerstaat empfinden sie. Wut und Hass auf alle, die Israel unterstützen - zunächst auf Amerika. Wut und Hass empfindet die islamische Welt auch für die einstigen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Muss man diese Gefühle immer verstehen? Oder sind sie manchmal auch schreckliche, künstliche Aufgeregtheit, die in Wahrheit über eigene Defizite hinweghelfen soll? Wer war wann Aggressor? Wer hatte wann unter wem zu leiden? Und an wem ist es, sein Herz über die Hürde zu werfen und einzulenken?
Der Islam hat in einer beispiellosen Eroberungswelle ab dem siebten Jahrhundert die halbe bekannte Welt unterworfen - eine bis dato christliche Welt. Der Islam stieß nicht in ein Vakuum. Da war schon vor ihm jemand, jemand, den er totschlug, wenn er sich wehrte und manchmal auch, wenn er sich ergab. Jemand, den er nicht immer, aber doch meist durch hohe Steuern und Schikanen zwang, den neuen fremden Glauben anzunehmen. Da waren christliche Reiche auf den Trümmern Roms: auf dem Balkan, in der Türkei, im Kaukasus, (weiter nördlich zahlte noch Russlands Zar Iwan der Schreckliche muslimischen Tataren Tribut), im Zweistromland, in Syrien, Ägypten und im Libanon, im Heiligen Land, im Sudan, in Libyen, Tunesien (wo der heilige Augustinus studierte), Marokko, Spanien, Algerien (wo der heilige Augustinus später Bischof wurde). Erwähnen wir Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Südrussland und Südpolen, den Osten Ungarns, Bosnien, Serbien, Albanien. Übergehen wir, dass der Islam auch Mallorca besetzt hielt und die übrigen Baleareninseln und Sizilien, Sardinien, Korsika und Absatz wie Spitze des italienischen Stiefels und einen Teil Südfrankreichs ...
Heute klagt der Durchschnittsalgerier leidenschaftlich, weil sein Land hundertdreißig Jahre französischer Kolonialisierung erduldet hat und im Krieg mit Frankreich eine Million Menschen starben. Er klagt zurecht, doch er vergisst zu klagen darüber, dass vorher jahrhundertelang Türme gebaut werden mussten an den Mittelmeerküsten - gegen algerische Piraten, die raubten, mordeten und Sklaven jagten.
Heute steht im Westen allein unter Rechtfertigungsdruck, wer sich zur Wehr gesetzt hat gegen muslimische Gewalt. Islamische Aggression wird verständnisvoll erklärt. Abendländischer Aggression wird per se der Notwehrcharakter abgesprochen. Dass unsere Selbstkritik hier manchmal über das Ziel hinausschießt, ist ein Irrläufer der Aufklärung, die ansonsten ein Segen ist und unser entscheidender Vorteil vor dem Islam.
Doch in diesem einen Punkt hat der Islam es ohne Aufklärung besser: denn wenn man nie ein theoretisches Rüstzeug entwickelt hat, um das eigene Denken und Glauben kritisch zu hinterfragen - sind immer andere schuld. Nie trägt man selber Verantwortung. Kein Vorteil Andersgläubiger entspringt deren Leistung – stets ist Verschwörung am Werk.
Der Ölscheich kann alles importieren, aber nichts herstellen. Nein! Verkehrt! Seien wir genau: Natürlich kann er alles herstellen, er besitzt ja Aktienpakete von westlichen Mischkonzernen. Nur - dieselbe Summe Geldes in die Entwicklung und wirtschaftliche Diversifizierung seines eigenen Landes zu investieren, um es vom Öl unabhängig zu machen, das hat er irgendwie versäumt.
Es gibt saudische Prinzen, die weinen heute bitterlich, weil Cordoba dem Islam verloren ging oder Granada oder Toledo. Nach sechshundert, nach tausend Jahren weinen sie immer noch, weil die Spanier sich ihr eigenes Land zurückholten. Wie soll der angebliche Kreuzfahrerstaat Israel mit solchen vergesslich nachtragenden Nachbarn leben? Nebeneinander her? Abgeschottet hinter einer Mauer? Natürlich waren die mittelalterlichen Kreuzzüge aus heutiger Sicht ein dummes Blutbad - aber taten die Kreuzfahrer etwas anderes, als vor und nach ihnen die Muslime? Und hat der Islam tatsächlich vergessen, dass sich jüdisches und arabisches Blut auf Jerusalems Straßen mischte, als das Kreuzfahrerheer die Stadt eroberte? Zurück eroberte - denn auch Jerusalem war nur Raub des Islam, nicht Eigentum.

Israel ist die bequeme Ausrede all seiner Nachbarn. Sie vergleichen Israels Erfolg mit ihrem Misserfolg und suchen einen Sündenbock.
Korrupte Verwaltung? Soziale Ungerechtigkeit? – Israels Schuld!
Wirtschaftlich-technische Rückständigkeit? - Man brauchte alles Geld und alle Kraft zum Kampf gegen den Judenstaat!
Man genießt im Westen nicht den Respekt, den man glaubt, verdient zu haben? Bekommt nicht genug Hilfe? - Da kann doch nur, wie sollte es denn anders sein, und sei das Konstrukt auch noch so lächerlich, eine finstere Verschwörung jüdischer Medien zugrunde liegen!
Tendiert der Informationsgehalt der eigenen Medien gegen null? - Hauptsache die tägliche Hasstirade auf Israel fehlt nicht!

Würden Arabiens Menschen pragmatischer auf ihre Wirklichkeit blicken – unendlich viel wäre gewonnen. Würden die Palästinenser dem Terror abschwören und massenhaft zivilen Ungehorsam üben – Israel könnte gar nicht anders, als ihren berechtigten Forderungen nachzugeben. Aber das geht ja nicht! Man könnte dann ja nicht mehr alle seine Söhne opfern, was den älteren Islamisten offenbar ein Herzensbedürfnis ist. Söhne opfern? Neuerdings auch Töchter? Ein grausiger Topos der Buchreligionen, seit Abraham, der Isaak schlachten sollte, über Gottvater, der Jesus ans Kreuz nagelte, bis zu Allah, der seine verwirrten Kinder in israelischen Bussen und Supermärkten zerfetzt.
Würde Israel seine militärisch wie ökonomisch nutzlose Siedlungspolitik beenden, die sich rational allenfalls durch den Wunsch nach Kontrolle über die Trinkwasserreservoirs Genezareth und Jordan erklären lässt – dem Gegner kämen die Argumente abhanden. Sein Fanatismus liefe leer.

Lauter Konjunktive. In der Region, wie in unserer Strategie, die es eigentlich nicht gibt. Wir nehmen sehr behutsam Einfluss, brechen diesem oder jenem taktischen Konflikt die Spitze ab. Stehen im Hintergrund bereit. Können manchmal vermitteln. Stellen neutrale Tagungsorte zur Verfügung, wie bei der Konferenz von Malta. Geld und gute Worte, sagen wir es geradeheraus – mehr hat die Nahoststrategie der Gründer nicht zu bieten.
Denn der Schlüssel zum Frieden in Nahost liegt in Washington. Dort steht im Keller eines Lobbyisten ein leeres Ölfass – an dessen Boden liegt der Schlüssel. 

Die Gründer und der Halbmondrat
von
Dimitrij Samjatin, praefectus strategus
(19.04.2004)

Vorab Grundsätzliches: Wir diskutieren keine Waffenstillstandsangebote des Terroristen Bin Laden. Doch nicht Al-Quaida oder Afghanistans Taliban – das treffendste Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen der Halbmondrat kämpft, stammt aus dem Jahre 1995. Damals forderte die bewaffnete islamische Gruppe GIA den französischen Staatspräsidenten auf, zum Islam überzutreten - schließlich präsidiere Chirac ja einem islamischen Land. Genau diese Mischung aus Größenwahn, intellektueller Blödheit, Fanatismus und Gewalt macht uns die islamistischen Oppositionsbewegungen des Halbmondraumes immer noch einen Hauch unsympathischer, als ihre korrupten Regimes es sind. Die Balance zu halten zwischen beiden Kräftegruppen ist, nach dem Scheitern des arabischen Nationalismus, Hauptproblem des Halbmondrates. Er darf unserer Unterstützung gewiss sein, solange er diese Balance hält. Das allerdings ist unsere Minimalforderung – Balance. Sollten sich in der CLU-Führung jene Kräfte durchsetzen, die gemeinsame Sache machen wollen mit dem radikalen politischen Islam, angefangen bei der Muslimbruderschaft Ägyptens, sehen wir dem nicht tatenlos zu. Dafür sind unsere gemeinsamen Grenzen zu lang und die Zahl muslimischer Migranten in Westeuropa zu hoch.
Was sind nun unsere konkreten Ziele?
Wir unterstützen König Mohammed von Marokko und seinen Premierminister Driss Jettou bei ihrem Kampf um die Modernisierung des Landes. Ihre Eindämmungspolitik gegenüber Salafijja al-dschihadjja, Al Hidschra wa Takfir, gegen die verbotene Organisation Al-Adl wa al-Ihsan und die islamistische Partei PJD muss Erfolg haben!  Auch wenn die Besetzung der spanischen Petersilien-Insel eine freche marokkanische Provokation war, auch wenn es in Casablanca ein schreckliches Attentat gab, auch wenn die Haupttäter bei den Madrider Anschlägen Marokkaner waren – wir müssen zu unserem Partner Marokko stehen! Es wäre mehr noch als Verrat, es wäre Dummheit, in der Not diesen Partner im Stich zu lassen. Die Straße von Gibraltar ist nur ein paar Kilometer breit.
Wir stehen aufseiten der algerischen Regierung gegen den islamistischen Terror, so skeptisch wir auch Algiers latenten Konflikt mit den Berbern betrachten. In der Islamistenfrage haben wir keine Wahl, schon wegen der starken algerischen Minderheit in Frankreich. Wir werden alles tun, um ein Überschwappen des Konflikts auf unser Territorium zu verhindern.
Wir drängen den saudischen Einfluss auf dem Balkan zurück, wo das wahabitische schlechte Gewissen eine Moschee neben die nächste setzt und jungen Bosnierinnen Geld zahlt, damit sie im Kopftuch posieren. Dies in aller Deutlichkeit: Wer ernsthaft den Heiligen Krieg auf den Balkan und in unsere Metropolen tragen will, der mache sich auf einen Legatenkrieg gefasst!
Nachdem Libyen einen Kurswechsel hinsichtlich seiner Waffenprogramme vollzogen hat, verlangen wir nachdrücklich das Ende seines Interventionismus‘ im subsaharischen Afrika. Libyen hat dort genug Unheil gestiftet.
Ägyptens Präsident Mubarak genießt unser Vertrauen. Er tut nicht genug, um eine ganze verlorene Generation junger Ägypter zu retten - aber er tut, was er kann.  Er ist Garant für den offenen Suezkanal und dafür, dass die größte arabische Nation rational und stabilitätsorientiert geführt wird. Außerdem ist wichtig, dass die Residenz unserer Brüder vom Halbmondrat in einem relativ stabilen Land liegt und nicht zur Trophäe widerstreitender Bürgerkriegsparteien wird. Wir würden allerdings begrüßen, wenn Mubarak den Waffenschmuggel an der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen unterbinden könnte. Ägyptens neuen Uranbergbau auf der Halbinsel Sinai betrachten wir mit Misstrauen.
Von der Arabischen Halbinsel kaufen wir Öl. Die Erlöse sollen in Entwicklung der Länder und Entschärfung sozialer und demografischer Probleme investiert werden. Das wahabitische saudische Königshaus würden wir lieber heute als morgen abschaffen - nur: Was nachkommt, ist nicht besser. Die Wahabiten mögen aufhören, überall in der Welt Islamismus zu finanzieren und lieber Arbeitsplätze für ihre Enkel bauen, damit die was haben, wenn das Öl ausgeht! Reformbestrebungen in den Sultanaten, teils ökologischer, teils politischer Natur, begrüßen wir nachdrücklich.
Der Irak: eine Katastrophe sui generis. Wenn einmal die Geschichte des Islamismus geschrieben wird, in vierzig, fünfzig Jahren, nachdem die hoffnungslosen Massen heute jugendlicher Männer definitiv ein gesetzteres Alter erreicht haben, wird sich herausstellen: Der militante Islamismus war bereits so gut wie besiegt. Hätte man es dabei bewenden lassen, Afghanistan zu befreien, wären als schwierige Probleme Tschetschenien geblieben, Hamas und Hisbollah, dazu Pakistan und ein paar Tausend Mann. Nicht zu vergessen natürlich den aus seinen Heimatländern geflüchteten Islamismus in Amerika, Russland und Westeuropa, der zwar das Gastrecht genießt, aber die liberalen Gesetze verachtet, unter deren Schutz er lebt.
Erst mit dem US-Einmarsch in den Irak fanden die versprengten Dschihadisten DEN neuen Kristallisationspunkt. Hier werden nun Monat für Monat Hunderte Kämpfer ausgebildet, ausgerüstet und indoktriniert. Und die Gründer können nicht mehr dagegen tun, als ein waches Auge auf den Reiseverkehr zu haben. Dieser oder jener operative Einsatz unserer Schwarzen Hände sei hier nur en passant erwähnt.  Wir danken den Einsatzkräften des Halbmondrates dafür, dass sie manchmal ein Auge zudrücken. Andererseits betonen wir, dass der Halbmond gut beraten ist, so zu verfahren, nachdem Karl Bucholtz öffentlich seine Bereitschaft dargelegt hat, einvernehmlich mit dem Halbmondrat neue Lösungen für die einstigen Südrepubliken der Sowjetunion zu suchen. Gleich, was nun aus dem Irak wird - ob das Land zerfällt, ob es unter einer gemäßigt schiitischen Herrschaft beisammenbleibt oder sich zu einem weiteren jener failed states entwickelt, von denen die Welt schon viel zu viele kennt, am Ende bleibt als trauriges Fazit: Die neuen Kämpfer, die ihr Handwerk hier erlernen, bedeuten zwanzig neue Jahre Krieg an den Grenzen des Islam und im Herzen des Westens. Schuld sind Bush und sein Pudel, die es einfach nicht übers Herz brachten, einer Offiziersjunta zum erfolgreichen Putsch zu verhelfen. Vielleicht müssen wir eines Tages erleben, dass das unter den Augen von Amerikanern und Briten aus dem Irak gestohlene Nuklearmaterial sehr viel gefährlicher ist, als alle fälschlich dort vermuteten Massenvernichtungswaffen.
Syrien - ist heute kompromissbereiter denn je. Es war ein dummer Fehler der Regierung Scharon, das jüngste syrische Gesprächsangebot auszuschlagen. Wirklich nur ein dummer Fehler? Scharon hat getönt, er wolle nicht mit Syrien sprechen, nur um Assad eine Brücke in die USA zu bauen. Wenn es natürlich wichtiger ist, dem Sohn des Kriegsgegners eins auszuwischen, als seinen Friedenswillen auf die Probe zu stellen - dann braucht uns nichts mehr zu wundern.
Jordanien - wäre fast zum tragischen Fall geworden. Das Land hätte nach dem Ausgleich mit Israel wirklich eine Friedensdividende verdient. Dass die Lage im Nachbarland Irak nun auf Jahre hinaus Investoren und Touristen vergrault, macht zwar die Herrschaft des haschemitischen Königshauses nicht unbedingt sicherer - doch hier hat ausnahmsweise einmal die US-Außenpolitik ihre Hausaufgaben gemacht: ein Investitionsschutzabkommen für amerikanische Firmen, ein Freihandelsabkommen, das die jordanischen Exporte in die USA explosionsartig ansteigen lässt, rund eine Milliarde Dollar Wirtschaftshilfe ...! Das ist der Preis dafür, dass Jordanien, neben der Türkei, die zweite US-Landbrücke ins Herz des Nahen Ostens bildet, in den Irak. Dieses stille, professionelle Raffinement wünschen wir uns auch für andere Felder der US-Außenpolitik, obwohl man natürlich sagen muss: Der Weg ist richtig, doch das Ziel bleibt falsch.
Der Libanon - früher die Schweiz des Orients. Die Menschen dort hatten sich wirklich etwas aufgebaut. Dann kam die PLO, die übrigen Milizen, die syrische und ganz zuletzt die israelische Armee. Heute wird das Trümmerfeld immer noch aufgeräumt, allerdings recht erfolgreich, denn die Libanesen verstehen zu bauen, wenn man sie lässt.
Tschetschenien - der Konflikt muss aufhören, egal, welchen Preis Russland zahlt. Vielleicht gibt es ja eine Chance jetzt,  nachdem der Präsidentschaftswahlkampf vorüber ist. Besonders wahrscheinlich ist das aber nicht.
Iran – hält den Atem an, nach den für die Reformkräfte verlorenen Wahlen. Hält den Atem an, nachdem Deutschland, Frankreich und Großbritannien der Atomenergiebehörde neuen Zugang verschafft haben. Iran hält auch den Atem an, angesichts der Entwicklung im Irak, dessen Bevölkerungsmehrheit zu 60 Prozent schiitisch ist. Profitiert der Iran oder wird er in den irakischen Strudel gezogen? Die Machthaber, die Ajatollahs sind höchstpersönlich betroffen, es geht hier um Pfründe, denn traditionell liegt das Zentrum der schiitischen Lehr- und Deutungshoheit nicht im iranischen Ghom, sondern in den heiligen Städten des Irak.
Pakistan – liegt uns fern. Allerdings betonen wir mit leiser Genugtuung, dass unsere Verhandlungsführung einen ersten Ausgleich mit Indien begründet hat. Und die Atom-Export-Politik des Landes scheint zum Ende gekommen. Das schafft entstandenen Schaden - beispielsweise im Iran - nicht mehr aus der Welt, doch die Programme liegen jetzt auf Eis.
Afghanistan – wird mit viel Glück zu einem failed state wie andere auch. Mehr gibt es nicht zu hoffen. Bangladesh, Indonesien und Malaysia, sämtlich eindeutig außerhalb unseres Interessengebiets, sei alles Gute gewünscht.

Diese Notiz gilt unserem Bruderrat, nach Orakelrat, Gründern und Rat vom Berge dem viertältesten Rat, dem Halbmondrat, abgekürzt - CLU. Hervorgegangen aus muslimischer Revolte gegen die Gründer. Uns verbunden durch endlose Grenzen, erbitterte Feindschaft und lange, lange, Jahre. Man sollte meinen, wir müssten inzwischen gelernt haben, miteinander auszukommen.

Bruder, wir wissen, dass du mäßigend wirkst und dass die überwältigende Mehrheit der Muslime friedlich mit uns leben will. Aber wir hören deine Klagen, laut und oft und voller Leidenschaft und Vorwurf - sodass zumindest einmal auch wir klagen wollen:
Du willst Teilhabe an der Moderne - und zugleich die Nische, wo deine Religion die Stürme der Globalisierung unverändert übersteht. Du genießt bei uns Religionsfreiheit - verweigerst sie uns aber in vielen deiner Länder. Du willst Teilhabe am Wohlstand - und nutzt die Chancen deiner eigenen Länder nicht. Als Migrant willst du Integration - weigerst dich aber, unsere Sprachen richtig zu lernen oder Frauen in Führungspositionen zu respektieren. Du forderst Demokratie - unter dem Vorbehalt, dass die Abstimmungsergebnisse dem Koran entsprechen. Du willst technische Hilfe - lenkst aber unsere Flugzeuge in unsere Wolkenkratzer und sprengst mithilfe unserer Mobiltelefone unsere Vorortzüge. Du willst humanitäre Hilfe - und schießt auf Europäer, die im Irak Minen räumen. Du willst Interesse und Anteilnahme und Respekt - schreist aber nicht auf, wenn in deinen Reihen der Mord an unseren Menschen geplant wird. Deine politischen Flüchtlinge genießen bei uns Asyl - würden aber, wenn sie könnten, hier sofort die Scharia einführen. Deine Führer kurieren ihre Leiden in unseren Kliniken - und unterschreiben dann zum Dank den Scheck, mit dessen Hilfe in Bonn oder Bosnien neuer Hass auf uns gepredigt wird. Unsere Touristen ernähren dich - und du verbrennst sie.
War das zu deutlich? Zu einseitig? Nunja - einseitig sollte es auch sein, genauso einseitig wie deine Klagen. Du beharrst auf deinem Standpunkt - ich auf meinem. Kompromisse, die mir vorschweben, werden von dir als Anzeichen der Schwäche missdeutet. Eine Lösung sehe ich nicht. Nur Vermittlung zwischen dir und mir, vielleicht irgendwann. Doch um diese Vermittlung zu leisten, müssten die produktiven, integrierten muslimischen Einwanderer in den Westen sich sehr viel deutlicher als bisher zum Westen bekennen.

Wenn es aber weder Lösung gibt, noch Vermittlung - nun, dann müssen wir es ausfechten.

Komm Bruder, lass uns lieber etwas trinken, etwas das dir und mir von Kindesbeinen an gemein ist  - ein Glas Tee? Wir müssen reden. Dringend!


Die Gründer und die Türkei
von
Juan Rodil, praefectus magistrorum
(19.04.2004)


Der princeps apodiktisch: Solange ich regiere, tritt die Türkei der Europäischen Union nicht bei!
Sein Nachfolger argumentativ: Wenn aus dem Zerfall des Irak ein selbstständiger Kurdenstaat hervorgeht, tritt die Türkei der Europäischen Union nicht bei. Sonst schon!
Ich frage: Was geschieht wann und warum?

Ich beherrsche den Schlenker durch Geschichte und Gegenwart bei weitem nicht so elegant, wie meine Vorredner, beschränke mich also, Fragmente und Gedankensplitter aufzureihen. Am 11. September 2001 war ich in der Türkei, um neue legaten zu vereidigen. Merkwürdig, nicht? Tayyip Erdogan wird in der entsprechenden Akte sogar erwähnt, wenn auch nicht namentlich, sondern weil er einerseits Islamist ist, andererseits ein leidlicher Verwaltungschef von Istanbul war und ich jemand bei ihm einschleusen wollte. Dass er einen durchaus passablen Regierungschef abgeben würde, konnte zu dem Zeitpunkt niemand absehen.
Gibt es den kemalistischen Staatsgedanken noch außerhalb des Militärs? Oder ist das Experiment eines muslimischen Landes mit ausdrücklicher Trennung von Staat und Religion beendet? Ich gehe so weit, zu sagen: Wenn das so wäre, wenn das kemalistische Experiment als gescheitert betrachtet werden muss, dann entfällt die Geschäftsgrundlage für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Das moderne Europa kann kein Land integrieren, dessen staatliche Autorität sich als unmittelbar und unzweifelhaft gottgegeben betrachtet. Wenn sie diesen Anspruch leben wollen, dann müssen sie das für sich allein tun. Der Kemalismus, der sich im Alltag nur allzu oft als rigoroser Einsatz des Gummiknüppels auf der Straße und Folter auf dem Polizeirevier äußert, ist gleichwohl auf einer anderen Ebene verspäteter Ersatz für die Epoche der Aufklärung, an der die Gesellschaft des Osmanischen Reiches schlicht vorbeigelebt hat. Ohne Kemalismus ist die Türkei nicht europafähig. Wenn in demokratischen Wahlen die Mehrheit der Türken sich gegen den Kemalismus entscheidet, dann haben wir im Westen das zu akzeptieren, ohne Wenn und Aber. Doch man muss den Türken deutlich die Konsequenz aufzeigen.

Immer bin ich es, der die türkischen Geschäfte erledigt – jedenfalls immer dann, wenn Karl Bucholtz sie nicht für sich selber reklamiert. Was aber lockt eine spanische Seele an der Türkei? Der habsburgisch-islamische Weltkrieg? Der Wert, den wir dem Stolz und der Würde beimessen? Lepanto? Malta? Die Belagerungen Wiens? Kaiser Karls V. nordafrikanische Expedition? Das wohlige Gefühl, einem besiegten Feind zu begegnen?
Kürzlich war ich zu Besuch bei meiner guten Freundin Monica in Köln. Ihr Lebensgefährte Karl Bucholtz war auch dabei. Wir lieben alle drei das türkische Baklava – und dann standen wir plötzlich in diesem wundersam duftenden Lädchen, Bucholtz und Monica frotzelten sich mit dem jungen Türken hinter der Theke, ich hätte übrigens nie gedacht, dass süßes Hähnchenfleisch sogar mit Zimt harmoniert – aber der junge Mann sagt plötzlich zu Bucholtz: Charlie, dein Land gehört uns doch längst, du weißt das nur noch nicht. Bucholtz machte eine obszöne Geste, wir lachten, und alles war gut.
Was wollte ich nun sagen? Ich verstehe und respektiere den Selbstbehauptungswillen von Minderheiten in einem fremden Land. Aber ich bemerke aufseiten der Türken auch ein ungezügeltes und unreflektiertes Dominanzstreben, das sich nur schwer wird vereinbaren lassen mit der europäischen Kultur der Kompromissfindung.

Kein Monat vergeht, ohne dass ich mich über die Lagune fahren lasse, auf die kleine Insel San Lazzaro degli Armeni, weil ich Lord Byron verehre als Dichter und Teilnehmer am griechischen Befreiungskampf gegen die Türken - und weil das Schicksal des armenischen Volkes, der Genozid, den die Türken seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an ihm begingen, mich traurig macht.
Genealogische Forschung, ausgerechnet der Beruf meiner Schwester, hat ergeben, dass wir väterlicherseits moriskische Vorfahren haben. Das heißt also, wir sind irgendwann als islamische Räuber nach Spanien eingefallen, haben dort eine einzigartige Hochkultur errichtet, blieben, als Spanien die Fremdherrschaft abschüttelte, traten unter dem Druck der Inquisition zum Christentum über - und waren dabei so überzeugend, dass man uns bleiben ließ, während andere Morisken als Ketzer und fünfte Kolonne des Islam ab den 1590er Jahren systematisch und brutal vertrieben wurden. Eine halbe Million Menschen.
Halten wir fest, dass die Türkei den Genozid an den Armeniern offiziell immer noch leugnet. Die Türkei verklärt immer noch ihre gesamte Geschichte. Sie heroisiert nach wie vor die Kolonialisierung des Balkans und der arabischen Welt und begegnet ihrer Nachbarschaft, zumindest der muslimischen, mit einem Gefühl nationaler Überlegenheit, ein Element, das einer vergrößerten EU bei ihrer außenpolitischen Positionierung gar nicht gut zu Gesicht stünde.

Im Augenblick ist unser Nachbar die Türkei, ein laizistisches Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung und einer starken Rolle der Sicherheitsapparate in einer ansonsten durchaus funktionierenden Demokratie.
Wer wären unsere Nachbarn, wenn wir die Türkei integrierten?
Zunächst Georgien, Armenien und die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan – bis auf letzteres Gebiet alles Staaten mit russischer Truppenpräsenz. Die EU käme nicht umhin, eine aktive Kaukasuspolitik zu formulieren und dabei gleichzeitig Russen wie Amerikanern in die Quere zu kommen, ganz zu schweigen von der mörderischen Unübersichtlichkeit der kaukasischen Konflikte an sich. Im Extremfall einer Auseinandersetzung zwischen Europäischer Union und Russland würde die Türkei eine zweite Flanke bilden – mit allen Vor- und Nachteilen.
Sodann: der Iran. Die Europäische Union grenzte plötzlich an die Bruchlinie zwischen sunnitischem und schiitischem Islam. Nach allem zu schließen, was unterhalb der Oberfläche im Irak vorgeht, könnte diese Bruchlinie in absehbarer Zeit zur Front eines heißen Konfliktes werden.
Sodann: der Irak. Ich werde hier nur auf eine der vielen vermengten Problemlagen eingehen, nämlich auf die (halb)autonome kurdische Minderheit im Norden des Landes. Ihr Autonomiegebiet dürfte sich binnen kurzem zum Magneten für die anderen kurdischen Minderheiten entwickeln, im Iran, in Syrien und in – der Türkei. Der Wunsch des kurdischen Volkes nach einem eigenen Staat wächst. Und selbst wenn wir sagen könnten, irgendwelche blutigen Separationsbewegungen im Iran oder in Syrien gingen uns nichts an – die Türkei kann und wird nicht auf Südostanatolien verzichten. Wie weit wäre Europa bereit zu gehen? Welches Maß an Repression und Gewalt könnte die EU ihrem Mitgliedsland Türkei erlauben, ohne die eigenen Werte aufzugeben? Es ist nicht ohne Tragik, dass Teile der europäischen Linken, die aufgrund gut gemeinter multikultureller Überlegungen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei vehement befürworten, dieses Konfliktpotenzial völlig übersehen, oder sogar, in grandioser Selbstüberschätzung, tatsächlich erwarten, die Türkei würde jemals in Brüssel oder Straßburg um Erlaubnis fragen, bevor sie in Diyarbakir Kurden foltert und Kurdendörfer rund um Hakkari mit der Planierraupe einebnet.
Kann die Europäische Union diesen Partner integrieren? Sollte sie das überhaupt? Vergessen wir nicht, dass die Sicherheitsinstitutionen der Türkei seit je ein besonderes Verhältnis zu den USA pflegen. Die USA brauchen die Türkei, auch heute, nach dem Zerfall der Sowjetunion - und lasse sich niemand täuschen durch die Querelen bezüglich der Aufmarschrechte im letzten Irakkrieg! Die Türkei kontrolliert Bosporus und Dardanellen - für die USA von enormer Bedeutung. Die Türkei liegt geostrategisch dem Suezkanal gegenüber - für die USA von enormer Bedeutung. Und die Türkei liegt im Rücken von Syrien, Irak und Iran, allesamt unverbesserliche Erzfeinde Israels - für die USA von enormer Bedeutung. Da brauchen wir über kaukasisches Öl gar nicht erst zu sprechen - die USA werden die kemalistischen Strukturen der Türkei immer fördern. Die Frage lautet nun: Wollen wir ein solchermaßen gefördertes Land in der EU? Czartoryski sagt nein, Bucholtz sagt ja, und ich persönlich neige zur Ansicht einer deutschen Oppositionspolitikerin namens Merkel, die der Türkei unlängst zwar nicht Mitgliedschaft, aber doch eine privilegierte Partnerschaft anbot.

Und die Argumente pro? Fast alle Gegenargumente fußen auf einem zerstrittenen, schwachen, ängstlichen Europa und kehren sich in dem Augenblick um, in dem die Europäische Union entschlossen die Rolle einer Großmacht annimmt. Dann ist es vorteilhaft, über die Türkei an das kaukasische Öl zu grenzen. Dann ist es plötzlich vorteilhaft, die Meerengen zu kontrollieren und die Oberläufe von Euphrat und Tigris. Dann könnte sich die Türkei zu einem Leuchtturm entwickeln für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Trennung von Religion und Staat, wirtschaftlicher Entwicklung - zu einem Leuchtturm, der tatsächlich der muslimischen Nachbarschaft Orientierung gäbe, und dazu beitrüge, den westlich-muslimischen Großkonflikt zu entschärfen. Die Europäische Union würde sich damit mausern zu einer Gemeinschaft, die sich nicht mehr kulturell definiert, geschweige denn religiös, sondern sich neu begründet durch den freien Willensakt freier Menschen. Allerdings müsste Europa dafür konfliktfähiger werden, eine starke Sicherheitsidentität entwickeln, wahrscheinlich ein Stück Liberalität opfern. Europa müsste sich offen bekennen zu einer Politik, die interessengesteuert wäre und nicht mehr prinzipiengesteuert. Wäre das machbar? Ist es wünschenswert? Welche Vision von ihrer Zukunft hat die Europäische Gemeinschaft? Das ist die Kernfrage. Bevor wir sinnvoll über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union reden, muss Europa sich selber definieren. Jede andere Vorgehensweise hat weder mit Interessen noch mit Prinzipien zu tun, sondern ist Politik im Blindflug.

Apropos Zypern: Ich wünsche mir, die Mehrheit kommt zustande. Wir tun auch einiges dafür. Aber ich bin kein Prophet.

Der Zwischenraum - im Raum der Gründer
von
Juan Rodil, praefectus magistrorum
(19.04.2004)


Als am 30.03.2004 die Vertreter Sloweniens, Rumäniens, Bulgariens, der Slowakei, Estlands, Lettlands und Litauens ihre Beitrittsurkunden zum NATO-Pakt in Washington hinterlegten, wies Moskau das litauische Botschaftspersonal aus. Die Begründung: Litauen habe Russland geschadet. Was war passiert?
Drehen wir – spaßeshalber – die Meldung einmal um:
Nachdem Kanada, Mexiko und Guatemala schon vor ein paar Jahren ins gegnerische Lager gewechselt waren, sind nun auch Texas, Oklahoma, Arkansas und Mississippi dem Warschauer Pakt beigetreten, weshalb die USA nunmehr über keine Landverbindung zu ihrer Exklave Louisiana mehr verfügen.
Gewiss sind die USA die älteste existierende Demokratie, wohingegen das Sowjetimperium mit seiner Peripherie, dem Warschauer Pakt, doch eine eher finstere Veranstaltung war – aber den Amputationsschmerz kann man sehr wohl vergleichen. Umso mehr verwundert es, in westeuropäischen Medien zunehmend von einer unbegründeten westlichen Russophilie zu lesen. Natürlich, das wollen wir nicht verschweigen, hat Putins gelenkte Demokratie viele unappetitliche Seiten, aber muss man nicht auch erwähnen, dass Russlands Politiker, Funktionäre und Generäle bislang erstaunlich souverän mit dem zu verkraftenden Machtverlust umgegangen sind? Hören wir - offiziell – von revanchistischen Plänen? Nein. Wirklich nicht. Man könnte sich die Implosion einer gewesenen Weltmacht deutlich aggressiver vorstellen. Unbegründete Russophilie? Natürlich waren die baltischen Staaten nie freiwillig Teil Russlands und später der Sowjetunion, aber das westliche Militärbündnis sollte sich davor hüten, der nunmehr eingekauften und durchaus begründeten Russophobie des Baltikums anheim zu fallen, denn es geht um mehr, um den dauerhaften Frieden im Raum der Gründer, an dem Westeuropa genauso wie Russland vitales Interesse hat – nicht aber notwendigerweise die Vereinigten Staaten, der allesbeherrschende Partner der NATO.
Als Spanien seine Kolonien verlor, versank es im präfaschistischen Strudel. Als Deutschland seine Ostgebiete einbüßte, bildeten sich Vertriebenenverbände, die heute noch polemisieren und beispielsweise das deutsch-polnische und deutsch-tschechische Verhältnis vergiften. Hört man Derartiges aus Russland? Rachegelüste? Revanchismus? Offiziell? Nein!
Und das bleibt eine Leistung der Präsidentschaft Putin, so wie es eine Leistung der spätsowjetischen Führung war, leise aufzugeben, with a whimper, not with a bang, um das amerikanische Bonmot zu zitieren. Eine Definition für Heldentum – von Freund und Feind verachtet gleichwohl das Richtige zu tun?
Aber wir sprechen ja gar nicht von Russland, sondern von seiner Peripherie! Die Dinge sind nun einmal gelaufen, wie sie gelaufen sind. Die NATO hat jetzt Mitglieder, die für Russland nur schwer verdaulich sind, während die neuen EU-Mitglieder für die Union schwer verdaulich sein dürften. Letzteres ist richtig und notwendig. Ersteres könnte irgendwann zum Konflikt mit Russland führen.
Und das Zwischenreich? Die Ukraine, Belorus, Moldawien?
Der Herr Weißrusslands möge aufpassen! Er weiß zwar, dass wir ihn nicht schätzen, den widerwärtigen, kleinkarierten Diktator, ist allerdings noch nicht einsichtig genug, um aufzugeben. Nunwohl – für Einsicht kann man sorgen. Allerdings bitten wir auch unsere Kollegen von CNM, die Unterstützung der weißrussischen Opposition wieder aufzunehmen. Es genügt nicht als strategisches Konzept, nun da man mit Putin im Kampf gegen den Terror vereint steht, alle Aktivitäten an der russischen Peripherie einzustellen! Und dies ist – ich höre schon das Geschrei – kein Widerspruch zu unserer leisen Kritik an einer überbordenden Ausweitung von EU und NATO, nein – wir befürworten seit jeher einen neutralen Staatenkorridor zwischen EU und Russland, und wenn die Staaten dieses Korridors dann stabile Demokratien westlichen Zuschnitts wären, umso besser für alle Beteiligten, einschließlich Russland.
Seit im Januar 2003 der ukrainische Präsident Kutschma zum Vorsitzenden des GUS-Staatsrates gewählt wurde, ist widerlegt, dass dieses Amt immer nur vom russischen Präsidenten beansprucht würde. Ein kluger Schachzug Putins. Gegen die russische Wirtschaftsdominanz über Weißrussland und die Ukraine (dank unbezahlter Energierechnungen) haben wir erklärtermaßen nichts. Ansonsten entwickelt sich die Ukraine erfreulich gut mit einer Arbeitslosigkeit unter vier Prozent und einem bescheidenen, aber robusten Wirtschaftswachstum. Sie könnte dereinst zum wirklichen Pufferstaat heranreifen.
In Moldawien liegen die Dinge unglücklicherweise eher so wie in Weißrussland. Ein Bruttosozialprodukt von 400 Dollar pro Kopf und eine Regierung, die wir nicht wollen. Mit einer Bevölkerungsmehrheit von über 62 Prozent Rumänen könnte allerdings nach dem Beitritt Rumäniens zur EU eine neue Wirtschaftsdynamik zugunsten Moldawiens entstehen, wenngleich es schwer genug fallen dürfte, hier die Grenze des Schengenraumes dicht zu halten (so wie heute schon an manchem Grenzabschnitt zwischen Polen und Weißrussland, bzw. der Ukraine).
Ein Wort noch zu dem Mann, dem Moldawien seine Existenz verdankt: General Alexander Lebed. Ein russischer General setzte hier den Frieden durch, hier wie auch später, als er Boris Jelzins Sicherheitsberater war, in Tschetschenien. Wir verneigen uns vor unserem legaten und trauern noch heute um seinen Tod. Er wäre ein großer russischer Präsident geworden. Vielleicht musste sein Hubschrauber deshalb abstürzen.
Was aber wollen wir für Rumänien und Bulgarien? Zunächst, nachdem am 1. Mai 2004 Zypern, Malta, Slowenien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien, Polen, Litauen, Lettland und Estland der Europäischen Union beigetreten sind, selbstverständlich den EU-Beitritt in der zweiten Erweiterungsrunde 2007, wohl wissend, dass der Anpassungsprozess wirtschaftlich wie gesellschaftlich bis dahin nicht ausreichend weit gediehen ist. Bitter sind hier, wie in anderen ehemaligen Ostblockstaaten die psychologischen Spätfolgen der kommunistischen Diktatur, und so gilt das Engagement der Gründer in Rumänien vornehmlich der Unterstützung betrieblicher Fortbildung, um die Arbeitnehmer des Landes im Arbeitsprozess zu mehr Entscheidungsfreude zu motivieren. Ion Iliescus amerikahörige Haltung im Irakkrieg haben wir schärfstens missbilligt. Seine Unterstützungsinitiative gemeinsam mit Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, der Slowakei, Mazedonien, Kroatien und Albanien bleibt unvergessen – aber die Gründer arbeiten, aller Verärgerung zum Trotz, selbstverständlich konstruktiv an der Zukunft ihres Raumes.
Albanien? Auf die Gefahr hin, meinem Kollegen Ghika, dem Rumänen, der nicht über Rumänien schreiben will, vorzugreifen, ein Wörtchen zu Albanien, zum Balkan und den USA: Die Gründer stehen nach wie vor uneingeschränkt hinter dem Kosovokrieg des Westens. Genozid und ethnische Säuberung müssen verhindert werden - notfalls militärisch! Doch die Politik der USA, nachdem der bösartige Angriff der Serben auf die mehrheitlich muslimischen Kosovaren gestoppt war, kommt uns in manchen Aspekten merkwürdig vor. Warum unterstützen die USA ihre alten Waffengefährten aus der kosovarisch-albanischen UCK auch jetzt noch, da sich immer deutlicher abzeichnet, dass dem perversen Ziel eines Großserbien das ebenso perverse Ziel eines Großalbanien gegenübersteht? Saudi-Arabiens Wahabiten finanzieren Moschee neben Moschee und überdies Demonstrationen arbeitsloser junger Frauen, die dafür bezahlt werden, im Kopftuch zu flanieren. Tschetschenen und arabische Afghanistankämpfer haben Seit an Seite mit der UCK gekämpft - und trotzdem gebärdet sich Washington immer noch so, als handelte es sich hier um einen ganz normalen Verbündeten. Hey, Jungs und Mädels in Langley, was ist mit dem Krieg gegen den Terror? Oder geht es hier gar nicht um islamistischen Terror? Wollt ihr vielleicht eine schwärende Wunde im Bauch der Europäischen Union schaffen, um den transatlantischen Partner klein und jämmerlich und hilfsbedürftig zu halten?
Sakskoburggotski, Vorname Simeon, wie die letzten bulgarischen Zaren zu heißen pflegten, regiert Bulgarien mehr oder minder erfolgreich. Das Wirtschaftswachstum ist solide, die Arbeitslosigkeit bedauerlicherweise hoch, die Inflation erträglich. Probleme machen die staatlichen Rüstungsbetriebe, vor allem TEREM, die immer wieder in Geschäftsbeziehung stehen zu Syrien (und vor Saddams Sturz zum Irak). Kein Wunder, dass Bulgarien sich da der Jubelfront für Amerikas Irakkrieg anschloss – es hatte Schulden abzutragen. Die sind jetzt abgetragen und man sollte dazu übergehen, Außenpolitik zu betreiben im Sinne des Raumes, dem man einmal angehören möchte, nicht wahr, Herr Simeon von Sachsen-Coburg-Gotha?

Zypern - Griechenland - Balkan
von
Konstantin Ghika, praefectus ordinis
(Juni 2004)


Dank Zyperns Referendum erbt jetzt die Europäische Union eine der dümmsten vorstellbaren Grenzen. Das war so nicht geplant. Wo in römischer Zeit die Werften der Gründer standen, wo türkische Eroberer Marc'Antonio Bragadin bei lebendigem Leib häuteten, nachdem er sich gegen freies Geleit ergeben hatte, wo zur Beherrschung der Insel ab 1571 eine türkische Minderheit angesiedelt wurde, und wo fast die beiden NATO-Staaten Türkei und Griechenland Krieg gegeneinander geführt hätten - sollte nun endlich Frieden einkehren. Zwei Völker, zwei Religionen - gemeinsam in einem Land und in der EU - es war zum Greifen nah. Wir danken dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der alles Menschenmögliche unternahm, um Rauf Denktasch, den Führer der türkischen Zyprioten, zu bändigen. Gescheitert ist die Lösung nicht an den Türken der Insel, sondern an ihren griechischen Nachbarn, die bei der Abstimmung Herrn Papadopoulos folgten. Ziemlich absurd - wer die Pläne der EU durchkreuzt, sitzt nun mit am Tisch der Regierungschefs, während der geläuterte Starrkopf draußen bleibt. Die Gründer sind, gelinde ausgedrückt, verärgert.

Apropos Türkei: Wir begrüßen die Ankündigung der Strafrechtsreform bis Jahresende. Fallen soll unter anderem die Bestimmung, wonach ein Vergewaltiger straffrei ausgeht, wenn sein Opfer ihn heiratet – wozu das Opfer bislang oft von der eigenen Familie genötigt wurde, um die „Familienehre“ zu retten. Auch jener Paragraf, der bei Verbrechen zur Wiederherstellung der „Familienehre“ einen Strafnachlass ermöglichte, wird gestrichen. Außerdem wird das Strafmaß für Folter erhöht. Ob auch die strafprozessualen Hürden fallen, die bislang die Verurteilung von Folterern aus Polizei, Armee oder Geheimdienst meist verhinderten, bleibt abzuwarten. Jedenfalls macht die Türkei mit dieser Reform einen beachtlichen Schritt auf Europa zu. Wollen wir hoffen, dass er nicht zurückgenommen wird, sobald der NATO-Gipfel in Istanbul vorüber ist!

Das blanke Entsetzen der griechischen EU-Ratspräsidentschaft, als Anfang 2003 ein „Neues Europa" seinen Unterstützerbrief für George W. Bush veröffentlichte, war die angemessene Reaktion. Nun wollen wir auch die olympischen Spiele sehen, die wir brauchen: Friedlich, fröhlich, vielleicht ein bisschen chaotisch und improvisiert, zivil und doch so sicher, dass den Islamisten ihre freche Warnung, Athen besser nicht zu besuchen, im Hals stecken bleibt.
Vor allem hoffen wir, dass Griechenlands überaus erfreuliches Wirtschaftswachstum nicht einbricht, sobald die olympisch bedingte Verschuldungs- und Investitionspolitik ab dem Herbst korrigiert wird.
In der Ägäis soll Griechenland seine Interessen engagiert vertreten, denn eine Türkei, die in die EU strebt, muss zu allererst lernen, sich von osmanischen Imperialismen zu verabschieden. Im Norden des Landes bestehen wir auf Griechenlands Funktion als Sicherheitsanker und erwarten, dass gewisse mazedonische Ambitionen ein für alle Mal begraben werden. Schon bei Zypern hätten wir von den prä- bzw. postnationalen Konflikten sprechen sollen, die von der EU teils aufgehoben, teils jedoch nolens volens auch mitgeschleift werden. Hier, in diesem Fall, im Süden des jugoslawischen Balkans, können wir nicht anders, als Griechenland Disziplin aufzuerlegen. Den mazedonisch-, serbisch-, bulgarisch- und griechisch Orthodoxen, rund siebzig Prozent der Bevölkerung Mazedoniens, darf auch nicht die kleinste Chance eröffnet werden, sich nach Griechenland einzugemeinden, weil sonst bei den muslimischen Albanern zwangsläufig der Wunsch erwacht, einem Großalbanien beizutreten. Insofern war die Politik der EU, albanische Minderheitenrechte zu stärken, gar nicht übel konzipiert. Überhaupt läuft die Operation Concordia, die erste rein europäische Militäroperation mit Teilnehmern aus 27 Staaten, gar nicht so schlecht. Dies sei einmal unserem Herausgeber gesagt, der seit Jahren tönt, die EU springe in Mazedonien zu kurz.

Es erfüllt mich mit Hoffnung, zu beobachten, wie, wenige Jahre nach der epochalen Erdbebenhilfe Griechenlands für die Türkei und immerhin achtzig, neunzig Jahre nach den ethnischen Säuberungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs, auf beiden Seiten das Vergeben einsetzt. Umso tragischer ist, dass wenige Kilometer nordwestlich alle Episoden der türkischen Eroberung noch einmal nachgefochten werden müssen. Ein Ersatzkrieg? Eine massenpsychologische Monstrosität, die Griechenland vielleicht deshalb erspart blieb, weil es den tatsächlich effektivsten Unabhängigkeitskrieg gegen die Türkei geführt und gewonnen hat?

Fangen wir anders an: 1389 wurden die Serben, 1448 die Ungarn auf dem Amselfeld von den Türken geschlagen. Eine verdammte Schande für die Gründer und eine Katastrophe für die Region. Aber wir können die Niederlagen und die Folgen von Jahrhunderten türkischer Besatzung nicht ungeschehen machen. Insbesondere können und wollen wir nicht ungeschehen machen, dass in der Region heute Muslime leben. Deshalb sehen wir besorgt, wie Serbien das Amselfeld - heute Kosovo - immer noch als "heiligen Boden" verklärt. Gewiss hat Serbien 1389 einen guten Kampf gekämpft, einen gerechten Verteidigungskrieg - wir Gründer kämpften und verloren ihn an seiner Seite. Gewiss wäre es den Balkanvölkern besser ergangen, wären die Türken auf der Ostseite des Bosporus geblieben oder zumindest auf dem Amselfeld zurückgeschlagen worden. Aber so war es nun einmal nicht. Und wir können die Geschichte nicht zurückdrehen auf einen uns genehmen Punkt vor jener Niederlage. Erst recht nicht können wir unseren ohnehin schon reichlich späten Zorn austoben an Muslimen, die seit Jahrhunderten - meist in freundlicher Nachbarschaft - diese Region bevölkern. Irgendwann muss genug sein mit dem Hin- und Hervertreiben! Sonst endet die Tragödie nie.

Die Auflösung dieser Tragödie, der multiethnische Ausweg hieß noch vor kurzem: Jugoslawien. Vorbei!

Es war ja beileibe nicht nur der serbisch-muslimische Konflikt. Es war vielleicht mehr noch der serbisch/orthodox-kroatisch/katholische Konflikt, der nach den Schüssen von Sarajewo und dem Ersten Weltkrieg, erst recht nach den Gräueln der kroatischen, mit Hitler verbündeten Ustascha nach Auflösung im Vielvölkerstaat schrie. Tito hat den überfälligen Ersatz für das Habsburgerreich erschaffen. Der dicke, korrupte, luxusverliebte, machtgeile Tito repräsentiert die bislang glücklichste Epoche der Region. Und warum hat das niemand als Verdienst begriffen und gewürdigt und bewahrt? Es war doch ein Modell, eine Art balkanischer EU bei sanfter Umarmung Albaniens!
Als nach Titos Hinscheiden die Verfassung streng angewendet wurde, und jährliche Wechsel an der Führungsspitze stattfanden – wer rebellierte da? Slowenen, Kroaten, Bosnier jeglicher Nationalität. Albaner im Kosovo, als ihre Autonomie beschnitten wurde. Ich weiß nicht, was in diesem Land gerecht ist. Kann sein, Slowenien wollte nicht länger die serbische Armee bezahlen. Kann sein, die Kroaten fürchteten Belgrad. Kann sein, Belgrad wollte nicht einfach nur den Laden beisammen halten, sondern zugleich neue serbische Dominanz errichten. Kann sein, die Kosovaren fühlten sich von Belgrad betrogen. Kann sein, den Eltern serbischer Kriegsverbrecher widerfuhr Unrecht von muslimischen Kosovaren. Doch musste man die Lösung, Jugoslawien, gleich so komplett zerschlagen? Konnte man sich nicht der Zukunft zuwenden und altes Unrecht ruhen lassen? England und Frankreich konnten das nach dem Hundertjährigen Krieg. Deutschland und Frankreich konnten das nach Jahrhunderten der „Erbfeindschaft“. Russland, die Ukraine, Weißrussland, Polen – fast alle Opfer von Hitlers Aggression können sich aussöhnen mit Deutschland. Ein deutscher Bundeskanzler ist zu Gast bei den Siegesfeiern an Gold Beach. Warum kommen die verfeindeten Völker des Balkans nicht zur Ruhe? Man muss sich ja nicht lieb haben. Es genügt doch, sich nicht gegenseitig totzuschlagen.

Wahrscheinlich ist es die Zeit. Es sind die Jahrzehnte, die verstreichen müssen.

Die Gründer wollen, dass Europa für den Balkan leistet, was die USA in ihrer glorreichsten Epoche für Europa geleistet haben: Sicherheit zu gewähren und Stabilität und die Chance auf wirtschaftlichen Aufschwung. Es waren andere Zeiten und andere Vereinigte Staaten damals. Aber es ist heute wie damals immer noch derselbe Westen, dessen Zusammenhalt wir nicht leichtfertig opfern.
Wenn wir heute erkennen und anerkennen, dass Amerika das Immunsystem des Westens gegen den Totalitarismus war, dass es antidemokratische Verirrungen eliminieren konnte - in derselben Zivilisation, in der es lebte und aus der es stammte - dann müssen wir auch einsehen, dass die Rechnung für arabische Länder nicht aufgeht. Man konnte das Land von Kant und Hegel und Goethe und Schiller und Marx und Engels nach furchtbarer Verirrung wieder auf den rechten Weg zurückbringen. Das blieb sozusagen innerhalb der Familie. Schwieriger war es schon mit Japan, wo die Installation der Demokratie niemals der autoritären Tradition des Landes standhielt. Regiert haben seit dem Weltkrieg immer nur Liberaldemokraten.
Und was war der letzte positive familiäre Berührungspunkt der westlichen mit der islamischen Zivilisation? Jesus Christus im Koran? Die Legenden um Harun al Raschid? Oder Averroes, der große Ibn Ruschd, der Kadi von Sevilla, der von seinem Emir nach Marokko in Sicherheit gebracht werden musste, weil er sich allzu provokant mit Plato und Aristoteles beschäftigte? Oder - Öl?

Ich weiß nicht, was gerecht ist. Gerechtigkeit ist ein sehr großes Wort. Ich fühle mich, wie jedermann, oft schon davon überfordert, auch nur eine praktikable Lösung zu finden. Ich will auch gestehen, dass mich dies Hin und Rück von Verletzung und Widerverletzung abstößt. Man gewinnt die Zukunft nicht durch Herumkratzen in alten Wunden. Glauben Sie dem praefectus ordinis der Gründer, der eine Menge von Wunden versteht!

Slowenien ist in der EU. Gut so! Sie sind uns willkommen, die Slowenen – mindestens ebenso wären die Serben uns willkommen. Oder die Kroaten. Oder die muslimischen Kosovaren. Ganz Jugoslawien wäre heute in der EU, gäbe es das Land noch. Aber weil der dumme Kohl zur Unzeit die slowenische Separation anerkannte und den Damm sprengte – ging Jugoslawien verschütt. In Ljubljana steht nicht umsonst das Café Bonn. Weil Slowenien abbrach, brach Kroatien ab. Weil Kroatien abbrach, war Belgrad verzweifelt. Weil Belgrad verzweifelt war, überreagierte es in Bosnien und im Kosovo. Dank dieser Überreaktion suchen Montenegro und Mazedonien Distanz ... Tragödie ist das einzig angemessene Wort. Nun hat Europa hier auf unabsehbare Zeit eine weiche Flanke.

Ein paar Entscheidungen sind fällig. Wir wollen keine ethnische Säuberung mehr. Ein serbenfreies Kosovo werden die Albaner nicht bekommen, so wenig, wie wir den Serben ein albanerfreies Kosovo zugestanden haben. Kosovo darf nicht selbstständig werden, weil das die Serben zum Krieg und die mehrheitlich muslimischen Kosovaren zum Anschluss an Albanien verleiten würde. Kosovo darf noch lange nicht in die Obhut Serbiens zurück – sonst folgt eine serbische Racheorgie. Solange irgend möglich, muss also das Kosovo Protektorat des Westens bleiben. Der Westen muss sich allerdings auch in die Lage versetzen, die serbische Minderheit im Kosovo zu schützen.
Konkret heißt das, wir müssen neue Taktiken entwickeln. Wie neutralisiert man den Mob, der ein tausend Jahre altes orthodoxes Kloster verbrennen will, möglichst mit all seinen Mönchen darin? Man könnte schießen. Feuerkraft ist reichlich vorhanden. Wenn aber die Leute mit den Brandsätzen sich verbergen in einer Menge von Unbewaffneten, Frauen und Kindern? Wenn dann die Kfor-Soldaten eine Güterabwägung treffen, sich mit den Mönchen zurückziehen – und das Kloster brennt ab? Kann das der Weisheit letzter Schluss sein? Können wir es uns erlauben, besiegt zu werden, weil der Gegner unsere Humanität ausnützt? Oder müssen einfach ganz schnell und massiv nichttödliche Waffen in dieses Einsatzgebiet, robustes Polizeiwerkzeug, vom Wasserwerfer bis zum Reizgas? Wir haben in diesem Zusammenhang – wohl wissend um historische Rücksichtnahmen - keinerlei Verständnis für die deutsche Rechtsposition, die es zwar durchaus erlaubt, gegen Demonstranten auf deutschem Boden Tränengas einzusetzen – dasselbe Tränengas aber im Kosovo verbietet, weil sein Kriegseinsatz nicht durch die Genfer Konventionen gedeckt sei. Ist es Krieg, wenn man Kirchen und Häuser vor Brandstiftern schützt? Oder nicht doch eher Polizeiarbeit - zufällig von Soldaten ausgeübt?

Ernüchternd ist es schon, zu sehen, wie die muslimischen Kosovaren, zu deren Schutz der Westen 1999 in den Krieg gegen Serbien zog, nun voller Hass denselben Westen bekämpfen, der sie gerettet hat. Woher der Hass? Weil der Westen sie hindert, mit den Serben zu machen, was vorher die Serben ihnen antaten.
Diese heute nicht mehr aussöhnbaren Feinde haben vor nur dreißig Jahren, unter Tito, einander geheiratet und ihr Geld zusammengeschmissen, um ein Hotel zu bauen. Wie kommt es wohl, dass Frieden und allgemeines Wohlergehen stets irgendwie mit Epochen eher laxer Religionsausübung zusammenfallen?

Die Zeit, die Jahrzehnte, die verstreichen müssen? Nunja - akzeptieren müssen wir wohl, dass Versöhnung dort nicht mehr in unserer Lebensspanne stattfindet. Und daher werden wir uns auf eine Art kantonaler Struktur des Kosovo einlassen, sodass sich die Volksgruppen, weitgehend unbehelligt voneinander, selber verwalten. Und es werden auch einige tausend Umzüge stattfinden, leider, gezwungenermaßen, denn der Westen kann nicht unbegrenzt eine Kompanie Soldaten bereitstellen, pro verfeindetem Nachbarpaar, das heute nicht mehr ohne Mord und Totschlag nebeneinander leben kann oder will.
Ist es gerechtfertigt, eine solche Entflechtung als „ethnische Säuberung light“ zu verunglimpfen? Wir meinen nicht. Natürlich kann es traurig sein, bitter traurig, unfreiwillig ins Nachbardorf umzuziehen. Aber ist es besser, nur unter bewaffnetem Schutz zum Bäcker zu können? Was wir nicht erlauben werden, niemals, ist, dass eine Volksgruppe die andere aus dem Kosovo vertreibt. Denn das und nur das wäre ethnische Säuberung.

Umso merkwürdiger finden wir, wie heftig unser amerikanischer Partner die Partei der UCK, der muslimischen Kosovaren, letztlich Albaniens ergreifen. Sicher – ohne die USA hätten NATO oder EU 1999 diesen Krieg nicht geführt. Aber weshalb nun dieses sture Festhalten an den Waffenkameraden von einst, an der UCK, die sich heute teils halbkriminell bis terroristisch gebärdet? Anfangs hatten wir Verständnis. Wir glaubten, die US-Nachrichtendienste nutzten diese alten Kanäle, um mehr über islamistische Strukturen herauszufinden. Doch ihre Beute ist mager und die Ausrede wird immer lustloser vorgetragen.
Natürlich muss man mit einem albanischen Zigarettenschmugglerboss reden, wenn der über Nacht im Kosovo 3.000 Bewaffnete aufbieten kann. Doch es erstaunt, wie gern, wie ausgiebig und oft solche Gespräche geführt werden. Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: Natürlich behaupten wir nicht, die Politik der USA im Kosovo würde diktiert von den Interessen amerikanischer Tabakriesen. Das Kosovo ist nicht der Irak und unverzollte Zigaretten sind kein Öl.
Weit eher dürfte es darum gehen, Europa ohne offizielles Türenknallen klarzumachen: Wenn sich in eure Gefolgschaft zu viele kritische Töne mischen, dann disponieren wir unsere Brückenköpfe um. In dieses Bild passt auch die innige Nähe, die neuerdings zwischen Bush und Berlusconi entsteht. Wie kommt der Cavaliere dazu, Italien plötzlich zum engsten Verbündeten der USA zu stilisieren? Bahnt sich da eine Allianz an, die die Gestade der Adria zum großen Hafen der USA machen will? Italien-USA-Albanien? Die Gründer in Venedig wären somit eingekreist bis zur Handlungsunfähigkeit. Deshalb wird es keine solche Allianz geben. Make no mistake: Wir werden das verhindern.
Seitens der USA heißt es in vager Andeutung, vielleicht ernst gemeint, vielleicht auch nur als Ablenkungsmanöver: Seht euch vor, wenn ihr uns ärgert, können wir den Konflikt hier durchaus hochziehen und euch dann mit dem Schlamassel sitzen lassen. Insofern ergäbe sich allerdings tatsächlich bald eine frappierende Analogie Kosovo-Irak.

Serbien? Djindjic war unser Mann - möge ihm die Erde leicht sein! Ansonsten hat Serbien einen grässlich hohen Preis bezahlt für seinen eingangs der neunziger Jahre eingeschlagenen Irrweg. Wie immer und überall bezahlen nicht die Schlächter an der Front des Völkermords, sondern Arbeitslose, deren Betrieb 1999 zufällig zerbombt wurde. Wie mehrfach betont: Wir stehen zu diesem Krieg. Aber wir wollen doch noch einmal hinweisen auf jene kurze Meldung in Lanks Chronik, die zwar heute nicht mehr auf der Website ist, von interessierter Seite jedoch in den einschlägigen Internetarchiven nachgelesen werden kann:

„Auf einer Landstraße bei Obilic ist am Mittwoch, dem 17. März ein Sprengstoffanschlag auf den successor Karl Bucholtz verübt worden. Als sein Wagen vorbeifuhr, wurde in einem am Straßenrand parkenden PKW eine Autobombe ferngezündet. Karl Bucholtz überlebte den Anschlag, doch er erlitt schwere Verletzungen und liegt zurzeit noch im Koma. Seinem Fahrer, der unverletzt blieb, gelang es, den successor in Sicherheit zu bringen, ohne dass er in die Hände von Serben, UCK oder UN-Truppen fiel.“

Das erschien am 19. März 1999. Karl Bucholtz war unterwegs, um den ethnischen Wahnsinn in Venedigs linker Flanke zu kanalisieren.
Ich werde jetzt die Menschen aufzählen, die von diesem Einsatz wussten: er selber und Boduvak, sein Fahrer und Leibwächter. Der Russe im Wagen hinter ihm riskierte genau wie Bucholtz sein Leben und hatte nur zufällig Glück. Schon der Fahrer des Russen fuhr zwar den Russen, wusste aber nichts von der Mission. Der princeps wusste von der Mission und ist selbstverständlich über jeden Zweifel erhaben. Ich wusste von der Mission - und weiß, dass ich Bucholtz nicht verraten habe. Mein damaliger Chef De Kempenaer war später für mehr als ein Attentat auf Bucholtz verantwortlich, doch damals fand er rasch heraus, welche vier Lumpen den grünen VW-Golf präparierten, am Straßenrand parkten und zündeten. Und nicht er verhörte sie, bevor sie ihrem Schicksal übergeben wurden. Ich verhörte sie. Und sie gaben zwar das Attentat zu - beschuldigten jedoch mit keinem Wort De Kempenaer. Dann wusste noch ein Mann in Langley von dieser Mission. Keiner in Boston. Niemand bei unserem legatus ad fratres. Niemand bei CNM.
Bemerkenswert finde ich nun, dass weder dieser Langley-Mann, inzwischen pensioniert, noch seine Nachfolgerin mir die harmlose Bitte erfüllen, ein paar Satellitenfotos einsehen zu dürfen. So kann es gehen.

Ach, Serbien! Irgendwann wird es genesen. Obwohl wir ihm so viele Steine in den Weg räumen! Obwohl wir permanent Serbiens Demokratie schwächen und die Ultranationalisten stärken - mit jeder neuen vergeblichen Sfor-Razzia nach Mladic und Karadzic in Bosnien. Könnte man nicht sagen: Sollen sie das Gesindel in versteckten Villen päppeln, bis es der wohlverdienten Blutrache zum Opfer fällt?
Man könnte schon. Doch ich schließe mich dem nicht an. Nur einmal durchspielen möchte ich dies Argument.
Muss man mehrere Länder destabilisieren und ein ganzes Netz internationaler Beziehungen vergiften, nur um diese Schlächter nach Den Haag zu schaffen? Wenn man es wenigstens täte, um den traumatisierten Opfern zu helfen! Doch nein, es geht um eine viel abstraktere Gerechtigkeit, es geht um das geschriebene Völkerrecht.
Wieso ist eigentlich der Westen immer und überall dafür zuständig, außerhalb seines Territoriums seine Gesetze durchzusetzen, Regeln, die außer ihm niemand will, am wenigsten die betroffenen Menschen? Die Täter wollen ganz gewiss nicht nach Den Haag. Die Opfer oder ihre Hinterbliebenen möchten lieber selber abrechnen.
Jedes Rechtssystem kennt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Fragen wir also das Völkerrecht, fordern wir es zur Güterabwägung auf, denn zugleich sind beide Rechtsgüter nicht zu haben! Was ist also schlimmer - dass ein paar Schurken einem fairen Prozess nach westlichen Standards entkommen oder dass eine Region Europas auf Dauer gelähmt und destabilisiert wird?

Ach so!? Ich messe mit zweierlei Maß? Begrüße in der Türkei die Strafrechtsreform und rede auf dem Balkan der Blutrache das Wort? In der Tat, für mich persönlich habe ich zwischen Poppers Gesinnungs- und Verantwortungsethik längst gewählt. Und ich trüge kein Bedenken, mit zweierlei Maß zu messen, wäre ich davon überzeugt, dadurch den Schaden, die Summe menschlichen Leids zu minimieren. Eben das bin ich jedoch nicht, jedenfalls nicht, wenn ich über den Balkan hinaus schaue. Da wiegt es dann doch schwer, dass kein Diktator und kein rassistischer Mob in Zukunft mehr hoffen darf, mit Völkermord straffrei davonzukommen. Da ist es dann schon wichtig, das Gericht in Den Haag zu unterstützen, in der zugegeben vagen Hoffnung, künftige Täter abzuschrecken.
Aber man muss auch offen aussprechen, dass Serbien alleine büßt. Auch hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Serbien büßt, die anderen, allen voran Kroatien, kommen glimpflich davon.

Gerechtigkeit? Sehen Sie - ich bin praefectus ordinis der Gründer und habe von Berufs wegen mit Vergehen und Strafe zu tun. Es ist schon beruhigend, dass sich die Gründer keinen Gerechtigkeitspraefecten leisten, sondern nur einen für die Ordnung.

Montenegro ist nicht mehr im jugoslawischen Korsett zu halten ohne Krieg. Belgrad sollte es gehen lassen. Zu regeln wäre der Mittelmeerzugang Serbiens.
Kroatien, speziell auf Veranlassung des toten Herrn Tudjman, hat schlimme Dinge verschuldet in den Separationskriegen der Neunziger, teilweise genau so schlimme Dinge, wie die Serben. Kroatiens Publicity war besser. Es kommt mit seiner Beute davon, wo man die Serben hängt.
Manchmal überlege ich mir – ich, der berufsmäßige Sicherheitsfanatiker, der Publizität verabscheut – ob wir nicht besser 1989 als 1999 ans Netz gegangen wären.
Slowenien – ist in der Europäischen Union und nicht mehr Gegenstand balkanischer Debatten.
Bosnien-Herzegowina ist mit seiner serbischen Teilrepublik nicht auf dem schlechtesten Weg. Sie wäre auf besserem Weg, wenn man den General und den dichtenden Arzt tot im Fernsehen gesehen hätte. Noch besser stünde es um ihre Zukunft, wären die Bande zwischen Polizei und Verbrechen nicht gar so eng.
Der muslimisch-kroatische Teilstaat jedoch bereitet uns Sorgen. Sein Binnengefüge scheint nicht zu tragen. Er wird täglich mehr zum Experimentierfeld islamistischen Sponsorings auf europäischem Boden. Dort, wo vor zwanzig Jahren Muslime und Christen standesamtlich heirateten, führen heute die Priester das große Wort. Und sie werden es weiterhin führen, auch wenn Saudi-Arabiens Kronprinz Abdullah nach den jüngsten Anschlägen verkündet, allen islamistischen Wohlfahrtseinrichtungen das Geld abzuschneiden. Wir dulden den muslimischen Seelenkauf, solange Saudi-Arabien sich in der OPEC konstruktiv verhält. Beschämend. So ist die Welt.

Da ich mich nur ausnahmsweise öffentlich zu Wort melde, hier ein letztes, persönliches Wort außerhalb des Themas gerichtet an Herrn Scharon: Vier meiner Männer, vier Schwarze Hände mit Namen Rod Hamilton, Xavier Ortega, Sven Waltraud und Simon Schamir fielen am 19. Mai 2004 einem israelischen Raketenangriff im Gazastreifen zum Opfer. Der Einsatz war mit beiden Regierungen abgesprochen. Herr Arafat hatte nichts einzuwenden und hat nichts unternommen. Der Einsatz war mit dem Mossad abgesprochen, der sehr viel klüger ist, als Sie, Herr Scharon. Der Einsatz war mit dem israelischen Inlandsgeheimdienst abgesprochen, der noch sehr viel klüger ist als Sie, Herr Scharon. Der Einsatz war sogar abgesprochen mit dem Oberst, der das fragliche Geschwader kommandiert. Zeit und Ort waren bekannt. Trotzdem starben meine Männer im Friendly Fire.
Sehr geehrter Herr Scharon, wir kennen Ihre Probleme, die verbitterte Ultrarechte wieder hinter sich zu scharen. Lassen Sie das! Koalieren Sie lieber mit dem Vater der israelischen Atombombe! Dann können Sie endlich seriös Politik machen.

Die Sicherheit der Gründer
von
Konstantin Ghika, praefectus ordinis
(Juni 2004)

Gibt es eine Sicherheitsdoktrin der Gründer für die Gründer? Nein. Oder, wenn doch, würde ich den Teufel tun, sie öffentlich zu machen, damit Hinz und Kunz Gegenstrategien entwickeln. Insofern ist es wohl dem skurrilen Humor des princeps geschuldet, dass ausgerechnet ich dieses Kapitel bearbeite.
 
In jede Absicht, jede Strategie mischen sich Wunsch und Furcht, Vergangenes, Gemutmaßtes, Antizipiertes und auch, ja – Biografie. Ich entsinne mich gut, ich war um die Dreißig, als ich einmal das Begleitkommando für Tito anführte, der von der Ferieninsel kommend, princeps Renoir besuchte im Haus ohne Tür. Damals fand ich den princeps leichtsinnig, was Wunder, hatte ich doch selber keinen Zutritt zu jenem Haus, für dessen Sicherheit ich heute lebe.
Schon der Name, Haus ohne Tür, lachhaft, nicht wahr: ein Silbenrätsel für die Psychoanalyse!
Fakt bleibt, dass das Archiv der Gründer nur einmal in eintausendneunhundert Jahren erfolgreich angegriffen wurde, 2001, von meinem Amtsvorgänger, der inzwischen liquidiert ist. Resistent gegen fast jede Art der Interpretation ist aber nicht nur der Name, sondern auch unsere Strategie für das Große Archiv: Niemand betritt es unautorisiert. Wer den Versuch wagt, stellt fest, dass Vorwitz unbekömmlich ist, früher oder später. Für unseren Schutz entscheidend ist und bleibt die Schwierigkeit, uns überhaupt zu finden. Venedig, einerseits recht klein, kann sehr unübersichtlich sein, kein Wunder, haben wir es doch um uns herum gebaut zu unserem Schutz.
Außer dem Schutz des Zentralarchivs obliegt meiner praefectur der Personenschutz für die Dreiunddreißig, sofern sie nicht, wie princeps und successor, eigene Leibwächter haben und die manus imperii. Wir beaufsichtigen die Botschaften unserer 7 Bruderräte in Venedig, schützen unsere eigenen 7 Botschafter bei den Bruderräten, unsere 16 legati extra, die 29 Provinzialarchive sowie eine Reihe inzwischen pensionierter Mitglieder der Dreiunddreißig.
Abgesehen vom Personen- und Objektschutz stehen mir rund 200 eigene Schwarze Hände für den operativen Einsatz zur Verfügung und wir engagieren im Jahresmittel noch einmal die gleiche Anzahl Söldner für periphere Aufgaben.
Nehmen wir zum Beispiel den Schutz der Provinzialarchive: Natürlich könnten wir sie durch beliebig starke Söldnertruppen schützen lassen - das hätte nur den Nachteil, dass die Söldner dann die Lage des geschützten Objekts kennen und weitergeben könnten. Also vertrauen wir hauptsächlich auf Anonymität und diskrete Zusammenarbeit mit uns gewogenen lokalen Sicherheitskräften, ähnlich wie beim Personenschutz.

Leider ist trotzdem die Sicherheit unserer Provinzialarchive oft sehr viel stärker gefährdet, als wir es uns wünschen, wenn auch wohl nicht so desolat, wie manch einer nach dem Fiasko der letzten fünf Jahre glauben möchte. Das Provinzialarchiv in Köln von deutschen Staatsschutzbehörden gestürmt. Das englische Provinzialarchiv gleich in die Luft gesprengt. De Kempenaers Sprengstoffanschlag in Venedig – ich übernahm das Amt als schwere Bürde, glaube inzwischen jedoch, die Lage konsolidiert zu haben.
Die Frage, vor der wir stehen, lautet: Wie schützt man Institutionen, die räumlich lokalisierbar arbeiten? Man kann sie verstecken. Man kann sie tarnen und falsche Fährten legen. Man kann sie scharf bewachen. Man kann Netzwerke schaffen, die durch lokalen Angriff nicht mehr vernichtend zu treffen sind. Mit all diesen Praktiken experimentieren wir, kommen im Schnitt gut durch, scheitern jedoch auch gelegentlich, wie nicht anders zu erwarten.

Manche Methoden sind derart simpel, dass man über ihre Effektivität gelegentlich ins Staunen kommt. So gehört zum Beispiel für unsere Gäste im Haus ohne Tür die undurchsichtige Samtkapuze zum Standard. Dass der princeps sie Tito erließ, obwohl ich sie darreichte, mehr noch, dass auch die letzte Geliebte des Marschalls, die ihn auf dieser Reise betreute, das Haus ohne Tür offenen Auges betrat, fand ich unsäglich. Ich fand damals die ganze Reise unsäglich. Anfangs geschmeichelt, weil der mächtige Staatschef sich ohne eigenen Personenschutz auf unsere Jacht traute, auch zufrieden damit, wie er zuerst auf der Brücke saß, dann, als das Wetter aufklarte, auf dem Panoramadeck, in der altersfleckigen Hand schweres Kristall mit bernsteinfarbener Flüssigkeit, wurde ich immer nervöser, als wir am Lido vorbei in die Lagune liefen, umstiegen ins schönste Wassertaxi Venedigs und in der Folge immer offensichtlicher das Haus ohne Tür ansteuerten. Ich hatte nichts verstanden. Ich war erst dreißig. Ich wusste noch nicht, dass alles auf Vertrauen basiert. Der princeps und Tito waren einander mehrfach am Rande von KSZE-Konferenzen begegnet, und hatten Vertrauen gefasst, so stark, dass das Vertrauen auch die jeweilige Entourage einschloss. Damals verstand ich das nicht, aber dass der mächtige Staatschef, die internationale Größe der Blockfreien sich ungeschützt  auf mein Boot begab, war schon ein Akt ungeheuren Vertrauens. Kurz und gut: Der princeps erwiderte dieses Vertrauen und empfing die Beiden auf den Vorwerken und er behielt recht, denn das bleibende Ergebnis jenes trunkenen, lauten Treffens war Titos Hinweis auf einen damals noch weithin unbekannten georgischen Politiker namens Michail Gorbatschow. Und so vermittelte uns denn der gewalttätige Chef einer Einheitspartei, die per saldo ein menschenfreundliches Regime ausübte, den sanften Liquidator der KPdSU, deren menschenunfreundliches Regime nicht unbedingt durch ein viel freundlicheres abgelöst wurde. Die Schnellen, Skrupellosen und Klugen gewinnen. Die Alten, die Langsamen, jene, die ihre Lebensqualität nicht unbedingt daran messen, ob sie alle Bücher der Welt lesen können, zählen zu den Verlierern. Die sicheren Lebensumstände in beschaulicher Bodenständigkeit erodieren seither in ganz Europa, überall, auch im Westen, der sich anfangs als großer Gewinner betrachtet hatte.
Das war also meine Seereise, wenn es zur Abrechnung kommt, sicher jene acht Stunden meines Lebens, in denen ich dem Puls der Weltgeschichte am nächsten war. Ob ich zufrieden bin damit? Ja. Wenn ich mich entsinne, wie leichtfertig beide Blöcke damals auf den zufälligen, nicht einmal gewollten atomaren Schlagabtausch zusteuerten, erscheint mit jedes heutige Elend als großer Fortschritt. Und ich vertraue der Zukunft.

Mit Vertrauen spielt man niemals ungestraft. Niemand schuldet uns gegen das eigene Gewissen oder über die eigene Kraft hinaus Loyalität. Man kann uns angehören und sich in Frieden von uns trennen, vorausgesetzt, man schweigt. Das gilt auch für den inneren Kreis, in den niemand vordringt, ohne engagiert für unsere Ziele gewirkt zu haben. Verrat jedoch bestrafen wir.

Cosgrave, James, einst magister strategus, dann vermeintlich entführt, dann vermeintlich entkommen, sodass er auf der Bastei unserem successor begegnete, dann wieder überführter Verräter, ist heute unsere größte Sorge, er und die paar Millionen Euro, die er beiseite geschafft hat und sein Wissen. Das hatten wir vor De Kempenaer und Cosgrave lange nicht mehr, dass Mitglieder des engsten Zirkels abtrünnig wurden. Im Rückblick Sonderlinge. Alles in allem Menschen, denen jedermann nur eingeschränkt vertraute. Erzeugt Misstrauen Unverlässlichkeit? Wirkt Misstrauen wie eine self-fullfilling-prophecy? Eigenartig, dass ausgerechnet ich, das personifizierte Misstrauen der Gründer so viel über Vertrauen schreibe! Wovon wir träumen, davon läuft das Maul uns über.

Einstweilen profitieren wir von unserer Fähigkeit, unter Wasser Keller zu bauen. Aber der unentwegte Wellenschlag im Kielwasser der Vaporetti nagt auch an unseren Mauern. Das Hochwasser kommt öfter und höher als früher. Ob die öffentlichen Baumaßnahmen Piazzetta/Zecca außer Kosmetik viel bewirken, sei dahingestellt. Die Risiken des Jahrhundertprojektes MOSES jedenfalls wurden nur unzureichend durchgespielt. Auch wenn die Industrieabwässer von Mestre und Marghera die Lagune längst nicht mehr so stark verseuchen, wie vor Jahrzehnten, könnte die Abdichtung der Lagune durch MOSES Venedigs Kanäle im nicht mehr fortgespülten Dreck eines Tages ersticken lassen. Hinzu kommt der Massentourismus, der sich immer unerträglicher auch am Haus ohne Tür vorbei wälzt. Ich erwähne all dies, weil es in seiner Gesamtheit tatsächlich eine Diskussion darüber angestoßen hat, ob die Gründer ihr Großes Archiv für alle Ewigkeit in Venedig belassen sollten. Dass hieraus in der Gerüchteküche der Bruderräte das Gefasel entstand, wir fühlten uns nicht mehr sicher, wollten fliehen aus dem Haus ohne Tür, kann man einerseits belächeln. Andererseits ist es meines Amtes, jede diesbezügliche Illusion zu zerstreuen. Auch wenn wir uns an der Aufrüstung gewisser Bruderräte nicht beteiligen – sind wir durchaus in der Lage, die Zahl unserer Schwarzen Hände rasch und unbefristet soweit aufzustocken, dass wir jeder Provokation gewachsen sind.
Wir halten uns an die Beschlüsse der Millenniumskonferenz. Wir verzichten im Verhältnis zu den Bruderräten auf die Erstanwendung von Gewalt. Doch es entgeht uns auch nicht, wenn junge Hitzköpfe in Fantasien schwelgen, wie das Haus ohne Tür aus Venedigs Stadtbild getilgt werden könnte. Ich empfehle an dieser Stelle den Bruderräten mehr Sorgfalt bei der Auswahl ihres Personals.

Wir halten an Venedig als unserem Sitz fest, solange irgend möglich und gleich, wie viel Geld es kostet. Um das zu unterstreichen, habe ich die Ehre und das Vergnügen, hier eine neue Reihe von Publikationen anzukündigen. In gut einem halben Jahr, sobald diese Reihe mit strategischen Notizen abgeschlossen ist, widmen wir uns ausführlich der Verwobenheit von Stadt und Großem Archiv und ich bitte jedermann herzlich, dies nicht bloß als Akt symbolischer Politik misszuverstehen!

Und da wir schon einmal bei den Publikationen sind: Der successor ist entschlossen, die kölnisch-venezianischen Spiegelungen des letzten Winters öffentlich zu machen. Wer also in den geschätzten Bruderräten glaubt, sich gegen diese Veröffentlichung immunisieren zu müssen, der möge die verbleibende Zeit gut nutzen.

Zum Abschluss mein Geständnis, auf das alle warten: Nein, meine praefectur weiß immer noch nicht mit letzter Gewissheit, wer Siau Chou ermordet hat. Die Anschläge auf Karl Bucholtz, sieht man von jenem bei Obilic ab, ordnen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit meinem Amtsvorgänger Gerrit Daniel de Kempenaer zu. Das Tre-Archi-Attentat jedoch ist für uns immer noch ein Rätsel.

Und dennoch hat Agrippa einen Mund!

Die neuen Mitgliedsländer der EU
von
Juan Rodil, praefectus magistrorum
(Juli 2004)

Werbt für Europa, feige Bande! Geht offensiv das populistische Gesindel an! Schickt fünfundzwanzig mal drei Cohn-Bendits nach Europa! Eine charismatische Figur je politische Richtung pro Land! Dann klappt’s auch mit den Wahlen!
Wär' es nicht schön, aus diesem Brustton der Überzeugung heraus Politik zu gestalten? Sic transit. Ist es nicht komisch, wie Entropie aus immer mehr Komplexität entsteht?

Mit einem Sprung nach Norden lasse ich meinen Vorredner zurück, samt seinem Thema, springe bis Tallinn, allerdings nur, um sodann Land für Land in Richtung Adria und Mittelmeer zurückzuwandern. Die Rede ist hier von den neuen Mitgliedsländern der EU.
Man hätte vielleicht sinnvoller die baltischen Staaten dem Kapitel Skandinavien und Ostsee zugeordnet – aber wohin dann mit Polen? Auch Polen hat eine lange Ostseeküste und gehört zum baltischen Raum. Andererseits hat Polen eine russische Grenze, eine litauische, eine weißrussische, eine slowakische, eine tschechische, eine deutsche und folglich ist das Baltikum dem Land zu eng, wie schon die Karte zeigt.
Die Landkarte! Karl Bucholtz rät zum Blick ins Geschichtsbuch – ich hingegen rate zu den Landkarten. Eine gute Landkarte erklärt den Sachzwang, aus dem heraus die Politik eines Landes entscheidet. Zum Beispiel zeigt sie die Größe des Raumes von Ostsee bis Adria, über den wir hier reden, und wenn man dann noch zufällig weiß, welche Rolle in diesen Landstrichen der primäre Sektor Agrarwirtschaft spielt, dann fällt es schwer, dem britischen Europaminister Denis MacShane zu folgen. Der Gute verlangt, Subventionen für die Landwirtschaft zu kürzen. Er rät, das Geld lieber in Universitäten zu investieren. Im alten Europa, auf dem Weg zur Wissensgesellschaft, hätte das Argument durchaus Charme – beiseite gestellt die Frechheit des Ansinnens aus dem Vereinigten Königreich mit seinen von Frau Thatcher erpressten fiskalischen Sonderkonditionen! Aber nach der Osterweiterung? Wo ringen wir denn um Verständnis, um Einverständnis und Wählerstimmen, oft nur um schiere Fügsamkeit? Bei Eliten oder enthusiastischen Studenten Neu-Europas? Bei den Klaus‘, den Rokitas und Leppers? Oder nicht doch eher auf dem platten, weiten, armen Land, bei den Verlierern der Globalisierung? Wie sollen wir diese Menschen nach Europa mitnehmen, wie reißen wir sie dem Populismus aus den Krallen - ohne Agrarsubvention? Oder will MacShane gar niemand mitnehmen? Will er den rheinischen Kapitalismus durch den angelsächsischen ersetzen, will Armut in Kauf nehmen und sie beherrschbar machen durch Gettoisierung des Elends, brutale Rechtsprechung und volle Gefängnisse? Das funktioniert vielleicht in Großbritannien, wo sogar noch der Sozialhilfeempfänger über etwa so viel Kaufkraft verfügt, wie der Fabrikarbeiter in der Slowakei. Die Gründer wissen: wer dieses angelsächsische Modell den neuen Mitgliedsländern verordnet, erntet auf Dauer Sensen, Mistgabeln und Benzinkanister – und zwar im Parlamentsfoyer. Oder EU-Austritte. Und die kann ja wohl nicht einmal der britische Europaminister wollen! Oder? Schauen wir uns die Wirkung dieser Wirtschaftspolitik an, von den Kneipenschlägereien, die in Großbritannien zum Wochenendhobby avancieren, über marode Infrastrukturen bis zu den überfüllten Gefängnissen Amerikas ...
Auch hier ist er also wieder – er taucht immer wieder auf, der Hegemon, ist allgegenwärtig - der Schlenker in die USA. Er scheint unvermeidlich. Zu verwoben ist der Mythos des jüngst zu Grabe getragenen Staatsschauspielers Reagan mit der Geschichte Lech Walesas und des Papstes.
Der Mythos lautet: Ein schlichtes Gemüt, aber hervorragend beraten, ein mutiger Präsident, schraubt den Rüstungswettlauf hoch, verschuldet sein Land, gewinnt aber derartigen rüstungstechnischen Vorsprung, dass der Gegner in Moskau die unbezahlbare Aufholjagd entnervt abbricht. Sancta simplicitas!
Dumm war schon die NATO-Doppelbeschluss-Initiative des damaligen deutschen Kanzlers Schmidt. Zweifellos ein bedeutender Kanzler, doch das wird einst der Fleck auf seinem Bild in der Geschichte sein! Wie kommt man bloß auf die aberwitzige Idee, ein Gegner, mit dem man auf Leben und Tod kämpft, würde sich zuverlässig an die Regeln halten? Gut - die Sowjets haben sich an die Regeln gehalten. Doch spricht das nicht weit mehr für die Menschlichkeit der Sowjetführung als für den Weitblick der Führer im Westen?
Man erklärt also der Sowjetunion: Ihr rüstet SS 20 bis dann und dann ab – sonst rüsten wir Pershing II nach. Es hätte nur ein Quäntchen mehr Skrupellosigkeit in Moskau gebraucht, um den finalen Schlagabtausch vor der Nachrüstung durchzuziehen.

Moskau rüstet nicht ab. Der Westen rüstet nach. Und nach. Und nach. Und dann kommt SDI.
Die Kosten: Sozialabbau, Leistungsbilanzdefizit und Staatsverschuldung ruinieren nachhaltig den amerikanischen Mittelstand. Das Ergebnis: Vorwarnzeiten, die schon allein deshalb Wahnsinn sind,

weil das Hirn der Entscheidungsträger rein biologisch zu lange braucht, um die im Schock des Krisenfalls ausgeschütteten euphorisierenden Botenstoffe zu verarbeiten. Wollen Sie wissen, wie oft in diesen Jahren innerhalb von weniger als zehn Minuten die Entscheidung getroffen wurde zwischen atomarem Inferno und Fortbestand der Menschheit? Glauben Sie mir, Sie wollen das nicht wissen, ganz bestimmt nicht!
Das also war Präsident Reagan! Auch, wenn man über Tote nur Gutes sagen soll – der Mann war ein bornierter, verantwortungsloser Spieler. Die Menschheit hat nicht dank seiner Strategie überlebt, sondern trotz seiner Strategie. Wir hatten einfach Glück. Wir überlebten, weil die Sowjets Verantwortungsbewusstsein zeigten. Die Menschheit überlebte, weil die Sowjets ihr Potenzial nicht nutzten. Gewiss war ihr debiles System unfähig, noch länger die Kosten des Rüstungswettlaufs zu tragen, aber was heißt das schon? Kann man erst drei- oder viermal den Globus pulverisieren, braucht man eigentlich nicht weiter aufzurüsten – egal, was der Gegner im Arsenal hat. Dann muss man nur noch die Grundsatzentscheidung fällen, ob man das Arsenal des Schreckens einsetzt – oder verzichtet. Hätte Moskau in einem begrenzten Konflikt nur einen einzigen Sprengkopf gezündet, hätte es ein paar Hunderttausend oder Millionen Tote gegeben, doch der Warschauer Pakt existierte heute noch. Er wäre innerlich zwar durch und durch verrottet – aber er existierte noch.
Mit Gorbatschow an der Spitze übte der Ostblock Verzicht auf diese Option. Und, weit mehr als  Mittelstreckenraketen oder Weltraumrüstung, war es vor allem Polen, das den Willen des Politbüros zermürbte. Die polnische Gewerkschaft Solidarnosc gewann durch die simple Tatsache, dass im Vatikan der polnische Papst saß, jenen internationalen Status, der ihre Neutralisierung unmöglich machte. Nicht einmal mehr das Kriegsrecht stabilisierte die gefährdete Versorgungslinie durch Polen. Die Landkarte zeigt uns, dass die DDR, äußerster Vorposten des Warschauer Paktes, günstig allein durch Polen erreichbar war. Südlich gab es zwar noch die tschechoslowakische Brücke, doch die war ein wenig prestigeträchtiger Umweg. So stand die Moskauer Führung vor dem Problem, entweder in Polen ein Blutbad anzurichten, oder die unmittelbare Landverbindung Moskau-Berlin zu verlieren – ein furchtbares Dilemma für die Planer der Sowjetunion, die ungefähr zu dieser Zeit schon ihre Truppen aus Afghanistan abzog. Die Sowjets waren nervlich aufgerieben, als 1989 die friedliche Revolution in der DDR losbrach.

Amerika ist ein Thema für sich, zum Papst nimmt Signor Manini Stellung, während Ben Manners sich später dem Vereinigten Königreich widmet. Ich selber rufe mich zur Ordnung und zum Thema zurück. Demnächst also Beitrittsverhandlungen mit Kroatien – fair ist das nicht gegenüber den anderen Zerfallsprodukten Jugoslawiens, aber das kroatische Stück Adriaküste ist so lang, das müssen wir einfach haben!

Die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, ihrer Orientierung nach maritim und zur Ostsee ausgerichtet, an der Küste hansisch-kaufmännisch, mit starkem Dienstleistungssektor, im Landesinneren agrarisch, sollen diese ihre baltische Identität pflegen. Mögen sie wachsen, blühen und gedeihen, die Schocks brutaler Wirtschaftsreform nach dem Schnittmuster der Chicago-Boys überwinden, Schweden mit billigem Schnaps versorgen, ihre russischen Minderheiten integrieren und vor allem Frieden halten mit Moskau!
Dies ist der erste unserer drei strategischen Imperative für die neuen Mitgliedsländer: Im Norden wahren wir Frieden mit Moskau.
In der Mitte entschärfen wir die Vertriebenenproblematik und integrieren Sinti wie Roma.
Im Süden  pazifizieren wir die slowakisch-ungarisch-serbisch-rumänische Nationalitätenproblematik.

Im Norden steht eine offene Falle: Die Menschen der russischen Exklave Kaliningrad streben in die EU, doch wir dürfen ihnen keine Perspektive öffnen, weil sonst Moskau verrückt spielt. Die Gründer haben sich also im Baltikum auf ein extrem waghalsiges Experiment eingelassen. Auch insofern, als die jungen, hervorragend ausgebildeten und hungrigen Eliten aus dem Baltikum demnächst in Skandinavien und Deutschland die Arbeitsmärkte aufmischen.
Spannend wird die Identitätsabgrenzung zwischen Polen und Litauen. Bildet sich da eine binneneuropäische Allianz, eingedenk früherer Personalunionen, die den Raum bis hinunter zum Schwarzen Meer beherrschten, ein Revival des Anjou-Reiches? Oder ist Litauen bemüht, sich von Polen abzugrenzen, um eine individuellere Identität auszuprägen?
Polen - ist im Weimarer Dreieck mit Deutschland und Frankreich gut aufgehoben, ohne das derzeit gebührend zu würdigen. Die nationalen Reflexe sind hier noch sehr stark, verständlicherweise - auch wenn sie, nüchtern betrachtet, stören. Hier, wie auch in Tschechien, vergiften außer den Populisten die Immobilienansprüche deutscher Vertriebener das Klima. Und so stellen wir uns, kaum ist der D-Day abgefeiert, und man liest in der westeuropäischen Presse vom endgültigen Ende des Kriegs, der traurigen Erkenntnis, dass der Krieg samt Folgen in den neuen Mitgliedsländern noch lange Thema sein wird. Vorweg: Natürlich war die Vertreibung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei meist Unrecht. Doch irgendwann kommt in der Geschichte der Moment, in dem Unrecht ertragen werden muss, um größeres Unrecht zu verhindern. Die Gründer missbilligen das Bestreben deutscher Vertriebener, ihr verlorenes Eigentum in Polen und Tschechien auf juristischem Weg einzuklagen. Wir missbilligen auch die Passivität der deutschen Regierung in dieser Hinsicht. Verhindert man nicht die Klagen der Vertriebenen und findet keinen Weg, sie in der EU-Gerichtsbarkeit auszubremsen, dann reagieren die ostmitteleuropäischen Staaten mit hohen Schadensersatzforderungen für das von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangene Unrecht. So würde das politische und wirtschaftliche Klima in Ostmitteleuropa nachhaltig vergiftet, die politische Vertiefung der Gemeinschaft misslänge, das Investitionsklima wäre zerstört - kurzum, der Schaden wäre verheerend. Nun verstehen wir natürlich, dass die Bundesregierung den Vertriebenen nicht geradeheraus das Klagen verbietet - die Klagen kämen dann ja auf sie selber zu. Doch warum setzt Berlin nicht jenen Hebel an, über den es verfügt? Die Vertriebenen haben in den fünfziger und sechziger Jahren aus Steuergeldern Entschädigung bezogen. Wer aber heute oder morgen sein Land zurück bekommt, braucht keine Entschädigung mehr. Wenn also der Bund, gesetzt den Fall eine Vertriebenenklage hätte Erfolg, die Entschädigung zuzüglich angemessener Verzinsung über vierzig, fünfzig Jahre zurückforderte - das Problem wäre bald erledigt. Sogar gerecht erledigt, denn warum sollte jemand, der keinen Schaden mehr hat, Anspruch auf Entschädigung durch den deutschen Steuerzahler behalten? Die tiefere, die eigentliche Gerechtigkeitslücke, dass nämlich deutsche Vertriebene Polen, die selber aus Ostpolen vertrieben wurden, erneut vertreiben wollen, ist so abgründig, dass man antideutsche Hasstiraden in der polnischen Boulevardpresse gelassen ertragen sollte. Man muss die Polen hier verstehen - vielleicht sogar ein bisschen mehr als die Tschechen.
Ein Wort zu den Ergebnissen der Europawahl. Eigentlich drei Worte.
Erstens stimmt es nicht, dass überall in Europa die nationalen Regierungen abgestraft wurden. Das kam mehrfach vor, doch in Griechenland zum Beispiel war das nicht der Fall, ebenso wenig in Spanien oder Luxemburg.
Zweitens sagt, wo die Abstrafung stattfand, die Abstrafung nichts aus über die Europa(un)freundlichkeit der Wähler. Dennoch muss Europa interessanter werden. Wenn Politik in der Mediendemokratie vorwiegend über Personen wahrgenommen wird, dann müssen Personen entsprechenden Kalibers nach Europa, in Kommission wie Parlament. Drittens jedoch, und dies ist gemünzt auf die neuen Mitgliedsländer, sollten wir in Ruhe die nächste Europawahl abwarten. Die Neubürger haben dann gelernt, all die neuen Formulare auszufüllen und sich der europäischen Mechanismen zu bedienen. Wir erwarten, dass europafeindliche Parteien dann in stark reduzierter Abgeordnetenzahl ins Europäische Parlament einziehen. Nach Anfangsschwierigkeiten werden die neuen Mitgliedsländer, auch Polen und Tschechien, konstruktiv an Europa mitbauen, allein schon deshalb, weil die Gründer sonst entschlossen ein Kerneuropa vorantreiben.
Tschechien sollte – wie Polen – sein Gesundheitswesen reformieren, denn was die Menschen dort wütend macht, ist nicht einmal so sehr der dreißig-, vierzigjährige Nachholbedarf gegenüber dem Westen, es ist die unwürdige Behandlung, die Alten und Kranken zuteil wird. Es kann nicht sein, dass ein öffentliches Krankenhaus der Europäischen Union, so geschehen in Polen, kein Geld hat für benötigte Antibiotika. Dann muss man eben auf die teure Prestigepolitik im Irak verzichten oder im Zweifel sogar weniger amerikanische Kampfflugzeuge kaufen!

Sorge bereitet den Gründern die Behandlung von Minderheiten in den neuen Mitgliedstaaten. Sinti und Roma, im Kommunismus zwangsintegriert, sind inzwischen wieder an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn sie nicht gar außerhalb stehen. Hier spielt mancherlei seine Rolle, beginnend bei diffusem Freiheitsdrang - bis hin zu sehr alten und sehr bösen Vorurteilen aufseiten der Mehrheit. Weil sich aber die Völker Ostmitteleuropas nie in dem Maße schuldig gemacht haben, wie zum Beispiel die Deutschen, ist es dort auch nicht zu vergleichbarem Umdenken gekommen, sodass völkisches, minderheitenfeindliches, ja sogar krass antisemitisches Gedankengut  immer noch in beinahe naiver Weise virulent ist.
Naiv ist dabei natürlich nur die politische Unkorrektheit der jeweiligen Staatsvölker. Den sich bedroht und teilweise schon wieder verfolgt fühlenden Minderheiten ist gewiss nicht so naiv zumute. Das geht soweit, dass junge ungarische Juden inzwischen schon eigene Discotheken brauchen, um unbehelligt zu feiern.
Wenn die extreme Rechte Westeuropas geschickt agiert, kann sie diese Zustände zu ihrem Vorteil nutzen. Allerdings stelle ich namens und auf Rechnung der Gründer klar, dass wir nichts unversucht lassen, um diese faschistische Verbrüderung aufzuhalten.
Ich sagte und ich meine: Nichts bleibt unversucht.

Als Meciar und Havel nicht mehr miteinander konnten, spaltete sich friedlich die Tschechoslowakei. Wir fanden das unnütz. Um ganz ehrlich zu sein, fanden wir sogar schon die Auflösung des Habsburgerreichs unnütz. Wir stehen, nach Struktur und Geschichte, stets aufseiten multiethnischer Gebilde. Das Römische Reich war keine Nation, hatte mit Volkstum nichts zu tun, nur dass es zahllosen Völkern Frieden brachte und Nutzen.
Die Gründer halten Nationalismus für einen Irrweg, bekennen jedoch, dass sie im Zuge der Aufklärung nicht unschuldig waren am Entstehen europäischer Nationalismen. Kurz und banal: Wir riefen den Geist und bannten ihn nicht in die Lampe zurück, nachdem er seine Schuldigkeit getan hatte. Nun arbeiten wir jedoch hart, damit die Völker sich nicht nach Geburt voneinander trennen, sondern im gemeinsamen Interesse zusammenfinden. Das ist unser eigentliches Ziel: tragfähige supranationale Gebilde im freundschaftlichen Dialog.
So sterben am wenigsten Menschen eines unnatürlichen Todes. So wird man am leichtesten reich. So ist das Leben der Klugen am spannendsten, weil ein Höchstmaß ungehinderten Austauschs möglich wird. So ist das Leben der Dummen am vergnüglichsten, weil weder Militärdienst noch allzu hohe Steuern drücken. So sammelt sich Vertrauen an, Glück, Wohlstand von Generation zu Generation.
Wer zur Unterfütterung seiner Identität seine Sprache, seine Fußballnationalmannschaft oder seinen Dialekt braucht, seine Landschaft, seinen Geruch, seinen Himmel, einen bestimmten Wind oder ein Nationalgericht – braucht in der Europäischen Union der Gründer keine Sorge zu haben. Wer jedoch einen Feind braucht als Nachbarn, jemand, den er hassen oder verachten kann, der hat im Raum der Gründer keine Zukunft.
Havel und Meciar? Tschechien und die Slowakei? Es ist nun einmal so gekommen. Der Konflikt versandete, je näher das Aufnahmedatum rückte. Ähnlich streben wir das für Ungarn an, das Menschen seiner Ethnie und Zunge ausgegrenzt und bedroht sieht in der Slowakei, in Serbien und in Rumänien. Auch diesen Konflikt entschärft die Europäische Union und löst ihn friedlich auf im supranationalen Staat.

Slowenien ist so erfolgreich, dass es fast schon als Teil der „Blauen Banane“ gilt. Malta ist – vom jüngsten Wahlergebnis einmal abgesehen - auf gutem Weg und wird uns die Kontrolle des Mittelmeers erleichtern, vorausgesetzt Brüssel wendet seine idiotisch restriktive Feuerwerkspolitik dort nicht an. Zypern – dito.

Wir wollen uns nichts vormachen. Es wird nicht leicht. Es treffen aufeinander unterschiedliche Mentalitäten und Einkommen, Übersaturiertheit und Erfolgsgier, alte Feindschaften und neue Konkurrenzen, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Es treffen aufeinander leichte Beute und kriminelle Energie. Doch die Chance dauerhaften Friedens in den Grenzen der EU ist so gewaltig, dass sie alle Skepsis zum Schweigen bringt. Wir müssen im Baltikum aufpassen, das wohl. Wir müssen den weichen Bauch der Union, den Balkan stabilisieren, das wohl. Wir müssen gut überlegen, ob wir die Türkei in der EU wollen. Aber dass wir jetzt schon ein einziges Bündnis sind von Porto bis Tallinn, von Dublin bis Famagusta, von Utsjoki bis Malta, das ist ein unschätzbarer Gewinn, so groß, dass viele Heutigen ihn erst im Lauf der Jahre begreifen dürften.

Oben sagte ich: Wer Feinde sucht, der hat im Raum der Gründer nichts verloren. Das heißt jedoch nicht, vor tatsächlichen Risiken die Augen zu schließen.
In unserem Raum liegt Russland, dessen Entwicklung wir beeinflussen, aber nicht bestimmen. Mit diesem Russland kann es eines Tages zu Spannungen kommen.
Es gibt, unabhängig von türkischer EU-Mitgliedschaft, eine europäische Mentalität, die liberale europäische Moral, eine Denk- und Lebensweise, die uns in den Augen fanatischer Muslime zu einer Spezies degradiert, noch minderwertiger als das Schwein. Wir müssen vorbereitet sein, wenn diese Irren irgendwann auf die Idee kommen, uns mal eben zu schlachten.
Und es gibt jenseits des Atlantik einen guten Freund, dem wir unendlich viel verdanken, der aber in letzter Zeit unsere Solidarität strapaziert, über jedes erträgliche Maß hinaus.
Kein Glück der Welt ist unbedroht. Die Union muss nach innen verschmelzen und sich nach außen mit einer energischen Stimme Gehör schaffen.

Der Heilige Stuhl und Italien
von
Bertuccio Manini, praefectus archivorum
(Juli 2004)

Wer Papst wird nach Wojtyla? Dio, als kleiner Junge war ich Messdiener und jetzt soll ich den nächsten Papst bestimmen? Kardinalstaatssekretär Sodano wird es jedenfalls nicht, ebenso wenig Ratzinger. Viel spricht für einen Italiener, einen Franzosen, einen Afrikaner oder Lateinamerikaner. Der Italiener wäre die konventionelle Lösung, offen gestanden ein bisschen langweilig. Der Franzose könnte die Bande zwischen Europa und dem frankofonen Afrika stärken, aber auch den christlich-muslimischen Missionswettlauf in Afrika anheizen. Er wäre vermutlich ein sehr europäischer Papst mit einem Hauch zu viel Distanz gegenüber der angelsächsischen Welt. Der Afrikaner geriete wahrscheinlich noch stärker als jeder Franzose in Versuchung, Afrika katholisch zu machen – was den Hass der muslimischen Welt dezidiert auf unser ewiges Rom lenken würde. Aus Sicht der Gründer sollte es daher ein Lateinamerikaner machen. Er könnte die eine oder andere allzu hegemoniale Hinterhofpolitik der USA ausbremsen helfen, bände aber zugleich den Subkontinent an Rom und damit an den Westen.
Über eins jedenfalls braucht sich das Kollegium der Kardinäle diesmal keine Sorgen zu machen: Die Gründer werden jeden Papst als gewählt akzeptieren. Aus unseren Reihen droht diesmal kein Eingriff, wie jener eine, unautorisierte Gerrit Daniel de Kempenaers, der den Luciani-Papst das Leben kostete und Wojtyla auf den Stuhl half. Auch wenn Wojtyla seine Sache dann recht ordentlich gemacht hat, auch wenn böse Zungen immer wieder falsche Schlüsse ziehen, aus der persönlichen Affinität, die Wojtyla mit princeps Czartoryski verbindet – der Tod Albino Lucianis war die illegale, verabscheuungswürdige Tat eines abtrünnigen praefecten und keineswegs offizielle Politik der Gründer.

Aber es geht hier ja in erster Linie gar nicht um den Vatikan, sondern um den Palazzo Chigi und den Quirinal. Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass Berlusconi auf dem EU-Gipfel am 17. Juni den Briten Chris Patten als Präsident der Kommission vorschlug, einen Mann, der nicht nur in der Irakkrise 2003 eine höchst dubiose Rolle gespielt hat, dessen Regierung bis heute nicht dem EURO zustimmt, nicht dem Schengenraum angehört und schon gar nicht irgendwelche Mehrheitsentscheidungen mitträgt, sondern die Verfassung Europas einem Referendum ausliefert. Was treibt ihn um, den Cavaliere, den Eigentümer dreier Fernsehsender, Ministerpräsidenten, nebenamtlichen Außenminister, Finanz- und Wirtschaftsminister, Inhaber von Parlamentsmehrheiten, Leibsängern und Monumentalgrabstätten?
Da holt er sich brav auf dem G8-Gipfel die Marschrichtung ab, berät sich mit der deutschen Oppositionsführerin Merkel, zwinkert vielleicht Herrn Blair noch kurz zu - und dann bleibt die wichtigste EU-Personalie ungeklärt?
Ob Berlusconi so etwas wie eine Strategie hat – ich meine für das Land, das er regiert, für seine Korruptionsverfahren hat er selbstverständlich eine – oder ob er Italien schlicht als Beute betrachtet, darf füglich bezweifelt werden. Was man erkennt, läuft wesentlich darauf hinaus, gemeinsam mit Amerika und England in Europa zu stören. Sie scheinen Brüder im Geiste zu sein, die Unternehmer Bush und Berlusconi. Beide vermengen schamlos die Belange ihrer Länder und ihrer Privatschatullen, beide zelebrieren eine ekelhaft pathetische Religiosität, instrumentalisieren Medien, nehmen es mit den Menschenrechten nicht genau, sind Marktwirtschaftler ohne soziales Attribut. Der eine musste mit Neofaschisten koalieren, um die Macht zu erringen. Der andere musste die Stimmenauszählung abbrechen lassen. Brüder im Geiste! Und so trat dann die Europäische Union beim EU/US-Treffen kurz nach dem Gipfel mit unbestallter Präsidentschaft auf - zur feixenden Freude Bushs.

Wollen wir sagen: Hochmut kommt vor dem Fall?

Warum wir ihn so lange Zeit nicht wegkriegten, den Cavaliere? Dazu muss man verstehen, wie wenig angreifbar er war. Die Abgeordneten seiner eigenen Partei sind durchsetzt und werden diszipliniert von Berlusconis (Ex)Angestellten. Finis Neofaschisten wussten im Grunde, dass außer Berlusconi niemand mit ihnen koaliert, auch wenn Fini inzwischen eine gewisse Scheinseriosität ausstrahlt. Ähnlich gilt das für Berlusconis zweiten Koalitionspartner, die Lega Nord, sodass lange Zeit ohne Wahlen aus der Legislative heraus kein Umsturz organisiert werden konnte. Möglicherweise hat sich das nun geändert, zu einem Zeitpunkt, der uns überhaupt nicht passt.
Die Exekutive hat er natürlich fest im Griff, der Cavaliere - kopflose Ministerien übernimmt er kurzerhand selber. Und die Judikative, die Richterschaft des Landes, tut nun wahrlich, was sie kann, um Berlusconi in einem Netz von Steuerbetrugs-, Korruptions- und Meineidsprozessen zu fangen. Bislang mit bekanntem Misserfolg. Großdemonstrationen verpuffen wirkungslos, da der Regierungschef zugleich Eigentümer der meisten Fernsehsender, Verlage und Zeitungen ist, sodass zwar demonstriert wird, aber niemand davon berichtet. Und wenn auf dem Quirinal der tapfere alte Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi gelegentlich seine Unterschrift unter ein besonders haarsträubendes Gesetz verweigert, dann fährt der Cavaliere zum Gesichtslifting, damit niemand seine hängenden Mundwinkel bemerkt.
Nach der Europawahl, wo Berlusconis Forza Italia schwer gebeutelt wurde, Finis Neofaschisten hingegen ordentlich zulegten, hat sich die Situation geändert. Das ist das Risiko der Gründer in einer Demokratie: Nun sieht es so aus, als wollten ausgerechnet die Neofaschisten das sinkende Koalitionsschiff verlassen, um in für sie günstigem Klima vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen. Berlusconi kam ihnen zuvor, entließ seinen relativ vernünftigen Finanzminister Tremonti samt unbeliebten Sparplänen, übernahm selber das Ministerium und flog nach Brüssel, um mit fast demselben Sparplan ein EU-Defizitverfahren gegen Italien zu verhindern. Nun sind wir gespannt, wie er Finis nächste Sollbruchstelle kittet. Wollen wir vorgezogene Neuwahlen, zum jetzigen Zeitpunkt? In einem europafeindlichen Klima, erzwungen von Finis Neofaschisten, die auch noch als relative Gewinner aus ihnen hervorgehen würden, selbst wenn sie die Regierungsbeteiligung verlören? Wir ziehen planmäßige Neuwahlen vor.

Obwohl - mit Berlusconi an der Spitze ist mein armes Italien schon ein geschlagenes Land. Was sollen wir tun? Druck? Erpressung? All seine Mafia-, Gladio- und P2-Verstrickungen sind hinlänglich bekannt. Man kann bei uns so etwas aussitzen. Ein Anschlag auf einen demokratisch gewählten Regierungschef? So etwas machen die Gründer nicht. Außerdem würde Italien in eine Staatskrise gestürzt – und dafür ist Berlusconi nun wiederum nicht schlimm genug. Also warten wir die nächsten Wahlen ab, wann sie auch kommen, und stehen dem Mitte-Links-Parteienbündnis Ulivo nach Kräften bei, gern mit Prodi als Spitzenkandidat, den die Italiener zwar, seiner blassen Hautfarbe wegen „Mozzarella“ nennen, der aber gute Chancen hat.
Vorher, seien wir ehrlich, brauchen wir gar nicht erst darüber nachzudenken, europäischen Zögerlichkeiten durch ein energisch voranschreitendes, karolingisches Kerneuropa Beine zu machen. Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg haben einfach zu wenig Gewicht, um die Richtung Europas zu bestimmen. Italien gehört in diese Allianz, der Bevölkerungszahl nach, der Wirtschaftskraft und der Tradition gemäß, denn es waren schließlich die Römischen Verträge, die Europa begründeten. Kürzer noch: Es war Rom.
Mit Prodi an der Spitze, dem Ex-Kommissionspräsident und ehemaligen Ministerpräsidenten, könnte Italien Teil jener karolingischen Allianz werden, die rechtzeitig vor 2007 glaubwürdig die Drohkulisse Kerneuropa aufbauen soll, um all die vielen Referenden und Ratifizierungsrunden zu beeinflussen, die Europas gerade mit Ach und Krach beschlossene Verfassung noch durchlaufen muss. Und das wird auch nötig sein. Nach dem Debakel des 13. Juni, das uns deutlich vor Augen führte, wie gleichgültig bis europafeindlich die Bevölkerung manch neuer wie alter Mitgliedstaaten gestimmt ist, brauchen wir wahrscheinlich die Drohkulisse. Manchen Ländern muss man klarmachen: Ihr könnt nicht gleichzeitig im Klub sein, alle Vorteile genießen, und im Klub gegen den Klub arbeiten. Da brauchen wir gar nicht nach Polen und Tschechien zu schauen, da genügt der Blick nach London. Blair, in den wir einmal große Hoffnungen gesetzt haben, gibt uns heute noch größere Rätsel auf als Berlusconi. Aber was will man schon von einem anglikanischen Engländer erwarten, der auf dem Höhepunkt der Irakdebatte nach Rom fliegt, um dem Papst anzukündigen, er werde nach seinem Abtritt als Premierminister Katholik? War das nötig, Pudelchen, das Referendum? Musste das sein? Reicht es nicht, Krauts und Froschfresser beschimpfen zu lassen durch die Presse eines australischen Medientycoons am Busen der USA? Sollen Murdochs Schmierblättchen nun auch noch das völlig überflüssige britische Europareferendum ruinieren?
Ach ja, die Massenmedien. Da haben wir versagt, ganz klar. Die Gründer haben keine Verlage, Fernsehsender oder Zeitungen. Wir üben manchmal über Konsortialbeteiligungen Einfluss aus, das wohl, doch die meisten unserer quaestoren lenken Unternehmen, die Waren herstellen oder mit ihnen handeln – nicht Worte. Klug oder dumm? Italiens Fernsehzuschauer zappen mittlerweile, wenn ihr Ministerpräsident im Bild auftaucht. Die Massenmedien dekonstruieren gnadenlos jeden, der sie bedient, selbst wenn sie ihm gehören. Richtig oder falsch? Großbritannien und Italien, Murdoch und Berlusconi, rücken unsere Anlagestrategie in schiefes Licht. Allerdings dient die Anlagestrategie der Gründer zu allererst der Existenzsicherung der Gründer selber, und nicht kurzfristigen politischen Zielen im Rahmen von zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren. Wir rechnen in Jahrhunderten, und gerade deshalb komme ich nochmals auf das ominöse Jahr 2007 zurück. Erst dann tritt die EU-Verfassung, ohnedies nach lauter Kompromissen nicht mehr wirklich gut, in Kraft. Selbst wenn wir, Prodis italienischen Wahlsieg vorwegnehmend, eine karolingische Drohkulisse aufbauen können – der deutsche Schröder dürfte, wenn er überhaupt so lange durchhält, 2006 nicht wieder gewählt werden. Ob die heutige deutsche Opposition rasch genug ein Vertrauensverhältnis zum französischen Staatspräsidenten aufbaut, sei dahingestellt. Jedenfalls ist es schlimm, dieses 2007. Vielleicht raubt uns der Ratifizierungsprozess die alles entscheidenden drei, vier Jahre, um Europa international richtig aufzustellen. Was, wenn gegen alles Erwarten Bush wieder gewählt wird? Was, wenn der Irak implodiert, wenn der Nahe Osten explodiert? Und währenddessen stimmt Europa darüber ab, wie es künftig abstimmen soll? Eine Farce!

Berlusconi ist schon ein rechtes Übel – im doppelten Wortsinn. Hätten wir ihn vor seinem zweiten Wahlsieg politisch erledigen sollen? Aus heutiger Sicht – ja. Genau wie Blair. Aber wir bauen manchmal auf Personen, und im Falle Blair war das so. Ich selber hatte in beiden Fällen den richtigen Riecher, doch ich hüte mich, einem Kollegen Vorwürfe zu machen, denn ich weiß aus eigener, schmerzlicher Erfahrung, wohin Vertrauen führen kann. Habe ich erst Vertrauen gefasst, dann halte ich bis zum Widersinn daran fest – und so geschah es mir, dass ich jahrelang mit Gerrit Daniel de Kempenaer befreundet war.
Vertrauen!? Womöglich gar Verschwiegenheit? Nun rede ich fast schon so wie die Freunde der Freunde. Wer hätte schon 1943, als die Mafia den Amerikanern bei der Landung auf Sizilien half, gedacht, dass die Freunde der Freunde je wieder so mächtig würden, wie sie heute sind? Verschmachteten die Bosse nicht in Mussolinis Kerkern? Schon. Doch die Armut Süditaliens war auch nach dem Krieg dieselbe und bildet heute noch den Nährboden für kriminelle Parallelstaaten, wie - in der Reaktion - auch für Bossis Separationsbestrebung in Norditalien. Der Transfer von Nord nach Süd ist gewaltig – und versickert meistenteils. Für das wirtschaftlich enorm erfolgreiche Norditalien ist dieser Zustand ähnlich frustrierend, wie es in Deutschland die Transfers von West nach Ost sind, eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen den beiden jüngsten europäischen Nationalstaaten. Wir müssen heute davon ausgehen, dass die Mafia den Bau einer Autobahn auf Sizilien als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten betrachtet. Kein Wunder also, dass Berlusconis Forza Italia 2003 in mehreren Provinzen Siziliens die absolute Mehrheit errang, gegen den landesweiten Trend. Es ist längst nicht mehr so, dass Italiens Regierung die Mafia bekämpft. Es ist auch nicht mehr so, dass Italiens Regierung von der Mafia bekämpft wird. Mit Berlusconi ist Italiens Regierung die Mafia, mehr noch als jemals unter Andreotti.
Wie sollte es auch anders sein, der Nährboden, der Süden, der Mittag, der Mezzogiorno ist nun einmal, was er immer war: ein ewig fremd beherrschtes Land. Nach den Römern kamen die Ostgoten, dann Byzantiner, Sarazenen, die Normannen, Staufer, die französischen Anjou, Aragonesen und Spanier, Österreicher, Napoleons Bruder Joseph, Napoleons Marschall Murat ... heute wieder Rom. Mancher Verwirrte meint Rom, schimpft aber Brüssel und findet sein Echo im Norden bei Bossis Separatisten. (Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen: In Italiens nationaler Regierung sitzen Leute, die das Land in Nord und Süd spalten wollen - was nie geschehen wird, aber ein schönes Beispiel ist für die Verantwortungslosigkeit des Cavaliere.) Immer wurde der Süden Italiens aus Neapel fremd beherrscht und ausgebeutet. Ein Lump, wer Böses dabei denkt, dass Berlusconi heute Mafiaermittlern und Mafiarichtern die Planstellen im Personenschutz streicht! Ein Lump auch, wer Böses dabei denkt, dass Neapels Müll in Kölner Müllverbrennungsanlagen exportiert wird. Das hat durchaus so seine Richtigkeit, denn wir wären nicht die Gründer, würden wir nicht von Zuständen, die wir nicht ändern können, wenigstens profitieren.

Was wollen wir für Italien? Die Armut im Süden bekämpfen und mit ihr das Verbrechen. Wir verschweigen allerdings auch nicht, dass die Spielarten der italienischen Mafia im Vergleich etwa zu serbischen, russischen oder albanischen Clans geradezu den Charakter einer Ordnungsmacht haben. Es gibt ein zivilisatorisches Gefälle in der internationalen organisierten Kriminalität. Deshalb schlagen wir zwar die Mafia, wo wir sie treffen können und spielen, wo immer möglich, internationale Banden gegeneinander aus, sodass sie sich gegenseitig aufreiben. Doch wenn wir nur die Wahl haben zwischen der Mafia und ihren kriminellen Konkurrenten – dann unterstützen wir die Mafia. Ganz wird dieses Phänomen ohnehin nie verschwinden aus Italien. Zu tief wurzelt das Misstrauen zwischen Piazza und Palazzo, zwischen dem Volk und der Regierung. Und wir sprechen immerhin von 150 Mafiafamilien auf Sizilien, 130 Camorra-Familien in Kampanien, 150 N'Drangheta-Familien in Kalabrien, sowie in Apulien 50 Familien der Nuova Sacra Corona Unita, alles in allem 65.000 Mitgliedern.
Was wollen wir noch? Das Land bleibt eins! In der italienischen Innenpolitik ist deshalb nicht Berlusconi, sondern die Lega Nord unser strategischer Gegner und jene Kreise, die sie unterstützen. Vielleicht spielen in zwanzig Jahren die Regionen unterhalb der EU-Ebene eine sehr viel stärkere Rolle, als die Nationalstaaten, doch eine Spaltung Italiens in Nord und Süd werden wir auch dann nicht zulassen.
Außenpolitisch sehen wir Italien als Kernland Europas. Gerne in einer großen Europäischen Union. Wenn es nicht anders geht, als wichtiger Pfeiler der karolingischen Vertiefungspolitik.
Italiens Wirtschaft steht unter Globalisierungsdruck, wie alle entwickelten europäischen Volkswirtschaften, vielleicht mit dem Unterschied, dass hier der touristische Sektor eine größere Rolle spielt, als irgendwo sonst. Wo wir können, helfen wir dem Land, die schwierige Balance zu halten zwischen schmerzhaftem Einschnitt und sozialer Grundsicherung.

Zuguterletzt ist Italien unsere Basis. Hier liegt der Ursprung: Rom. Hier liegt Pompeji, Ende jeder absoluten Wahrheit im Archiv der Gründer. Und hier liegt Venedig mit dem Großen Archiv. Man wird uns also nachsehen, wenn wir in Italien fördern, was uns gut tut.
Wollen Sie das verstehen? Dann rate ich Ihnen vom Besuch Venedigs ab. In Venedig verstehen Sie allenfalls Venedig selber. In Pompeji lernen Sie viel über streunende Hunde. Nein, steigen Sie lieber über Michelangelos Treppe zum Kapitol hinauf, nicken Marc Aurel zu, einem der Unsrigen - heutzutage, zugegeben nur noch in Kopie. Gehen Sie zwischen Palazzo Nuovo und Palazzo Senatorio hindurch zu dem im Winter klammen, sommers staubigen Fleckchen Erde, von dem aus Sie das Forum überblicken. Ich erkläre nichts weiter. Schauen Sie nur hin. Den Rest überlasse ich Ihrem Urteil.

Das Mittelmeer - Blaue Grenze
von
Bertuccio Manini, praefectus archivorum
(August 2004)


Cornelius Acro, geborener Pedant, rechnete nach, wie viele Scheffel Korn pro Jahr eine Legion verschlang, wie viel das Volk von Rom und die hungrigen Mäuler der Küstenmetropolen. Manius Acro, sein Bruder, war Visionär. Er hörte das überdehnte Imperium nach Erlösung schreien und sah die Chance auf ein maritimes Reich.
Dennoch berechneten die Gründer schließlich, dass die landwirtschaftliche Produktion nicht genügte für das Experiment mit dem Polis-Projekt - eine schmerzliche Einsicht. Alexandria, wo die Kaufleute der Gründer saßen, war  bereit, das Reich zu opfern, die Erosion durch Hunger in Kauf zu nehmen, um einen Bund der Handelsstädte zu schmieden. Die römische Fraktion, zuletzt in der Mehrheit, setzte den Primat der Politik durch. Ist nicht in diesem Stückchen Geschichte das meiste bereits angelegt?

Besitzstandswahrer gegen Globalisierer?
Staat gegen Wirtschaft?
Kontinentale gegen Maritime?

Wir nannten die Länder um das Mittelmeer den Erdkreis. Von diesem Kranz der Länder um das Mittelmeer leitet sich unser Name her. Das Mittelmeer hieß bei uns schlicht das mare nostrum, unser Meer.
Wer also könnte tiefer ermessen als wir, wie grundfalsch, ja absurd heute die Blaue Grenze Mittelmeer ist? Ihrer Realität stellen müssen wir uns trotzdem. Und das bedeutet: Wir können sie nicht unkontrolliert öffnen.

In diesem Zusammenhang nur ein ganz kurzes Wort zur Cap Anamur: Auch hoch respektable Menschen verrennen sich gelegentlich in dubiose Projekte. Schule machen wird das nicht, kann es und darf es nicht.

Um die bittere Notwendigkeit der Blauen Grenze zu verstehen, die manch eine humanitäre Erwägung – ehrlich oder bloß ins Mediale gezielt - kurzerhand Lügen straft, müssen wir einen Exkurs in die Demografie unternehmen. Die Wissenschaft von der Bevölkerungsentwicklung kennt drei große Phasen. Unser gesamter Raum, Europa und Russland, aber auch ganz Nordamerika, Japan, Australien und Neuseeland haben inzwischen Phase III erreicht, in der sinkende Geburtenraten bei stabiler Sterberate zum Rückgang des Bevölkerungswachstums, bis hin zum Schrumpfen der Bevölkerung führen. Das heißt: Wenn wir nicht schrumpfen, bleiben wir höchstens gleich viele, wobei aber in jedem Fall der Anteil alter bis greiser Menschen an unserer Bevölkerung wächst.

Die Türkei, Ägypten, Tunesien und Mauretanien befinden sich in Phase II. Hier stabilisiert sich gerade die Sterberate, während die Geburtenrate sinkt – das Wachstum der Bevölkerung bleibt also gleich schnell: auf hohem Niveau.

All unsere anderen Nachbarn jenseits des Mittelmeers befinden sich in Phase I und haben anhaltend hohe Geburtenraten bei sinkender Sterberate und geringer Kindersterblichkeit. Diese Bevölkerungen wachsen immer schneller. In ihrem Süden liegt ein Gürtel schwarzafrikanischer Staaten mit ähnlicher Ausgangslage - nur mit dem Unterschied, dass dort, aufgrund des Entwicklungsgefälles, die Kindersterblichkeit sehr hoch ist, wodurch der Anstieg des Bevölkerungswachstums etwas gebremst wird. Stellen wir zunächst Folgendes klar: Wenn wir dort Entwicklungshilfe leisten - und wir wollen und werden dort Entwicklungshilfe leisten - stimulieren wir das Bevölkerungswachstum und vergrößern so den Migrationsdruck. Das bringt uns zwar in Schwierigkeiten, doch die Alternative, nichts gegen Kindersterblichkeit und Seuchen zu unternehmen, ist unvereinbar mit unseren Wertvorstellungen.

Kurzum: Die Nordanrainer des Mittelmeers sind reich, haben jedoch immer weniger und immer ältere Menschen. Die Südanrainer des Mittelmeers und viele Menschen des Nahen Ostens sind arm, haben jedoch in den nächsten fünfzig Jahren immer mehr und immer jüngere Menschen.

Plausibel, dass die vielen jungen Armen zu den wenigen alten Reichen wollen, nicht wahr? Ganz Afrika, saharische Ölstaaten inklusive, erwirtschaftet ein Bruttosozialprodukt geringer als das spanische. Tendenz: sinkend. Die Menschen Afrikas müssten verrückt sein, um nicht übers Meer zu uns zu wollen.
Was wir wollen, ist nicht die Frage. Wir wollen natürlich allen Bedürftigen helfen. Wir wollen natürlich, dass die ganze Welt in Frieden, Freiheit, Wohlstand lebt. Da dem aber nicht so ist, und wir auch keinen Weg sehen, diesen wünschenswerten Zustand rasch herbeizuführen, bleibt die kummervolle Frage, was wir können.

Ich möchte diese Diskussion ehrlich führen, nicht sonntagsredenhaft, nicht mit dem üblichen Geheuchel. Dass die Weltwirtschaft nicht so stark wächst – und aus ökologischen Gründen auch gar nicht so rasch wachsen darf - dass bald alle Menschen auf unserem westeuropäischen Niveau leben, hat sich inzwischen wohl herumgesprochen. Es geht also ums Teilen, um Transfer, bestenfalls in Gestalt der Hilfe zur Selbsthilfe, schlimmstenfalls in Gestalt von Reissäcken, die aus den Ladeluken tief fliegender Tupolews geschmissen werden, während der lokale Warlord die Maschinen von unten beschießt.

Sind Sie bereit, zu teilen? Wie viel geben Sie her? Die DDR war kein armes Land, trotzdem haben die Westdeutschen inzwischen acht Monate gearbeitet, nur um die staatlichen Transfers von West nach Ost zu finanzieren. Zwei Drittel eines Jahresbruttosozialprodukts sind von West nach Ost geflossen. Dabei reden wir nur von öffentlichen Transfers, noch nicht von privaten Investitionen. Trotzdem geht es der Ex-DDR heute noch immer nicht annähernd so gut, wie dem Westen Deutschlands. Ich erwähne das nur, um klarzustellen, von welcher Dimension des Teilens wir hier sprechen.

Gesetzt den Fall, Sie behalten Ihren Arbeitsplatz. Wohnung, Heizung, Auto, Wasser, Strom werden finanziert wie bisher. Ihre Kleidung tragen Sie in den nächsten drei Jahren nach und nach auf. Ein Mensch kann sehr gut und gesund von fünf Euro am Tag essen. Wären Sie bereit, auf den Rest Ihres Gehalts zu verzichten, um unsere afrikanischen Nachbarn zu entwickeln, bis, sagen wir, auf das Niveau von Polen? Das hieße: keine CD, kein Buch, kein Kino, Theater, Urlaub, kein Restaurant- oder Kneipenbesuch, keine Wohnungsrenovierung, keine neuen Klamotten, kein neues Notebook, kein Monatsbeitrag für das Fitnesscenter, kein Joint, keine gute Flasche Wein ... die Liste des Verzichts wäre endlos. Was ist? Sind Sie dazu bereit? Nein.

Also dann teilen wir aus öffentlicher Hand. In Deutschland beispielsweise verteilt der Staat ohnehin gut fünfzig Prozent des Bruttosozialprodukts. Geben Sie davon was ab? Die Bergbausubventionen werden gestrichen, die Eigenheimzulage wird gestrichen, die Pendlerpauschale wird gestrichen, das Stadttheater schließt, die Stadtbibliothek sowieso, das Fußballstadion kann wegen Baufälligkeit nicht länger bespielt werden – das eingesparte Geld fließt nach Afrika? Leider ist auch die Grundschule baufällig und wird geschlossen. Ihre Kinder müssen künftig jeden Morgen zwanzig Kilometer mit dem Bus fahren. Bereit zu teilen? Nein? Aber in Afrika gibt es doch Gebiete, wo der Weg zur nächsten Schule locker zehnmal so weit ist – ohne Busverkehr. Ach, Sie sind trotzdem nicht bereit, zu teilen? Das dachte ich mir.

Wie wäre es dann mit läppischen zehn Prozent Ihres Einkommens? Nein.
Oder, wie noble Staaten sich verpflichtet haben 0,7 Prozent Ihres Einkommens? Nein.
Sind Sie denn, vorausgesetzt, Sie wohnen nicht in Dänemark, Niederlande, Schweden, Norwegen oder Luxemburg – die leisten das nämlich – wenigstens dazu bereit, dass Ihr Land besagte 0,7 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe ausgibt? Ich warne Sie: Das bedeutet entweder Steuererhöhung, Neuverschuldung oder Einsparung, die weh tut! Aha - auch nicht.

Aber dann kaufen Sie sicher nur fair gehandelten Kaffee. Sie sind auch bereit, höhere Fleischpreise zu bezahlen, damit Futtermittelimporte aus Afrika fair bezahlt werden. Beim nächsten Auto sind rund 800 Euro mehr fällig - für aus Afrika importierte Metalle. Tragen Sie einen Brilli im Ohr oder im Bauchnabel? Verdreifachen Sie den Preis für den Blutdiamanten aus dem Kongo! Und zahlen Sie wenigstens faire Preise für westafrikanisches Öl! 

Nein? Alles nicht? Dann tun Sie mir den Gefallen, und behalten Sie Ihre Meinung für sich, wenn die Gründer Entscheidungen treffen für Menschen, wie sie nun einmal sind: hartherzig, egoistisch, habsüchtig.

Sie wollen nicht verzichten, um die Ersparnis nach draußen zu geben. Möchten Sie also die Armen der Welt hereinlassen, damit sie sich in Westeuropa nehmen, was sie brauchen? Ja, ich glaube, hier stimmen Sie tatsächlich leichtfertig zu. Aber Sie übersehen dabei etwas: Die Gesellschaften des Westens sind nur bedingt aufnahmefähig. Übertragen Sie die Einwohnerstruktur von Marseille nach Budapest – und sie haben einen Volksaufstand. Übertragen Sie die Einwohnerstruktur von Paris nach Dresden – und die Skinheads haben tausendfach Zulauf. Übertragen Sie die Einwohnerstruktur ... ach was, ich denke, Sie haben verstanden. Schließlich sind Sie intelligent. Vergessen Sie aber nicht jene Millionen Menschen, die ein bisschen weniger intelligent sind als Sie, und bei denen unkontrollierte Einwanderung, die als bedrohlich empfundene Ankunft des Fremden, den latenten Faschismus herauskitzelt! Diese Menschen können Sie nicht alle überzeugen, und deshalb muss, wer verantwortungsbewusst handelt, mit ihrem Wahlverhalten rechnen. Kurzum: Unkontrollierte Einwanderung erzeugt massenhaft Rechtsextremismus in Westeuropa. Wollen Sie nach Russland schauen? Lieber nicht! Dort gilt selbstverständlich jeder unerwischte Ladendieb von vornherein als tschetschenischer Terrorist.

Also, wie weit sind wir nun? Sie wollen nicht so viel teilen, wie nötig wäre, um Afrika auf westliches Niveau zu helfen. Sie haben inzwischen auch eingesehen, dass Europa an unkontrollierter Zuwanderung zerbräche. Warum schimpfen Sie dann auf die Festung Europa? Was haben Sie gegen Schengenraum und Blaue Grenze?

Die Grenze soll doch nicht undurchlässig sein. Nur Kontrolle haben müssen wir, wer hineinkommt und wer draußen bleibt. So einfach und brutal wirken Habgier und Sicherheitsbedürfnisse sich aus: Wir müssen die Kontrolle haben, darüber, wer zu uns kommt, weil sonst Ihr Gartenzwerg angepinkelt wird, und Sie sich aus Protest einer Bürgerwehr anschließen, die, zusammen mit den Nachbarbürgerwehren, im nächsten Wahlkampf geschlossen NPD wählt. 

Fangen wir also an, zu kontrollieren:

Von Hinrichtung, Folter, ungerechter Haft oder Gewalt bedrohte Menschen – kurzum Asylanten – sind uns willkommen. Da fangen wir gar nicht erst an, zu rechnen, was das kostet. Einverstanden? Gut. Wenn nicht, dann nicht, aber dann kommen Sie den Gründern besser nie in die Quere!

Hochbegabte Einwanderer sind uns willkommen. Wollen wir unseren Wohlstand erhalten, brauchen wir junge Einwanderer, die leistungsfähig sind und bereit, sich zu integrieren. Das ist zugegebenermaßen egoistisch – doch wie sollen wir überhaupt Transfers in arme Länder finanzieren, wenn wir nicht zu allererst unseren eigenen Wohlstand sichern?

Ich fürchte jedoch, wir können nicht alle Armen der Welt aufnehmen.
In diesem Moment sind immer noch eine Million muslimische sudanesische Schwarze vertrieben, wegen Öl, wegen Separatismus und aus rassistischen Gründen von muslimischen sudanesischen Arabern. Die meisten Flüchtlinge sind vom Hunger bedroht und viele werden sterben. Wo sollen diese Menschen hin, machen Sie einen Vorschlag! Die muslimische Welt ist vollauf damit beschäftigt den Westen zu hassen - um ihren Brüdern zu helfen fehlen die Zeit und das Geld. Helfen muss also der verhaßte Westen. Zu uns holen können wir die die Menschen nicht. Wir müssten dort helfen, wo das Elend entsteht – konsequenterweise müssten wir damit anfangen, drei Viertel der sudanesischen Regierung zu erschießen. Wollen Sie das? Wie sonst sollen wir Kontrolle über die fraglichen Territorien erzwingen, wenn keine zivilisierte Sanktion fruchtet? Mit fünfzigtausend, hunderttausend, hundertfünfzigtausend westlichen Hightech-Soldaten, deren Einsatz täglich soviel kostet, wie Wasser, Getreide, Medizin und Saatgut, um die Flüchtlinge ein Jahr lang durchzubringen? Das Geschrei geht doch schon los, wenn jene französischen Soldaten, die tatsächlich etwas Hilfe leisten, in Notwehr auf die barbarischen Reitermilizen feuern.
Warum ich soviel rechne, anstatt einfach Hilfe zu organisieren? Weil die Helfer bedroht sind, nur allzu oft vom Tod. Hier haben wir die Situation, wo internationale Besatzungen aus den Ladeluken gemieteter russischer oder ukrainischer Militärflugzeuge Hilfsgüter abwerfen, ohne zu landen – nicht weil keine Piste da wäre, sondern weil sie von unten beschossen werden. Ich überlasse Ihrer Fantasie, auszumalen, wie sich die Hungernden anschließend balgen um die Beute – unter demselben Feuer.

Geben wir doch endlich zu, dass wir in keiner Hinsicht genug Opferbereitschaft aufbringen, um wirklich durchschlagend zu helfen. Geben wir zu, dass immer erst dann, wenn die Fernsehbilder der Katastrophe allzu beschämend werden, ein wenig Hilfe in Gang kommt. Und geben wir zu, dass zwischen der Katastrophe und uns eine Grenze erforderlich ist - oder zumindest die Illusion einer solchen.
Mancher schlüpft trotzdem durch und landet bei uns als Terrorist, als so genanntes Ankerkind, mit dessen Hilfe ganze Familien nachgeholt werden, als Drogen-, Auto- oder Menschenhändler, billig auszubeutende Arbeitskraft, vielfacher Sozialhilfebetrüger - das ärgert Sie und uns, so richtig schlimm ist es selten. Schlimm wäre es, die Blaue Grenze fiele, was aber ausgeschlossen ist, denn wir müssen die Einwanderung, die wir brauchen, kontrollieren, damit sie nicht unsere Gesellschaften zerstört.

Und so bleibt es dann mir überlassen - erinnern Sie sich, ich hatte im Juli den Blick auf den Triumphbogen des Septimius Severus gelenkt, eines römischen Kaisers, der aus Nordafrika stammte - nach eintausenddreihundert Jahren Krieg dem Halbmondrat zu versichern: Du hast gewonnen. Der Orbis ist zerbrochen. Afrika, Naher Osten und Europa sind gespalten - religiös, politisch, wirtschaftlich und menschlich. Bist du jetzt froh?

Die Gründer und der Elfenbeinrat
von
Benjamin Manners, praefectus extra
(August 2004)

Mein verehrter Kollege Manini hat oben dargelegt, dass ganz Afrikas Bruttosozialprodukt nicht an das spanische heranreicht. Noch schlimmer steht es um das subsaharische Afrika, von dem wir hier reden, also Afrika ohne die nördlichen Ölstaaten, kurz, den Einflussbereich unserer Brüder vom Elfenbeinrat. Diese Weltregion mit ihren 720 Millionen Menschen erreicht kaum die Wirtschaftsleistung Belgiens. Entsprechend gering sind die Mittel unseres Bruderrates, und proportional zu seinen geringen Mitteln ist sein Einfluss auf das Schicksal seines Raumes. Eine euphemistische Formulierung - ich will will mich aber vor angemessener Deutlichkeit nicht drücken: Es herrscht blutiges, krankes, armes Chaos.
Etwa zwei Milliarden Euro erlösen die Brüder aus eigener Anlagestrategie, circa eine Milliarde fließt ihnen aus Beiträgen zu, die Korruption zu nennen, sehr unfreundlich wäre. Je eine Milliarde Euro steuern jährlich die Halbmondler bei, die Neuweltler und wir, die Gründer. Es gibt ein stillschweigendes Abkommen, dass die Bruderräte sich beim Sponsoring von CEB nicht gegenseitig überbieten. Dennoch ist nicht mit letzter Gewissheit auszumachen, von wem CEB über verdeckte Kanäle die meiste Hilfe bezieht, denn der Elfenbeinrat hat es seit 1918 in dieser verdeckten Finanzierung zu einer gewissen Meisterschaft gebracht.

Das spiegelt sich wider in der für Europa profitablen Gemengelage, indem nämlich die britisch-amerikanische Allianz in Afrika halbwegs ausbalanciert wird von Frankreich, sodass eine Zwickmühle besteht. Will sagen: Unser Raum gewinnt immer, entweder im Bündnis mit Amerika, oder dort, wo wir mit den Resten alter französischer Kolonialmacht operieren, beziehungsweise mit den Erfolgen französischer Sprach- und Kulturpolitik in Afrika. Das ist, wenn man im komfortablen Europa lebt, sehr leicht dahingesagt. Die blutige afrikanische Praxis artet gelegentlich so aus, wie in Kongo-Brazzaville, wo Denis Sassou Nguesso an die Macht zurückgeputscht wurde, weil sein Vorgänger Lissouba einen dreihundert Millionen Dollar schweren Ölvertrag mit Occidental Petrol geschlossen hatte. Treibende Kraft hinter dem Machtwechsel war Elf. Der französische Konzern spielt in Kongo-Brazzaville und Gabun eine beherrschende Rolle, besonders, seitdem er mit dem Erdölförderland Angola kooperiert. Aber das alles klingt immer noch relativ steril. Die schmutzige Realität des Komplotts waren weit mehr als hunderttausend Tote, Opfer der Ninja- und Cobra-Milizen. Inzwischen wurde in Brüssel gegen Nguesso Anklage erhoben wegen Verbrechen gegen die Menschheit. Die Hunderttausend macht das nicht wieder lebendig. Und selbstverständlich kommt Elf ungeschoren davon.
Über Zaire, wo nach 1997 knapp fünf Millionen Menschen an Krieg und Hunger gestorben sind, während sich drei Millionen auf der Flucht befinden, wollen wir gar nicht erst reden. Nur am Rande sei erwähnt, dass auf Geheiß der USA Uganda und Ruanda in diesem Bürgerkrieg die Strippen zogen und ziehen. Auf der anderen Seite, auf der des Präsidenten, wirken Angola und Simbabwe (und 20.000 Mann ruandischer Hutu-Milizen, die sich 1994 am Völkermord an den Tutsi beteiligt hatten und deshalb nicht in ihre Heimat zurückkönnen). Treibmittel des Konflikts sind: Gold, Diamanten, im Falle Ugandas Lizenzen zur Abholzung des Regenwalds, für andere wiederum Coltan, Kupfer, Kobalt, Mangan, Blei, Zink, Uran und - ausnahmsweise ganz wenig - Öl. Dass Öl hier eine vernachlässigenswerte Größe darstellt, liegt daran, dass die Demokratische Republik Kongo ein riesiges Binnenland ist, mit nur einem winzigen Streifen Atlantikküste. Und weil das westafrikanische Öl überwiegend vom Meeresboden gefördert wird, ergibt sich diese Bilanz.
Oder Nigeria – der Koloss mit 130 Millionen Menschen, in dem sich Europäer und Amerikaner um Öl streiten, in dem sich fünfzig Prozent Christen mit vierzig Prozent Muslimen streiten und darüber und darunter und dazwischen die großen Stämme Haussa, Yoruba, Ibo und Fulani – nicht zu reden von jenen kleineren Stämmen, die noch einmal rund dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Wer dieses Land entwickeln und stabilisieren könnte, würde einen entscheidenden Beitrag zur Rettung ganz Afrikas leisten. Wir können es nicht. Auch nicht in Kenia oder Tansania.
Ein entschlossener Elfenbeinrat würde hier wie im Kongo seine Kontakte zu den vielen hundert betroffenen Stämmen nutzen, um infra- und transstaatliche Übereinkünfte zu erzielen über die friedliche Erschließung von Bodenschätzen und einen halbwegs gerechten Verteilerschlüssel für die Erlöse. Aber der Elfenbeinrat ist nicht entschlossen. Und wir, die wir durchaus entschlossen wären, ebenso wie CNM, verfügen ebenso wenig wie CNM über geeignete Kontakte. Also gibt es keinen Frieden. Also fließen viel zu wenig Investitionen. Also verpufft die Entwicklungshilfe zumeist wirkungslos und also bleibt Afrika vielfach geprägt von barbarischen Kriegsökonomien. Ein furchtbarer Sumpf, in dem man sich zwangsläufig dreckig macht, siehe Elf. Aber es wäre verlogen, zu behaupten, wir wollten uns heraushalten aus diesem Sumpf. Wir können uns nicht heraushalten. Es wäre wünschenswert, aber es geht nicht. Dafür haben wir zu viele Interessen auf dem afrikanischen Kontinent.
Natürlich sind wir interessiert an der Sicherheitslage am Horn von Afrika. Leidet sie allzu sehr, wird der Suezkanal wertlos. Wir müssen also, selbstverständlich im Verbund mit den USA, die Meerenge freihalten für Öltanker und dicht machen für Al Quaidas Waffen- und Menschenschmuggel. Natürlich sind wir interessiert am westafrikanischen und sudanesischen Öl oder an Industriediamanten und Coltan aus dem Kongo. Wir sind auch, ganz allgemein, daran interessiert, keinen weiteren Völkermord in Afrika mitzuerleben und die Pandemie Aids einzudämmen. Wir unterstützen die Initiative Anans, Carters und Clintons. Wir üben, wo immer möglich, Druck auf die Pharmaindustrie aus, preiswerte Aids-Medikamente für den afrikanischen Markt bereitzustellen. Aber wenn der Papst, fundamentalistische evangelische Sekten und islamische Mullahs einhellig den Gebrauch von Kondomen verteufeln, sind wir dagegen relativ machtlos, ebenso wie gegen den Aberglauben, Sex mit einer Jungfrau schütze vor Aids oder gegen das verbreitete Unwesen der Fetischiseure.
Des Menschen Können bleibt hinter dem Wollen zurück – warum sollte Afrika da eine Ausnahme machen?
Wir wollen, dass Südafrika zum Modell wird. Wir wollen verhindern, dass es implodiert in einer Nacht der langen Messer, in der die Schwarzen Rache üben für die Apartheid. Begäbe sich Südafrika auf jenen Weg, den Simbabwe längst beschreitet – es wäre wahrscheinlich das Ende jeder nicht staatlich geschützten Auslandsinvestition auf dem Kontinent. Gut – legen wir das Wort staatlich nicht auf die Goldwaage (was im Zusammenhang mit Südafrika kein Bonmot sein soll), sondern akzeptieren Existenz und Notwendigkeit von Söldnern in einem Investitionsumfeld, in dem auf rechtsstaatlichen Schutz kein Verlass ist. Rechtsstaat? Was ist ein afrikanischer Rechtsstaat – abgesehen von den Ansätzen, die in Südafrika zu beobachten sind? Aber auch dort gibt es allenthalben jene Parallelstrukturen, die insgesamt ganz Afrika schwer organisierbar machen. Da gibt es oft die Stammeszugehörigkeit, die sehr viel ernster genommen wird als das Bürgerliche Gesetzbuch. Es gibt die Herrschaft alter ANC-Barone, teilweise in symbiotischer Verbindung mit dem organisierten schwarzen Verbrechen. Ähnliche Strukturen gibt es aufseiten der Weißen. Und es ist hier oft, wie überall in Afrika, so, dass jeder noch so kleine Amtsinhaber von seiner Familie ausgesogen wird, das Gehalt teilen muss und den amtlichen Einfluss im Familieninteresse mißbrauchen soll. Wir wissen nicht, wie Afrika sich ohne das schuldhafte Eingreifen der europäischen Kolonialmächte entwickelt hätte. Doch Zustand und Orientierung staatlicher Autorität im heutigen Afrika sind vergleichbar europäischen Lehensstrukturen aus dem Mittelalter. Hier wie dort, damals wie heute: failed states. Rom war zugrunde gegangen und ging auf im Lehenschaos. Ebenso gehen die künstlichen, ohne Rücksicht auf ethnische Zugehörigkeit gebildeten, Staaten Afrikas zugrunde und lösen sich auf. Vergleichbar ist auch die Rolle des Aberglaubens. Da uns eurozentrische Überheblichkeit gegenüber Afrikas metaphysischen Hervorbringungen schlecht zu Gesicht stünde, fassen wir an die eigene Nase und fragen: Ist Afrika damit gedient, dass die verschiedenen christlichen Konfessionen sich auf dem Missionswettlauf befinden, gegeneinander und alle zusammen gegen den Islam und die Naturreligionen? Muss man Seelen erobern? Kann man nicht, zumal wo es um Krieg und Frieden geht, jedem Menschen seine Religion lassen? Es ist doch absolut überflüssig, zu Armut, Krankheit, Bürgerkrieg und Krieg auch noch religiöse Gräben aufzuwerfen zwischen den Ländern und quer hindurch. Auf den Islam und die fundamentalistischen Sektierer aus Amerikas Bible Belt, die in Afrika ganze Missionsfeldzüge sponsern, haben wir kaum Einfluss. Doch bei der nächsten Papstwahl – da passen wir auf.
Wir können Afrikas Probleme nicht lösen - das können nur die Afrikaner selber. Wir helfen, wenn auch objektiv sicher zu wenig, so doch subjektiv, so gut wie wir meinen zu können und es mit unseren Interessen vereinbar ist. Die Brüder von CEB bekommen Geld von uns. Wir beteiligen uns darüber hinaus über Tarnorganisationen direkt an manchem Entwicklungshilfeprojekt. In Westafrika bekämpfen wir schwerpunktmäßig die Aktivitäten jener libanesischen Diamantenhändler und -schmuggler, die direkt oder über Schutzgelder, die sie im Libanon zahlen, an der Finanzierung von Hisbollah beteiligt sind. Und Südafrika weiß jetzt schon, dass es sich auf unsere Hilfe verlassen kann bei der Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 2010. Von ganz Afrika - jedenfalls dort, wo die Menschen nicht in akuter Todesangst leben - wird diese Weltmeisterschaft als wichtiges Signal aufgefasst. Und das Land selber, Südafrika, halten wir für den Schlüssel zur Stabilisierung und Entwicklung des Kontinents. Es ist wirtschaftlich wie militärisch vergleichsweise stark und entwickelt. Wenn Südafrika die Herausforderung dieser Weltmeisterschaft meistert, wenn es sich danach kontinuierlich zum Positiven hin entwickelt, dann hat der gesamte Kontinent eine reelle Chance. Scheitert jedoch Südafrika - könnte der ganze Kontinent südlich der Sahara verloren gehen, so deutlich muss man das sagen. Ob dann das Mittelmeer breit und tief genug ist, um die Wohlstandsinsel Europa vor Abermillionen verzweifelter Menschen zu schützen, die etwas Besseres als den Tod überall finden - bleibt abzuwarten.

Die Iberische Halbinsel
von
Juan Rodil, praefectus magistrorum
(August 2004)

Ja doch, Barroso! Lieber Bertuccio, sehr geehrter Herausgeber, glauben Sie mir: So schlimm ist der Mann gar nicht. Mit welchen Erwartungen beladen trat einst Romano Prodi in Brüssel an – und wie blass geriet dann seine Präsidentschaft, womit ich nichts gesagt haben will über seine Zeit als hervorragender italienischer Ministerpräsident! Man soll dem Herrn Barroso vielleicht erst einmal Zeit lassen, sein Amt im November überhaupt anzutreten, bevor man über ihn herfällt. Bleibt Bush Präsident, und es entsteht Klärungsbedarf zwischen EU und USA – dann hat die EU mit dem Gastgeber des fatalen Azorengipfels, der sich im letzten Augenblick aufs Foto drängelte, immerhin einen Stein im Brett. Übertreibt Barroso es mit der Amerikanähe, dann steht halt ein Verfassungskonflikt zwischen Rat und Kommission an. Bis dahin lassen wir den Dingen doch Zeit, sich zu entwickeln!

Barrosos Land, Portugal, hat viel geprägt von dem, was heute Weltgeschichte heißt. Eigentlich setzte diese Prägung mit den Templern ein. Deren portugiesische Ritterschaft ging, nachdem der Orden vom Papst aufgelöst war, über in den Christusorden, dessen beträchtliche Geldmittel ab 1420 von Heinrich, dem Infanten Portugals, verwaltet und in die systematische Erkundung der afrikanischen Westküste gelenkt wurden.
Heinrich, schon bald mit dem Beinamen der Seefahrer geehrt, organisiert die Expeditionen, die die Portugiesen 1444 bis zur Mündung des Senegal führen. Als er, inzwischen Hochmeister des Christusordens und somit ausgeschlossen von der Thronfolge, 1460 stirbt, leisten  sich reiche Haushalte in Lissabon bereits schwarze Sklaven als Liebhaber oder modische Extravaganz. So ambivalent ist historische Leistung. Dennoch bleibt: Portugal hat für Europa den vom Islam unterbrochenen direkten Kontakt zum afrikanischen Kontinent wieder hergestellt - zugegebenermaßen mit den meisten Vorteilen aufseiten der Europäer und den meisten Nachteilen aufseiten Afrikas.
Auch die Geschichte der Gründer hat von jener frühen portugiesischen Expansion profitiert, denn ohne das portugiesisch besetzte Macao in China wären nicht jene Bande gewachsen, die im Austauschvertrag von 1975 ausgerechnet José Sampaio als unseren Vertreter zum Orakelrat führte - der Beginn einer großartigen Erfolgsstory. (Bezüglich Macaos und des Orakelrats revidiere ich ausdrücklich meinen Freund und successor Bucholtz, der in seiner Notiz zu Indien noch Ende März 2004 die portugiesische Besetzung Goas zum Anlass des Legatenkriegs zwischen COT und COR erklärte. Inzwischen sind wir, dank Hinweisen aus China, im Großen Archiv auf neue Quellen gestoßen, die Vorgeschichte jenes Konfliktes betreffend.)

Dennoch hat Portugal für seine früh schon expansive Politik zuletzt einen hohen Preis bezahlt - in den Kolonialkriegen um Angola und Mosambik, in die eine rechte Diktatur sich verkroch, weil sie nicht aufgeben konnte, ohne zusammenzubrechen - und auch, weil ihre Entwicklungsmöglichkeiten abseits des Atlantiks überall nur auf Spanien stießen. Das heutige Portugal, hervorgegangen aus dem dreißigjährigen Abschliff der Nelkenrevolution, tritt gegenüber der EU mit erstaunlichem Selbstbewusstsein auf, wenn man bedenkt, wie sehr die EU das Land gefördert und zu seiner demokratischen wie wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen hat. 2003, schon unter der konservativen Regierung Barroso, kündigte Portugal das europäische A400M-Projekt, angeblich, weil amerikanische Militärtransporter bei vergleichbarer Leistung nur etwa halb so viel kosteten - eine Entscheidung, deren mediales Echo wir damals weitgehend unterdrücken konnten, um deutschen und französischen Steuerzahlern kurz vor der EU-Osterweiterung nicht noch den letzten Nerv zu rauben. Aus heutiger Sicht ein Fehler - und unsere Beschwichtigungstaktik ließ sich nicht einmal, wie im Falle Polens, durch verspätete nationale Reflexe rechtfertigen, auf die Rücksicht zu nehmen wäre.
Nun ist die Fußball-Europameisterschaft vorbei. Die Stagnation der portugiesischen Wirtschaft, der plötzlich der Motor abhanden kommt, wird deutlich sichtbar. Die Wälder brennen, die Brücken stürzen ein – aber Herr Barroso hat sich rechtzeitig nach Brüssel abgesetzt. Das ist suboptimal gelaufen.

Hinwiederum: Personal kommt, Personal geht, was bleibt sind die Strukturen, die sich in dreißig Jahren verfestigt haben und sich weiter verfestigen - gemeinsame Währung und strukturelle Kriegsführungsunfähigkeit.

In ähnlichem Maß gilt das für Spanien, ob nun unter der einstigen Regierung Aznar oder jetzt, unter Zapatero. Es ist vielleicht ganz natürlich, dass der Wunsch nach vertiefter europäischer Einigung am stärksten ausgeprägt ist bei jenen Ländern, die einerseits dieselbe karolingische Vergangenheit teilen, andererseits jedoch in zwei Weltkriegen gegeneinander standen und - das ist wichtig - gemeinsame Landgrenzen haben. Auf der einen Seite ist der Ärmelkanal - also das Fehlen der Landgrenze - sicherlich Hauptgrund dafür, dass Großbritannien sich jeglicher EU-Vertiefung zu entziehen sucht. Auf der anderen Seite fehlt dem geschundenen Polen die Tiefendimension historischer Gemeinsamkeit, rund ein halbes Jahrtausend und noch mehr, wenn wir die römische Epoche hinzurechnen. Auf der dritten Seite, Spanien, wo es dereinst christliche Basken waren, keineswegs die Mauren, in deren Hinterhalt Roland mit der Nachhut Karls des Großen zugrunde ging, da liegt die Sache ähnlich wie in Polen.
Auch diese Strukturen sind unglaublich zäh und wirkungsmächtig. Als am 19.04.2004 der neue spanische Ministerpräsident Zapatero den Abzug spanischer Truppen aus dem Irak ankündigte, dachte man im karolingischen Europa (nota bene: minus Italien), wunders, was für eine Heimkehr der Spanier nun zu feiern wäre. Hatten nicht insbesondere die deutschen Parteien den spanischen Parteien nach dem Sturz des Francoregimes entscheidende Aufbauhilfe geleistet? War nicht viel Geld geflossen und noch mehr persönlicher Einsatz? War nicht den deutschen Parteiführern und Bundeskanzlern von Brandt bis Kohl Felipe Gonzáles Marquez stets ein guter Freund und treuer Bundesgenosse gewesen? Aber natürlich gibt es keine Dankbarkeit in der Politik, nur Interessen zwischen den Staaten, den kältesten aller Ungeheuer. Auch die Träumer in der deutschen Regierung dürften das inzwischen begriffen haben, spätestens, als die spanische Zeitung El País wenige Wochen nach Zapateros Amtsantritt in Jubel ausbrach, ob des vermeintlichen Endes der deutsch-französischen Koalition, ausgerufen von Chiracs innerparteilichem Widerpart, dem französische Wirtschaftsminister Sarkozy.
Tatsächlich sieht Sarkozy einfach ein, dass Deutschland, Frankreich und Benelux mittlerweile zu schwach sind, um die Richtung Europas zu bestimmen. Zumindest Italien muss dazukommen. Und Sarkozy sieht in der europäischen Führungsgruppe außerdem noch Polen, Spanien und Großbritannien. Ob innerhalb dieser großen Gruppe eine Strategie zuverlässig verabredet werden kann, ohne Störfeuer aus Washington, ohne polnisches Antirussentum, ganz zu schweigen von den kurzen Entscheidungszyklen, die durch asynchrone Wahlen und dauernde Personalwechsel irgendwo an der Spitze bedingt sind – sei dahingestellt. Dass das Duo Frankreich-Deutschland mittlerweile zu schwach ist, pfeifen jedoch die Spatzen von den Dächern.
Welche Spanien gibt es? Ich kenne ein römisches Spanien. Ein germanisches aus der Völkerwanderung. Ein Spanien unter der maurischen Karbatsche - und gleichzeitig befruchtet von der damals weit überlegenen islamischen Hochkultur. Ich kenne ein trotziges, stolzes, grausames Spanien der Wiedereroberung des eigenen Landes, in der Reconquista. Familienbedingt kenne ich das Spanien der brutalen Moriskenverfolgung und der inneren Emigration Gebliebener. Ich kenne das herrische Spanien der Conquistadoren, das aus Indien Gold holen will, nicht nur, um sich zu bereichern, sondern auch, um den unentwegt tobenden spanisch-islamischen Weltkrieg zu finanzieren. Ich kenne das Reich Karls V., in dem die Sonne niemals untergeht. Ich kenne das dumpfe, fanatische Spanien der Inquisition und der Unterdrückung der Niederlande. Ich kenne ein dekadentes Spanien. Dann das Spanien der Epoche Goya. Die lange Agonie vor der Republik. Erste Republik, Restauration, Zweite Republik, Francofaschismus - und heute meine konstitutionelle Monarchie, deren Monarch sich seinen Thron verdiente, als er putschende Offiziere in die Kasernen zurückbefahl.
Ich liebe den Prado und Barcelona. Ich liebe ein Dorf in Andalusien und ich bin glücklich, dass unter Zapatero nicht länger der Ebro umgeleitet werden soll, um die entsetzliche Wasserknappheit meiner Heimat zu beheben - nein, wir setzen jetzt auf die neue Generation von Meerwasserentsalzungsanlagen, die erstaunliche Erträge zu erstaunlichen Preisen liefert. Fünfzehn, höchstens achtzehn sollten genügen, um Andalusien vor dem kompletten Ausdörren zu bewahren. Ich kenne aber auch die angeschwemmten schwarzen Wasserleichen rechts und links des Felsens von Gibraltar. Wegen des Felsens wiederum, habe ich, wie jeder andere Spanier, meine Vorbehalte gegen Großbritannien, auch wenn ich als praefect der Gründer zugebe, dass diese geostrategisch und weltwirtschaftlich bedeutsame Wasserstraße derzeit in guten Händen ist. Und wenn ich über heute hinaussehe, dann sehe ich ein wirtschaftlich aufstrebendes Land mit alten Bindungen nach Lateinamerika und tiefen strukturellen Gemeinsamkeiten mit dem übrigen EU-Raum, selbst wenn konservative Spanier auf der Straße hieran vielleicht allerlei zu mäkeln haben und lieber weltmächtigen Träumen aus der Vergangenheit nachhängen. Ich sehe ein modernes Thronfolgerpaar und einen Kronprinzen, der für seine Liebe zu einer geschiedenen Frau die Krone aufs Spiel gesetzt hat. Das ist für Spanien unendlich viel. Mein Land ist auf einem guten Weg. Ob wir die Portugiesen voranzerren Richtung Europa oder ob sie eher uns - auf diesen Wettbewerb lassen wir uns gern ein.
Die Politik der Gründer zielt auf weitgehende Autonomie der Regionen in Europa. Autonomie – nicht Separatismus. Insofern schlagen wir ETA, wo immer wir sie treffen können, gern auch final, denn Spanien ist nicht mehr das Land, in dem die Basken so unterdrückt wären, dass sie ihre Freiheit mit Bombenattentaten erkämpfen müssten.
Die Politik der Gründer zielt auf eine kontrollierte Blaue Grenze – einschließlich der langen Küsten Spaniens.
Die Politik der Gründer zielt, wie immer und überall, auf Vertiefung der europäischen Integration.
Die Politik der Gründer zielt darauf, Ceuta und Melilla zu erhalten. Nennt es, wenn ihr wollt, Kolonialismus.
Und zuguterletzt zielt die Politik der Gründer darauf, so wie wir Portugals Bande mit Brasilien nutzbar machen wollen, auch Spaniens sprachliche, kulturelle und wirtschaftliche Bande mit Asien und Lateinamerika fruchtbar zu machen – zum Nutzen aller Kontinente. Und zur Ausbalancierung der US-Hegemonie.

Die Gründer und der Neue Rat
von
Benjamin Manners, praefectus extra
(August 2004)

Hübsch euphemistisch, Herr Kollege. Wer hat denn Simon Bolivar im Freiheitskampf unterstützt – wenn nicht das Vereinigte Königreich? Wer hat denn auf den Weltmeeren Krieg geführt gegen die Sklaverei und in Amerika sogar einen Bürgerkrieg – wenn nicht die angelsächsische Welt? Das war doch nicht Ihr hochgepriesenes karolingisches Kerneuropa, geschweige denn seine iberischen Annexe! Natürlich bleibt der Widerspruch, dass dieselbe Gesellschaft, die den Handel mit schwarzen Menschen unterband, es völlig normal fand, wenn achtjährige walisische Kinder sich in Kohlegruben für Pennies zu Tode schufteten. Der so genannte Fortschritt ist ein Hinkender mit einem Auge.
Als CME und CIS, vermittelt von unserem successor Bucholtz, auf der Millenniumskonferenz 2000 fusionierten zum Consilium Novum (CNO), da keimten zarte Hoffnungen, dass Amerikas Hinterhof sich nach den Jahrzehnten amerikahöriger Diktaturen ein wenig emanzipieren könnte. Inzwischen haben Länder wie Chile und Mexiko der amerikanischen Pression anlässlich des Irakkriegs widerstanden. Aber das Handelsvolumen mit den USA macht bei einzelnen lateinamerikanischen Ländern neun Zehntel des gesamten Handels aus – und durchschnittlich rund achtzig Prozent. Die Bindungen sind unauflöslich, die Abhängigkeiten einseitig, die Unbeliebtheit der USA dementsprechend. Trotzdem droht auf kurze Sicht ein Zustand, in dem ganz Lateinamerika – mit Ausnahme des überall ausgeschlossenen Kuba – fast nur noch mit den USA und Kanada Handel treibt und teilweise sogar den Dollar als offizielles Zahlungsmittel übernimmt. Dass so die Abhängigkeit der rund dreißig lateinamerikanischen und karibischen Länder von der US-Konjunktur total wird, liegt auf der Hand. Und nicht nur von der US-Konjunktur, auch militärisch haben die USA ihren Hinterhof fest im Griff – politisch allerdings weniger, wie Argentinien und Venezuela zeigen.
Was wollen wir vom Neuen Rat? Er soll mit den Amerikanern und uns zusammen gegen die Drogenmafia vorgehen. Wo er uns um Hilfe bittet gegen Guerillas und Terroristen – haben wir stets ein offenes Ohr. Wir möchten, dass er hilft, die Abwicklung des kubanischen Regimes friedlich und humanitär verträglich zu gestalten, notfalls im Widerspruch zur rigiden US-Politik. Der Panamakanal muss offen bleiben. Wir erwarten, dass unsere Territorien in Lateinamerika, vornehmlich Französisch-Guyana mit den Basen des Europäischen Raumfahrtprogramms, aber auch die französischen, britischen und niederländischen Inseln in der Karibik, unangetastet bleiben. Selbstverständlich fördern wir die spanischen und portugiesischen Interessen. Überall, wo Lateinamerika sich aus eigener Kraft ein wenig vom Hegemon löst und in der Erinnerung an alte politische und kulturelle Bande nach Europa wendet, wird es offene Türen finden. Und der Neue Rat darf unserer Unterstützung gewiss sein,  wenn es um einen lateinamerikanischen Sitz im UN-Sicherheitsrat geht, unabhängig davon, ob es Brasilien wird oder ob dieser Sitz rotiert.
So knapp kann man die Gründer-Strategie gegenüber einem Bruderrat abhandeln, vorausgesetzt, es handelt sich, wie hier, um eine Region, wo wir nicht viel zu melden haben.

Rheinabwärts
von
Dimitrij Samjatin, praefectus strategus
(September 2004)

Die Kolonie von Schwänen vor dem Wollmatinger Ried, wenn man über den Seerhein fährt und hinten weit, zwischen Festland und Reichenau, die Pappelallee liegt – davor weiße Gefiedertüpfel.
Oder Schaffhausen: Zwei schweizer Lausbuben haben sich durch die Absperrung gezwängt und schmeißen Kiesel nach dem Schwan, der, anstatt sich zu wehren, gelangweilt davonzieht in die Gischt des Wasserfalls. (Wunderschön anzusehen, taugt aber nicht zum Modell!)
Mörikes Zeilen: „Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich, nimmer dieselben.
Ewig dieselbigen - wer wartet das Ende wohl aus?“
Parzivals Sohn fährt auf schwanengezogenem Nachen rheinabwärts, um einer bedrängten Brabanter Fürstin beizustehen. Und vergleichsweise hoch im Norden bietet die Schwanenburg zu Xanten Obdach irgendeiner profanen juristischen Instanz.
So könnte man den Rhein erzählen. So ließe sich nachvollziehen, wie Naturphänomene Mythen hervorbringen und diese wiederum Politiken. Nein, keine Bange, mythenverliebt sind wir nicht, jedenfalls nicht so sehr, dass wir dergleichen ernst nähmen, aber erlaubt ist sie wohl, die Augen zwinkernde Frage, ob die Mythen Abbild sind der Wirklichkeit oder nicht doch Vorbild?

Wir denken entlang einer geografischen Achse, die viele Jahrhunderte lang von Süd nach Nord und dann zwischen West und Ost mehr Geschichte strukturiert hat, als die meisten Gebirge oder Flüsse: Ich spreche vom Rhein. Er ist es, der uns erlaubt, gleich fünf kleine Länder im selben Atemzug zu nennen, obwohl sie gar nicht alle an ihm liegen.
Die Schweiz. Österreich. Luxemburg. Belgien. Die Niederlande.

In der Schweiz entspringt er, im viersprachigen Ländchen ordnungsverliebter Eigenbrötler, die sich anlässlich ihres sechshundertjährigen Nationalfeiertags ernsthaft sorgen, ob nicht ihr Land ins Abseits der Postmoderne gerät – dabei bietet auf jedem Provinzbahnhof eine öffentliche Telefonzelle die Möglichkeit, Email und andere Internetfunktionen zu nutzen, wovon so mächtige, ja sprachbestimmende Anrainer wie Deutschland, Frankreich oder Italien vorläufig nur träumen. In die EU hineinzwingen wollen wir die Schweiz gar nicht unbedingt. Aber ihre Zugehörigkeit zum Schengenraum ist wünschenswert – und für die Aufrechterhaltung des besonderen Schweizer Bankgeheimnisses wird sich ja wohl irgendeine Hilfskonstruktion finden lassen, denn neben vielen verbrecherischen Finanztransaktionen laufen auch solche über die Schweiz, die zwar verdeckt sind, aber durchaus nicht verbrecherisch – zum Beispiel unsere.

Mit Vorarlberg und dessen Hauptstadt Bregenz liegt auch Österreich quasi am Rhein, vorausgesetzt, man lässt den Bodensee als Rhein gelten. Das sagt nicht viel, so wie Österreich heute beschaffen ist. Nimmt man Österreich jedoch als Pars pro Toto vergangener habsburgischer Universal- oder zumindest K.u.K.-Monarchie, berücksichtigt man die spanischen Versuche, längs der Rheinachse eine verlässliche Logistik aufzubauen zwischen Madrid und den aufsässigen Niederlanden – dann ist der Rhein quasi eine der beiden Achsen Österreichs. Und wenn wir neuerdings in renommierten Blättern von Hirschhornknöpfen lesen, die angeblich durch Wien paradieren, stänkernd gegen den Geist der internationalistischen Donaumetropole, so ist uns solches weder je in nennenswertem Maß begegnet, noch fließt deshalb der Rhein bergauf. Donauab gedacht erfüllt Österreich heute seine historische Funktion, Mitteleuropa zu verbinden mit der Slowakei, Ungarn, Slowenien und dem Balkan, Weg zu sein für Menschen, Waren, Geld, Ideen - ganz hervorragend. Allein das Investitionsvolumen von Mobilkom Austria in Slowenien beträgt rund 140 Milliarden Euro. Gut, ja, die FPÖ gehörte abgeschafft, doch auch in dieser Hinsicht, bei der Entzauberung der Rechtspopulisten, hat der pfiffige Herr Schüssel weit mehr geleistet, als man ihm anfänglich zutrauen mochte.

Liechtenstein lassen wir beiseite. Auf das Finanzgebaren der Schweiz kamen wir kurz zu sprechen, doch das kleine, ungemein praktische Fürstentum bleibt jeder näheren Erläuterung enthoben. (Apropos: San Marino, Andorra, Monaco, die Kanalinseln, die Isle of Man, etc. desgleichen. Meine praefectur arbeitet an einer Studie über die Tauglichkeit solcher Standorte für den Fall, dass wir entscheiden, unser Großes Archiv aus Venedig fort zu verlegen.)

Das Moselländchen Luxemburg hingegen gehört in unser Kapitel, weniger qua enormer Finanzmacht, als vielmehr durch überproportionale politische Bedeutung in Europa. Wir haben hier einen Winzling, der als Moderator der Riesen Karriere macht – noch mehr Karriere hätte machen können, wenn denn Herr Juncker ein Einsehen gehabt hätte auf dem jüngsten EU-Gipfel. Hier wurde eine große Gestaltungsmöglichkeit verspielt. Es hätte nur eines kleinen Wortbruchs gegenüber dem Wähler bedurft ...

Belgien beherbergt in Mons die Nato, in Brüssel die Europäische Union und hat damit, für ein relativ kleines Land, große Bedeutung im internationalen Politikzirkus. Dabei wollten wir es bewenden lassen, weshalb schon 2003 das Gesetz entschärft wurde, demgemäß jedes irgendwo auf der Welt begangene Kriegsverbrechen automatisch von der belgischen Justiz geahndet werden konnte. Man braucht zwar nicht so weit zu gehen, wie die Amerikaner, die wegen dieses Gesetzes Belgien als Sitz des Nato-Hauptquartiers infrage stellten - gerade die USA mit ihrer weltweit operierenden Justiz! - aber israelische Ministerpräsidenten und amerikanische Ex-Generalstabschefs gehörten und gehören tatsächlich nicht vor belgische Gerichte.
Ansonsten ist Belgien ein Land sperriger Themen, angefangen bei den strukturellen Schwierigkeiten der einstigen Montanregion Wallonien, über den Vlaams Blok, der in Europas rechtsextremer Szene eine vielfach unterschätze Rolle spielt, bis hin zu den Justizskandalen rund um einen furchtbaren Kinderschänder und Mörder.
Man sollte aber über all dem aber nicht vergessen, dass Flamen, Frankofone und die Deutschen der Region Eupen-Malmedy einen politischen Modus vivendi entwickelt haben, wo zwar jeder jeden blockiert, wo die Blockade jedoch in vorbildlicher Weise über sich selbst hinaus verweist auf ein künftiges Europa.
Wie denn auch sonst, sprechen wir doch von einem sehr alten Schlachtfeld, auf dem erbittert gekämpft wurde um jenes Gut, das in Schillers Don Carlos letztgültig benannt wird: „Geben Sie Gedankenfreiheit. - “ (Worauf der König antwortet: „Sonderbarer Schwärmer!“)

Wir haben es hier, längs des Rheins und in seinem Westen, vielfach mit burgundischer Erbmasse zu tun - einem Mittelreich, einem Zerfallsprodukt des karolingischen Imperiums, Lotharingien - dem schmalen Landstreif zwischen Tyrrhenischem Meer und Nordsee. Lavierend zwischen Deutschland und Frankreich, durch Erbfolge an Habsburg geraten, brachten diese reichen Länder weit mehr mit als nur den Orden vom Goldenen Vlies, dieses Symbol argonautischer Meerfahrt. Sie setzten Bürgertrotz gegen Adelsstolz, sie widerstanden im reformatorischen Aufruhr dem habsburgischen Süden. Sie nahmen Teile der katholischen Gegenreformation auf. Sie banden Spanien für lange Zeit. Sie bringen die Generalstaaten hervor ...

Für die Niederlande hätten wir uns gewünscht, Fortuyn wäre politisch gescheitert, statt durch ein Attentat zum Märtyrer zu werden. Dass die Niederlande trotzdem allerhand zu erledigen haben, dass ihr soziales Poldermodell sich in der Krise als weit weniger vorbildlich entpuppt, als es vor der Krise schien, dass sie ihre drogenpolitische Generaltoleranz überdenken sollten – ist inzwischen Allgemeingut. Dass die Holländer es allerdings schaffen, aus einem deutschen Migrantenkind jemand zu machen, der nach anderthalb Jahren holländischer Schulen, Spielplätze und Straßen gegen den neuerlichen berufsbedingten Umzug der Eltern protestiert mit den Worten: „Aber ich bin doch ein richtiger holländischer Junge!“,  ist nicht nur ungemein sympathisch, sondern spricht, sechzig Jahre nach dem Krieg, auch für eine Integrationsfähigkeit, an der sich Viele ein Beispiel nehmen sollten, nicht so sehr einzelne Länder, sondern Einzelne in jedem Land.
Nun ja - der Rhein, er mündet ... Das Delta ist hässlich, besonders sein Rahmen, der Rotterdamer Hafen. Die Brühe ist, auch in den noch so romantischen Wassersträßchen vor Rotterdam, längst aus allen Wassern gemischt - von Mörikes Leibern, die schaumigweiß und herrlich die Schaffhausener Kaskade herunterdonnerten, ist nicht mehr viel zu sehen, obwohl sie ja noch da sind, vollständig, abzüglich des Rheinuferfiltrats der Metropolen und einiger Schwaden weggedunsteten Morgennebels.
So sind wir denn alle Geröll am selben Fluss. Und die kleinen Anrainer, obwohl man sie vielleicht als bloßen Abrieb der großen Blöcke Frankreich und Deutschland betrachten könnte, sind in anderer Sichtweise  Füllmaterial, binden, verhindern die Abdrift. Wer weiß, vielleicht sollten wir an dieser strategischen Option der Kleinen europaweit sehr viel ernst arbeiten, als bisher. Wir bemühen uns. Doch immer und in jeder Konstellation gilt: Die Anfänge, die herrlichen Leiber, die stolzen Schwäne – sind im Ergebnis kaum noch auffindbar. Uns bleibt, ohne die beiden Zeilen Mörikes überzustrapazieren, nur eines übrig, wenn wir entscheiden wollen zwischen gelungen und missglückt: es auszuwarten.

Frankreich
von
Jules V. Polignac, praefectus horrei
(September 2004)

Nein – nicht aus Gefälligkeit für meinen Vorredner beginnt Frankreich am Bodensee, sondern weil das weiße Gold des Salzkammergutes hier einst auf Lädinen gepackt wurde und über See und Rhein in Frankreichs Küchen verschifft.
Auch einen zweiten Versuch wage ich noch, setze probeweise die Verbindungslinie in Konstanz an, beim Konzil und dem brennenden Jan Hus. Von hier aus kommt man leicht, über die Kommunion in Gestalt von Brot und Wein zu unseren Hugenotten, deren vornehmster und erfolgreichster schließlich meinte, Paris sei eine Messe wert und als Henri IV. erstens katholisch und zweitens König von Frankreich wurde, womit er die Bourbonenherrschaft begründete. Ohne das bourbonische Frankreich keine amerikanische Revolution und keine französische, sodass man füglich zum Beispiel den Grad historischer Dankbarkeit, zu der Frankreich gegenüber Amerika verpflichtet ist oder auch nicht, beginnend in Konstanz diskutieren könnte, obwohl das Balzac gewiss so nicht vorschwebte, als er in den Tolldreisten Geschichten der schönen Imperia huldigte.

Nun aber genug mit der mythologischen Spielerei – wobei ich mich überhaupt wundere, zog und zieht es Russen doch weit mehr in die Schweiz und an die französische Riviera, allenfalls nach Baden-Baden, siehe Dostojewski – was hat Samjatin also mit dem Bodensee?
Jedenfalls Schluss mit deutsch-eidgenössischen Schwänen und russischer Seele! Etwas lateinische Klarheit tut not!

Wenn es stimmt, dass Nachkriegsdeutschland eine Volkswirtschaft auf der Suche nach einer Idee ist, dann ist Nachkriegsfrankreich ein großes etatistisches Pathos auf den Füßen schwächelnder Volkswirtschaft.
Und Europa sei zwar ohne Frankreich, doch nie und nimmer ohne Deutschland vorstellbar? Das ist insofern richtig, als Europa ohne Deutschland nur als Allianz gegen Deutschland denkbar wäre, aber was ist schon Deutschland ohne Frankreich, oder wo ist rechts ohne links? Die Außenpolitik beider Länder hat sich seit je über den transrheinischen Nachbarn definiert – was sollte sich also ändern an der Grundkonstellation, verließe eines der Länder die Europäische Union, was ja, den Göttern sei Dank, in keiner Weise zur Debatte steht?

Fangen wir da an, wo Samjatin in Holland aufgehört hat: bei den Sozialsystemen. Hier gibt es in Frankreich Nachholbedarf, ebenso wie in Deutschland, wobei man sagen muss, dass die größere der beiden Ökonomien im Augenblick die Probleme des rheinischen Kapitalismus entschlossener anpackt als Frankreich. Frankreich denkt nach wie vor staatlich, wo Deutschland inzwischen so sehr in den Westen integriert ist und auch Identität eingebüßt hat, dass es ökonomistisch denkt. Eine Figur wie Minister Sarkozy, der Firmenfusion als politisches Geschäft betreibt, wäre im heutigen Deutschland gar nicht mehr vorstellbar.
Gut so! Wir wissen nicht, ob wir Sarkozy als Präsidentschaftskandidaten tolerieren werden. Wir wissen es wirklich noch nicht.

Dafür wissen wir: Der Mindestlohn muss weg, denn er verbaut, so schmal er ist, jährlich tausenden Jugendlichen den Weg in eine Ausbildung oder zumindest irgendeinen Job. Mindestlohn verursacht Jugendarbeitslosigkeit, die Form der Arbeitslosigkeit mit den langfristig schlimmsten Folgen.
Dabei ist Frankreichs Jugend doch ein starkes Potenzial, oh ja. Wir wachsen – jährlich um 0,4 Prozent, weshalb die Demografen jubeln, Frankreichs Versorgungssysteme für Gesundheit und Alter stünden auf wesentlich stabilerem Fuß, als die deutschen. Das ist aber ein großer Irrtum, denn unser Wachstum ist überproportional Wachstum in die Beziehergruppe der Sozialsysteme hinein - nicht in die Einzahlergruppe. Es kann also keine Rede davon sein, dass unser Wachstum unsere Probleme löst, nein es verschärft sie noch. Es wachsen die verbitterten muslimischen Minderheiten in den Vorstädten, die, wie in keinem anderen europäischen Land, mit dem CFCM eine institutionalisierte Vertretung ihrer religiösen Interessen haben, ohne deshalb jedoch ihre Neigung zu verlieren, Parallelgesellschaften zu bilden.

Gleich in diesem Zusammenhang können wir auch den angeblichen neuen französischen Antisemitismus abhandeln. Natürlich gab und gibt es originär französischen Antisemitismus, ihn zu leugnen wäre im Land der Dreyfusaffäre albern. Doch von den jüngsten Anschlägen auf Synagogen weiß doch jedermann, inklusive der Opfer, dass die Täter aus islamisch dominierten Vororten stammen und mit ihrer schändlichen Tat gegen Israels Politik in den besetzten Palästinensergebieten demonstrieren wollen. Politisch umgesetzt wird dieses Wissen nicht. Wir observieren Le Pen und seine Rechte, die gegen die Integration von Muslimen hetzt. Ein paar Muslime zerstören Synagogen. Und im Ergebnis ruft Herr Scharon Frankreichs Juden auf, heimzukommen nach Israel, weil Frankreich antisemitisch sei, wozu die Begleitmusik in der amerikanischen Presse spielt, die irgendeinen, gleich welchen, Anlass sucht, um Frankreich abzustrafen für seine Haltung bezüglich des Irak. Ein feiner freier Westen! Lasst euch die Freedom Fries gut schmecken!

Der Staat Frankreich – ist und bleibt zentralistisch, was von den Regionen, insbesondere Korsika, quittiert wird, indem Pariser Scheinangebote auf Regionalisierung regelmäßig, wenn auch knapp, zurückgewiesen werden, so zuletzt im Referendum Juli 2003. Die Gründer anerkennen eine korsische, eine aquitanische, eine bretonische, elsässische und eine normannische Identität, sowie, bei großem Entgegenkommen, sogar die französische Hälfte einer baskischen Identität. Die Gründer anerkennen auch die besondere kulturelle Identität muslimischer Franzosen. Frankreichs vielleicht größtes Geschenk an die Welt ist das Prinzip, dass die Nation, anders als das Wort glauben macht, eben nicht auf Geburt und Herkunft beruht, sondern auf der freiwilligen, dafür aber auch verbindlichen Zustimmung zu einem Sozialvertrag.
Wenn nun Korsika sagte: Wir stimmen dem Vertrag nicht zu - dann müsste Frankreich in einem modernen Europa die Insel wohl ziehen lassen. Beim Elsass mit seinen zarten deutschen Banden wäre das Problem dagegen unlösbar - glücklicherweise sind hier die entsprechenden Bestrebungen nur marginal. Aber was ist mit der muslimischen Suburbia? Anders als Korsika wurde sie niemals nach Frankreich gezwungen. Nein - sie entschied sich freiwillig für die wirtschaftlichen Chancen und die soziale Sicherheit Frankreichs - ohne Frankreichs übrige Regeln jemals ganz anzuerkennen. Diese fatale Ausgangslage wird in Zeiten, da die wirtschaftlichen Chancen heftiger umkämpft sind von immer mehr Mitbewerbern, und da Geld, das in Form sozialer Sicherheit verteilbar wäre, immer knapper wird - ganz gewiss nicht besser. Wie also umgehen damit? Es bedarf einer Menge Fingerspitzengefühls. Von beiden Seiten. Sonst wird beiderseitige Frustration jenen Gruppierungen Anhänger zutreiben, die durch Gewalt ein Miteinander endgültig unmöglich machen. Und so furchtbar es ist, das auszusprechen, aber die Republik wird nicht den leisesten Zweifel daran lassen, dass es eine hugenottische Lösung mit Sicherheitsplätzen, auf heutige Verhältnisse übertragen also einen islamischen Staat im Staate, nicht geben wird.
Vielleicht ist tatsächlich die Durchsetzung des Kopftuchverbots eine Nagelprobe. Frankreich ist, anders als Italien oder Deutschland, ein konsequent laizistischer Staat, auch im Verhältnis zur Mehrheitsreligion. Muslime brauchen sich hier also nicht diskriminiert zu fühlen, wenn ihre religiösen Symbole in staatlichen Institutionen nicht geduldet werden. Die Frage war: Akzeptieren sie überhaupt, dass es eine von ihrer Religion getrennte und unparteiisch allen Religionen übergeordnete Staatsautorität gibt, ein profanes Gesetz, dem ihr religiöses Gebot sich unterzuordnen hat, vorausgesetzt sie wollen im Geltungsbereich des Gesetzes leben?
Die Antwort wurde zum diesjährigen Schulbeginn auf eindrucksvolle Weise von nahezu allen muslimischen Gruppierungen Frankreichs gegeben, mit dem Aufruf, kein Kopftuch zu tragen, sondern als französische Bürgerinnen französischem Gesetz zu folgen. Ein sehr ermutigendes Beispiel! Wie man überhaupt sagen muss, dass die Entführung der Journalisten Malbrunot und Chesnot im Irak Muslime und Nichtmuslime Frankreichs mit- und füreinander solidarisiert hat. Arbeiten wir daran, diesen Moment der Einheit zu bewahren und fruchtbar zu machen!

Vielleicht ist er ja kein rein französisches Phänomen. Vielleicht gibt es ja eine Grenze, die der islamistische Terror nicht überschreiten kann, ohne die schweigende Hinnahme durch die Mehrheit der muslimischen Diaspora aufzubrechen. Wo wäre diese Grenze? Da, wo der Terror sich anmaßt, gestaltend ins Leben europäischer Muslime einzugreifen? Wo sie vor der Wahl stehen, vom Terror regiert zu werden oder sich aktiv am demokratischen Rechtsstaat zu beteiligen? Sollte diese Grenze sich verifizieren lassen, wird sie Strategie und Taktik beider Seiten prägen. Bis sie verifiziert ist, kann der Westen schon einmal die Lehre ziehen, dass er mit ganz langem Atem auf die Verführungskraft von Freiheit und Demokratie vertrauen muss. Wir dürfen, bei aller gebotenen Wachsamkeit und Härte gegenüber dem Terror, den Charakter unserer offenen Gesellschaften nicht opfern - nicht einmal dann, wenn es dem Terror gelingt, unsere Offenheit auszubeuten. Um zu siegen, dürfen wir die Verführungskraft unseres Modells nicht mindern.
Dass wir siegen, steht ausser Frage. Wie wir siegen, ob als Produkt einer Anpassung an den Terror oder als wir selber - ist die Bewährungsprobe, in der wir stehen.

Frankreich ist Atommacht, wie das Vereinigte Königreich. Es war ein hartes Stück Arbeit, diese beiden, durch normannische Eroberung verklammerten und durch einen Hundertjährigen Krieg zu Erbfeinden gewordenen einstigen Welt- und heutigen Mittelmächte, auf dieselbe Seite zu locken. Beide stehen heute jedenfalls mit mehr als einem Fuß in Europa. Das heißt nicht, wir hingen der Illusion nach, die atomaren Arsenale je europäischer Kontrolle unterstellen zu können. Frankreich war zwar bereit, einen Raubüberfall des israelischen Mossad geschehen zu lassen, weshalb Israel heute Atommacht ist. Aber die eigene Atommacht zu teilen, auch mit noch so engen Verbündeten, dazu ist kein Land und kein Volk bereit. Oberflächlich betrachtet ist das ein Argument für Euroskeptiker. Wenn aber nun die Interessen der Länder und Völker unterhalb institutionalisierter Ebenen so miteinander verschmelzen, dass niemand mehr ohne den anderen kann – ob dann nicht im Fall existenzieller Bedrohung gemeinsam reagiert würde? Eine theoretische Frage. Jahrzehntelang hat Westeuropa akzeptiert, dass Amerika im Falle eines kommunistischen Angriffs atomar reagiert. Heute verfolgen wir jeden bescheidenen Ansatz einer eigenen europäischen Sicherheitsidentität, auch wenn es zu diesem Zweck, anders als die Amerikaner wollen, durchaus zur Verdopplung und Nato-Abkopplung von Strukturen kommen mag.

Militärsymbolisch kooperiert Frankreich heute mit den USA und bindet seine Flugzeugträger in amerikanische Verbände ein. Politiksymbolisch ist wohl nichts deutlicher als die Verzahnung der Kabinette in Paris und Berlin mit ständigen Beobachtern bis hinunter zur ministeriellen Ebene und regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen. Dass dies aber nicht unbedingt mehr als Symbolik ist, begriff Berlin, als Monsieur Sarkozy, von Präsident und Premier ungehindert, seine handfesten industriepolitischen Aktivitäten entfaltete. Es hilft eben nicht, wie der deutsche Bundeskanzler, gerührt eine Träne an der Brust des französischen Präsidenten zu zerdrücken – so wichtig die entsprechende Einladung zur Feier des D-Day auch war, und so souverän die Annahme durch Schröder. (Denn es hatte ja zuvor schon Einladungen genug vonseiten Mitterrands an Kohl gegeben, die der aber nicht anzunehmen wagte.) Hinzukommen muss immer die Entschlossenheit, für die Menschen, die einen gewählt haben, das Bestmögliche zu erreichen. Und da ist Frankreich Deutschland halt voraus. Wie denn auch sonst? Wer erfreut sich denn ungebrochener staatlicher Tradition seit den Grafen von Paris (ungeachtet aller Kolonial- und sonstigen Verbrechen)  – und wer trägt mit sich die nicht aufrechenbare Schuld am Nationalsozialismus? Das ungebrochene französische Selbstbewusstsein erlaubt natürlich ein ganz anderes Auftreten und öffnet natürlich viel weitere Handlungsspielräume. Und deswegen muss Europa, müssen vor allem jedoch die Deutschen einstweilen mit dem Ungleichgewicht leben, dass exakt das gleiche Verhalten Frankreich als Größe ausgelegt wird, Deutschland jedoch als Großkotzigkeit.

Ja, dies ist ein alter Kontinent. Wir hätten uns, ohne Hilfe vom jungen Abkömmling Amerika, zweimal völlig zerfleischt. Doch es ist, im besten Sinne, weit mit uns gekommen, wenn heute zwei Drittel aller Franzosen nicht mehr Amerika, sondern Deutschland für ihren treuesten und wichtigsten Verbündeten halten.
Nun sind die Meinungen der Völker aber wechselhaft, und genauso, wie heute ein Honigmond Deutschland, Frankreich und ihre Repräsentanten bescheint, könnte schon morgen wieder der spitze Kommentar, das eisige Schweigen oder sogar das Türenknallen regieren. Europa wächst zusammen, doch die jahrtausendalten Konflikte verschwinden aus dem Tiefengedächtnis der Völker niemals. Nicht der Hundertjährige Krieg mit England - trotz Herzlichen Einverständnisses in zwei Weltkriegen. Eher vielleicht schon die Erbfeindschaft mit Deutschland - dank gemeinsamen karolingischen Ursprungs. Der scheint tatsächlich prägend gewesen zu sein. Sonst müsste man ja annehmen, dass die beiden römischen Provinzen Gallien und Britannien viel mehr Gemeinsamkeiten aufwiesen, als Gallien und das niemals römisch kultivierte Germanien, was aber offensichtlich nicht der Fall ist.
Knüpfen wir also bei der Tatsache an, dass Aachen heute noch dem Durchschnittsfranzosen etwas bedeutet, und auch außerhalb Bremens mancher Deutsche Roncesvalles kennt!
Inzwischen haben wir bemerkt, dass Frankreich und Deutschland als Motor für Europas Integration nicht genügen, dass Länder hinzukommen müssen. Aber genau so klar ist, dass ohne die beiden Größten kein Motor stark genug ist.
Frankreich mit seiner ewigen Aversion, mit seinem Beharrungsvermögen und Abschottungsbedürfnis gegenüber der angloamerikanischen Weltkultur dürfte hierbei zuverlässig immer vorangehen. Deutschland demgegenüber wird stets dafür sorgen, dass der europäische Motor nicht gegen Amerika arbeitet, schon aus eigenem nationalem Interesse, denn es verdankt sich als Nation niemand anderem als Amerika und hat nur in Gestalt Amerikas die Garantie dafür, dass es, zivile Politik vorausgesetzt, nie mehr zum Gegenstand von Einkreisungsstrategien seiner Nachbarn wird. Denn natürlich möchte mein stolzes Land niemals die zweite Rolle spielen nach Deutschland, mögen wir auch zahlenmäßig weniger und wirtschaftlich schwächer sein! Natürlich möchten wir dominieren. Natürlich würde Frankreich gerne Deutschland vollends von Amerika isolieren, um dann mithilfe seiner überlegenen Diplomatie, auf allen Registern spielend, den großen Nachbarn einzuspinnen und zum Werkzeug französischer Dominanz über ganz Europa zu machen. Man denke nur an den gerissenen Schachzug, Deutschland auf Dauer den Stellvertreterposten des französischen Sitzes im UN-Sicherheitsrat zu offerieren. Wie rührend, wie sympathisch die Geste - und wie enorm die Einbuße an Optionen, die Deutschland erlitten hätte, hätte es angenommen.
Derartige französische Reflexe sind unübersehbar und werden bei den kleinen europäischen Mitspielern skeptisch bis angewidert vermerkt. Bei ihnen hat Deutschland das etwas bessere Standing, weil Deutschland sich in vielen Jahrzehnten europäischer Innenpolitik den Ruf einer gewissen Selbstlosigkeit erworben hat. Aber damit ist es in Zeiten knapper Kassen fast schon wieder vorbei. Man sieht also: Die Beiden müssen miteinander, sonst geht nichts in Europa! Miteinander und mit wem noch -? Das wird auszuhandeln sein, wenn die amerikanische Präsidentschaftswahl entschieden ist.
Wir sind Partei in diesem Wahlkampf. George W. Bush, Präsident geworden dank einer Intrige unseres Ex-Sicherheitspraefecten Gerrit Daniel de Kempenaer, ist unser Freund nie gewesen. Ich darf das sagen, als Gründer wie als Franzose und somit Bürger eines Landes, ohne dessen wirtschaftliche und militärische Hilfe Amerika nie seine Unabhängigkeit errungen hätte. Wir sind für Kerry, keine Frage. Aber wir sind ohne Illusionen für Kerry und wissen, dass auch der Ostküstenpatrizier nicht zu einer wirklich bündnisorientierten Außen- und Sicherheitspolitik zurückkehren wird. Trotzdem bleibt bestehen: Wir können über Europa, über Kerneuropa und Frankreichs Funktion in einer wie auch immer gearteten Lösung nicht sinnvoll reden, ohne die nächste amerikanische Administration in Betracht zu ziehen.
Ach ja: Keiner von uns wird kriminell in diesen Wahlkampf eingreifen, wie vor vier Jahren. De Kempenaer ist seit 2001 tot. Sein Zögling James Cosgrave erlag Anfang September in Stockholm seinen Verletzungen. Wer immer auf ihn gebaut haben mag, wird eine herbe Enttäuschung erleben.
Wir sind, ich sagte es bereits, Partei in diesem Wahlkampf und tun für Kerry, was wir können. Doch weder die Gründer, noch Frankreich, nicht Frankreichs Millionen, nicht Frankreichs Gewehre, nicht seine Flotte und auch nicht Frankreichs Lafayette wird das Schicksal Amerikas entscheiden.

(Genauso wenig übrigens England oder irgendwelche bigotten deutschen Bündnispartner. Ich sage das nur, weil ich unserem werten Herausgeber einreiben möchte, dass er gelegentlich irrt, ohne immer die Größe zu haben, dies später einzugestehen – und erinnere in diesem Zusammenhang an den Brief eines deutschen Duodezfürsten, der vom Herausgeber als authentisch eingestuft wurde, in Wahrheit jedoch eine literarische Fälschung innerhalb eines literarischen Werks darstellt. Lion Feuchtwanger, Die Füchse im Weinberg. Dort erfindet Benjamin Franklin den Brief. Also bitte nicht gar so renitent, mein junger Freund!)

Die antienglischen Intrigen befeuerten damals die große Utopie. Die Utopie von 1789 hieß Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Krieg kam heraus.
Vielleicht ergänzen wir heute den utopischen Dreiklang um den Frieden, nicht immer, aber doch zumeist das höchste aller Güter. Dann könnten die Gründer endlich jenen Teil der Pariser Katakomben, der zum Schutz gewisser Reliefe leider immer noch gesperrt ist, zumindest fotografisch publizieren.

Maastrichtkriterien – sind Verhandlungsmasse, wie die neue Kommission schon einmal vorab klargestellt hat.
Frankreichs Afrikapolitik – ist eine der beiden Säulen europäischer Afrikapolitik, und wir sind bestrebt, einer moderaten Antikorruptionskampagne zum Erfolg zu verhelfen.
Energiepolitisch - inszenieren wir mit Frankreich und Deutschland ein Rollenspiel. Deutschland betreibt Reduktion der Kernenergie und experimentiert mit alternativen Energien. Frankreich setzt nach wie vor auf Kernenergie und stellt die Reserve, für den Fall, dass Deutschland der Erfolg versagt bleibt.
Beide Länder stehen offen für den Fall, dass Europas Süden im Zuge einer Klimakatastrophe weitgehend unbewohnbar wird.

Deutschland
von
Karl Bucholtz, successor principis
(September 2004)

Um kein Spielverderber zu sein, und obwohl das geniale Spätwerk Hesses eindeutig im Tessiner Montagnola entstand, keineswegs schon auf der Höri, in Gaienhofen am Seerhein, greife ich die Bodenseeromantik meiner Vorredner auf und konzediere: Ja, Josef Knecht, Magister Ludi, Meister des Glasperlenspiels und Held des gleichnamigen Romans hatte ein Gründer-Vorbild. Wie der hieß?
Ich könnte jetzt nach Hemmenhofen winken, nebenan, zu Otto Dix, und die Geschichte erzählen eines unsachgemäß getrockneten und folglich zerbröselten Gänseblümchens. Ich könnte sagen: Diskretion! Oder: Betrachtet die Steppenwolf-Rezeption in Amerika und schöpft Hoffnung!

Statt dessen schneide ich allzu üppig wuchernder Gründer-Folklore hiermit das Wort ab, denn mein Thema – Deutschland – ist viel zu ernst, und meine Genugtuung über Cosgraves Ende nicht annähernd groß genug, um munter weiter drauflos zu parlieren, obwohl er mich wirklich übel reingelegt hat auf der Bastei!

Deutschland steht vor der epochalen Aufgabe, Abschied nehmen von der Illusions-Demokratie, wie sie vertreten wird von PDS, NPD und meinem einstigen Favoriten Oskar Lafontaine. Als ich Provinzlegat war und er Kanzlerkandidat - als er die Wahrheit über Vereinigungskosten sagte und ich in Dresden erfolglos versuchte, Kohl an die Kandare zu nehmen, da wurde eine Chance vertan, die nie mehr wiederkommt. Seitdem schlägt Gesamtdeutschland sich herum mit den Folgen einer falsch organisierten Wiedervereinigung. Westdeutsche Verbände- und Unternehmergier, allgemeine Wurstigkeit beim Verschleudern öffentlicher Gelder und die spezifisch ostdeutsche, wehleidige Sehnsucht nach "Vater Staat" haben die drittstärkste Ökonomie der Weltwirtschaft dermaßen zerrüttet und geschwächt, dass erstens ihre Position in zehn Jahren durchaus unklar ist und zweitens sogar unabsehbar, wohin die ökonomische Misere die deutsche Gesellschaft verrückt.
Ja – verrückt ist das richtige Wort für das, was zurzeit auf Montagsdemonstrationen und in Talkshows passiert!
Deutschland ist nach wie vor eine Schönwetterdemokratie. Achtundsechziger-Revolte und RAF-Terror waren zwar Krisen, die Deutschland überstand, doch waren sie beide Minderheitenphänomene von jener Art, die ausgerechnet solche Bevölkerungsteile fest um den Staat und seine Autorität scharten, die sonst für rechte Rattenfänger anfällig gewesen wären. Nun bezieht jedoch dieses Spektrum neuerdings nicht mit, sondern gegen den Staat Stellung, wobei sich linke und rechte Aufwiegler derselben "Jetzt-reicht's"-Rhetorik bedienen. Die unumgänglichen sozialen Einschnitte schaffen eine Verweigerungsfront, die die deutsche Demokratie ernsten Belastungsproben aussetzt. Man stelle sich vor, diese Verweigerungsfront bliebe starrsinnig oder wüchse sogar noch - obwohl gerade das aktuell nicht so aussieht. Man könnte die jetzige Koalition aus dem Amt jagen. Eine schwarzgelbe Koalition würde aber ja noch entschiedenere Einschnitte vollziehen, mit noch weniger Rücksicht auf soziale Gerechtigkeit. Man stelle sich das Wahlverhalten der Verweigerer vor, wenn endgültig klar würde, dass es im demokratischen Parteienspektrum keine Mehrheit gegen den Reformkurs gibt. Deutschland geht wechselhaften Zeiten entgegen.

Zwei Grundbefindlichkeiten sind es, die Deutschlands Entwicklung in den kommenden zehn Jahren unberechenbar machen: der gefühlte (aber durchaus nicht immer gegebene) Mangel an Gerechtigkeit. Und eine allgemein grassierende Verachtung für Politiker und Politik, ein grundsätzlicher Vertrauensverlust, der Führung immer schwerer macht.

Die Gerechtigkeit kommt durchaus zu kurz, wenn notwendige Einschnitte vollzogen werden. Da trifft es Manche(n) hart und sehr zu unrecht. Aber Deutschlands einzige Chance, im Globalisierungsdruck weiterhin als ökonomisch führender Sozialstaat zu bestehen, liegt darin, sich von bestimmten unbezahlbar gewordenen Träumen zu verabschieden. Jeder zweite Euro, der in diesem Land verdient wird, wird dem Bürger abgenommen und dann vom Staat oder von den Verbänden umverteilt. Von sozialem Kahlschlag zu reden, ist also lachhaft. Deutschland muss entweder sparen - oder weiter in einem Maß Schulden machen, das jeden staatlichen Entscheidungsspielraum abwürgt. Letzteres kommt nicht infrage. Ersteres geht nur, wenn Menschen, die bis jetzt etwas bekommen haben, künftig die gewohnte Zuwendung verlieren. Das wird zwangläufig als ungerecht empfunden. Aber die Frage für Deutschland ist längst nicht mehr Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Die Frage lautet: Überlebt Deutschland als Sozialstaat rheinischer Prägung?

Das wird nur möglich, wenn nicht länger verteilt wird, was nicht erwirtschaftet wurde. Das wird nur möglich, wenn gespart wird. Das wird nur möglich durch gezielte soziale Einschnitte, die die Gemeinschaft ein Stück weit aus der Verantwortung für das Einzelschicksal entlassen. Dem Einzelschicksal tut das weh. Das Einzelschicksal empfindet das als ungerecht. Natürlich schmerzt eine Operation, ist ungerecht und stellt eine Gemeinheit des Schicksals dar. Aber wenn der Patient nun ohne Operation verstürbe? Ist es dann noch sinnvoll, über ihre Gerechtigkeit zu debattieren? Auf Deutschland kommt eine Zeit zu, in der nicht mehr Wohltaten verteilt werden, sondern Ungerechtigkeit. Zu verhindern wäre das nur durch kollektiven Selbstmord der Gesellschaft.

Nun ist Ungerechtigkeit leichter zu ertragen, wenn sie von kantigen Politikern verteilt wird, von Menschen, die für und an ihrem Land gelitten haben, von Schuhmachers, von Adenauers oder Brandts. Dass diese Generation und mit ihr dieser Typ ausgestorben ist, kann man den heutigen Politikern nicht anlasten. Anlasten kann man ihnen jedoch eine Mentalität, für die der Gebrauch von Macht nicht mehr Ziel und Zweck politischen Lebens ist, sondern nur noch Umweg zur Erschleichung persönlicher Wohllebe. Aber nicht einmal das zerstört das Vertrauen vollends. Nicht die Brioni-Anzüge, nicht die Limousine, die Freiflüge und abends die schöne Cohiba machen Vertrauen kaputt. Nicht einmal die im Vergleich zur Wirtschaft bei ähnlichem Arbeitspensum mickrigen Gehälter. Es ist ein schwer definierbarer Mangel an Instinkt, der dieses Vertrauen verspielt.

Am besten ist das klarzumachen an einer grundsätzlich so sympathischen Geschichte wie der Adoption eines Mädchens durch den Bundeskanzler und seine Gattin. Es ist nicht Stil der Gründer, ohne Not im Privatleben von Politikern herumzustochern. Und ich will hier auch klarstellen, dass wir der Familie Schröder, ihren alten und neuen Mitgliedern, von ganzem Herzen Glück wünschen zu diesem Schritt.
Nun gibt es aber hierzulande etliche Tausend adoptionswillige Paare, denen die behördliche Praxis sagt: Mit vierzig ist die Schallgrenze überschritten. In diesem Alter findet keine Adoption mehr statt. Ist es verwunderlich, wenn diese Menschen sich nun fragen – warum darf der und wir dürfen nicht? Ist es einem political animal wie Schröder nicht zuzumuten, dass er sich vorher überlegt: Ich, Bürger Schröder, deklassiere zwangsläufig tausende Mitbürger, wenn ich in dieser besonderen Sache meine Kontakte spielen lasse? Das private Glück sei ihm und allen anderen Beteiligten von Herzen gegönnt – aber dass er seine politische Macht benutzt hat, um es zu erreichen ...
Aber das hat er ja nicht. Alles ging strengstens nach Recht und Gesetz zu in dieser Sache, in St. Petersburg wie in Hannover. Und damit haben wir sie wieder dingfest gemacht, die deutsche Neidkultur, nicht wahr? Oder doch nicht? War das gerade der sterbenslangweilige, ekelhafte deutsche Neidreflex oder war das die feine Waage der Gerechtigkeit in der Hand der Blinden?

Denken schändet nicht!

Was ist Neid und was ist zumutbare Rücksichtnahme von Privilegierten gegenüber der Befindlichkeit Minderprivilegierter? Wie tief müssen soziale Einschnitte gehen, um einerseits erfolgreich zu sein, andererseits jedoch den wirtschaftlichen Pressure Groups nicht unnötig weit entgegenzukommen? Denn auch das muss ja gesagt werden: Das Wirtschaftslager, weit entfernt, sich patriotisch zu verhalten, oder auch nur ein Minimum an Anstand zu wahren, missbraucht die wirtschaftliche Notlage um soziale Erosion zu erpressen. Sie wollen jetzt endlich, fünfzehn Jahren nach Zusammenbruch des Kommunismus, die Friedensdividende kassieren und das Soziale aus der sozialen Marktwirtschaft streichen. Und dann wundern sie sich, dass ihre schlecht bezahlten Halbtagskräfte es beim Konsum nicht mehr so richtig krachen lassen. Sie produzieren in Billiglohnland und jammern, dass deutsche Arbeitslose ihnen die Produkte nicht mehr abnehmen. Sie flexibilisieren die Arbeitswelt bis zum Ende jeder Lebensplanung und wehklagen, dass jemand, der heute in München und morgen in Canberra arbeitet, nirgends mehr ein Haus baut.
Doch was die schleppende Binnennachfrage angeht, ist die Politik mit ihren handwerklichen Fehlern vielleicht ja noch schlimmer: Kein Vierzigjähriger weiß heute mehr, ob er mit siebenundsechzig oder siebzig noch was zurückbekommt für seine Einzahlung in die Sozialkassen, ob Solidargemeinschaft dann noch funktioniert, oder ob bis dahin alles verfrühstückt ist, von kurzsichtigen Gefälligkeitspolitiken. Die Unsicherheit, der Mangel an Verlässlichkeit wächst beinahe täglich. Und dann wundert sich Politik, dass die Menschen für ihr Alter sparen, statt zu konsumieren.
Genauso dumm ist übrigens der Ansatz, man müsse den Menschen nur mehr Geld lassen, dann würde der Konsum schon wieder in Gang kommen. Unfug! Woher soll das Geld kommen? Aus Steuererhöhungen? Oder aus Schulden?

(Wobei wir hier völlig jeden ökologischen Aspekt von Konsum außer acht lassen, vielleicht sträflich, ja bestimmt sogar, aber wir müssen unseren Raum vor akutem Unheil bewahren und können dabei nur mit den Menschen und den Mehrheiten rechnen, wie sie nun einmal sind. Wir können nicht mit dem Wünschenswerten operieren – auch wenn es sich in wenigen Jahren als das Notwendige erweisen dürfte. Wir müssen darauf hoffen, dass die katastrophalen Umwälzungen in Klima und Umwelt so rechtzeitig von einer ausreichenden Mehrheit begriffen werden, dass uns noch Zeit bleibt, im letzten Augenblick das Steuer herumzuwerfen. Bis dahin müssen wir uns auf das Mögliche beschränken.)

Ja, die Gründer und die Regierung und die Opposition. Könnten sie nicht das hektische politische Gewusel beenden, die Welt nicht länger mit Eintagsfliegen traktieren, sondern mit ausgereiften politischen Konzepten? Vermutlich schon.
Dabei jedoch würde die Medienwelt ausgehungert. Dürfte nicht mehr jeder Schwätzer vor jedem Mikrofon jedes Thema verunklären, würde es, mit den Worten Kanzler Schröders, in der Tat sehr schwer, jeden Tag eine Zeitung voll zu schreiben.
(Es gibt noch eine andere Version dieses Satzes: Träfe nicht jeder verantwortungsbewusste und nachdenkliche Mensch vor dem Sitzungssaal unweigerlich auf Blitzlicht und Mikrofone, die fordern, fordern, fordern, irgendwas, gleich was, Hauptsache das entsprechende Format hat Quote ... bliebe mehr Zeit für Gründlichkeit und fruchtbaren Dialog. Zu ändern ist aber wohl keins von beiden: nicht die Eitelkeiten der Politiker und erst recht nicht Stoffgier und Aktualitätszwang der Medien.)

Wo wir gerade bei den Medien sind: warum creatores.de, diese völlig überflüssige Internetpräsenz?
Warum creatores? Weil der princeps nach langen Gesprächen mit Freunden im März 1999 den Weg dafür freigab. Weil wir Entwicklungen beleuchten wollten. Weil wir uns im Offenbaren am besten versteckt fühlen.
Und warum .de? Weil ich den geeigneten Herausgeber zur Hand hatte, der, mein lieber Polignac, gern ab und zu ein bisschen renitent sein darf. Mehr gibt es da nicht zu geheimnissen. Schon gar nicht publizieren wir diese paar Archivalien auf Deutsch, weil wir etwa die deutsche Mittellage als eine privilegierte betrachteten, wie neuerdings zu lesen ist.

Sie bleibt vielmehr ein ernstes Problem, diese geografische Mittellage, weshalb auch Deutschlands EU-Einbindung alternativlos ist. Dass Einkreisung sich in Einbettung verwandelt, und Deutschland lückenlos umringt ist von einem Kranz aus Freunden und Verbündeten, ist ein schöner Erfolg unseres Wirkens. Es ist eine kostbare Errungenschaft für die ganze Welt, dass Deutschland nicht länger als losgerissene Kanone übers Deck der Geschichte rollt. Und wie alle Errungenschaften, zumal die kostbaren, ist auch diese gefährdet und muss immer wieder neu gesichert werden, von Deutschland wie auch von seinen Nachbarn. Beinahe selbstverständlich, jedenfalls nach dem, was Freund Polignac über Frankreich und Deutschland sagte, ist es, dass Deutschland den Mund hält, wenn Frankreich zur Belehrung Europas den Zeigefinger erhebt. Selbstverständlich auch, dass Deutschland mit Geld nicht knausert, selbst wenn das schwer fällt. Selbstverständlich auch, dass Deutschland auf allen Ebenen europäischer Integration und Verdichtung mit der vordersten Gruppe voranzuschreiten hat.
Aber selbstverständlich wäre inzwischen auch, sechzig Jahre nach dem Krieg, dass britische Schulbücher mehr über deutsche Geschichte vermittelten als die tausend Jahre von 1933 bis 1945. Schade eigentlich, dass wir immer noch erklären müssen, dass Isolation Deutschlands, auch die moralische Isolation, dem Kontinent noch nie zum Guten ausschlug.
Da wir aber mehrfach von Dresden sprachen, und das Grüne Gewölbe wieder eröffnet wurde, Tage nur nach der Tragödie in Weimar, und weil ich einen Stein der Dresdner Frauenkirche besitze, das Geschenk meines polnischen princeps, will ich auch die Rührung eingestehen, die ich empfand, als die Kuppel der wiedererrichteten Frauenkirche von der wunderschönen Arbeit eines englischen Kunstschmieds bekrönt wurde.

Vielleicht sollten wir alle viel mehr hoffen. Vielleicht ist Hoffnung ein kreativer Akt, selbst wenn man, wie wir, schon von Berufs wegen, durchtränkt ist vom Wissen um das Traurige, das Hässliche und das Gemeine. Dieser Frage nachzugehen sprengt natürlich den Rahmen meiner kleinen Notiz über Deutschland. Aber dass wir Herrn Köhler, den neuen deutschen Bundespräsidenten, bereits 2001 im Auge hatten, trifft durchaus zu. Wir halten diesen Mann für einen Mutmacher. Und wir glauben, dass Deutschland einen wie ihn braucht in dieser Zeit. Er kann zu einer neuen Atmosphäre beitragen, einer Sichtweise, die in der Krise auch die Chance erkennt, die die Schwierigkeit nicht gleich mit kompletter Unlösbarkeit verwechselt, und die dem Unvermeidlichen eher mit einem trotzigen, schiefen Grinsen entgegenblickt, als mit wehleidiger Schnute.
Zu viel der Hoffnung? Täuschen mich Instinkt und Analyse? Gewiss, mea culpa: In Lafontaine habe ich mich furchtbar getäuscht, aber es ist ja auch den Gründern nicht verboten, mit den Jahren hinzuzulernen. Und im Fall Köhler gab die Expertise des Kölner legaten Franz Dusch den ersten Anstoß. Man wird sehen.

Sehen wird man auch, dass Deutschland mit der Föderalismusdebatte auf einem guten Weg ist. Sowohl die Bundesregierung als auch die Ministerpräsidenten haben inzwischen genug von der gegenseitigen legislativen Blockade zwischen Bund und Ländern, die Kompetenzen verunklärt, Verantwortung verwischt und Gestaltung verhindert. Deutschland ist dabei, sich zu ändern. Am Ende dieses Prozesses wird ein Land stehen, das sich aus seiner partikularistischen Tradition befreit hat, das den Föderalismus nicht mehr auf die Spitze treibt, sozusagen als Gegenentwurf zur französischen Zentralstaatlichkeit – aber das war ja nicht der Grund für diese abgrundtief misstrauische Verfassung, der Grund waren die Folgen von Hitlers Ermächtigungsgesetz und der "Gleichschaltung". Am Ende steht ein Land, in dem Bundestag und Bundesrat sich nur noch über ganz zentrale Gesetze und Verfassungsänderungen einigen müssen. Wenn dabei auch noch Ländergrenzen neu gezeichnet werden – zumal in Ostdeutschland – und wenn Stadtstaaten verschwinden sollten, umso besser.

Ostdeutschland jedenfalls braucht noch auf Jahre hinaus Förderung. Ich erinnere mich lebhaft an den Hass, der mir entgegenschlug, als ich 1989 sagte: mindestens ein Vierteljahrhundert, wenn wir Glück haben. Nein, hieß es, nein, höchstens fünf Jahre, die kleine DDR steht, je nach Statistik, weltweit auf Platz zehn oder sechzehn aller Volkswirtschaften, und wenn nun die große BRD sie bei der Hand nimmt ... Der Wust westdeutscher Gesetze kam aber zu früh. Die Deutsche Mark ist zu früh gekommen. Sie zerstörte von einem Tag auf den nächsten die gedeihliche Zusammenarbeit mit den übrigen RGW-Staaten. Aber die Ostdeutschen wollten sich lieber von Kohl belügen lassen, als von Lafontaine die Wahrheit zu hören. (Vielleicht hat ja diese Erfahrung, kurz nach dem Attentat, ihn vollends zu dem populistischen Schaumschläger gemacht, der er heute leider ist.)
Inzwischen sind die fünf neuen Länder infrastrukturell vielleicht die weltweit modernste Region. Die Produktivität jedoch ist immer noch mäßig und weist nicht die in Westdeutschland selbstverständlichen Verdichtungstendenzen auf. Der Mittelstand ist äußerst kapitalschwach. Die Arbeitslosigkeit zwei- bis dreimal so hoch wie im Westen der Republik. Gleichzeitig kann der Westen jedoch nicht unbegrenzt weiter Transferleistungen erbringen, die ihn selber im internationalen Wettbewerb immer weiter zurückfallen lassen.
Warum bevorzugt man also nicht die fünf neuen Länder, ohne den Altbundesländern Geld abzunehmen? Warum schafft man keine Ergänzung der Verfassungsbestimmung über die anzustrebende Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse überall in Deutschland? Warum kann es im Osten der Republik keine Sonderwirtschaftszone geben, in der reduzierte Mehrwertsteuersätze eine unwiderstehliche Attraktivität entfalten? Da wäre die EU vor? Brüssels Wettbewerbskommissar würde das zu verhindern wissen, im Einklang mit geltendem Recht? Probiert es doch mal aus! Ihr werdet erleben, dass Europa viel lieber dummes Recht beugt, als sich auf unabsehbare Zeit mit dem schwächelnden Riesen Deutschland zu belasten!

Streicht die Hälfte der Gesetze, besonders der Steuergesetze! Ich meine nicht: Senkt die Steuern um die Hälfte, sondern missbraucht das Steuerrecht nicht länger als ordnungspolitisches Instrument! Steuerrecht ist für die Staatseinkünfte da, nicht für Ordnungspolitik. Wenn ihr eure Regelungswut nicht beherrschen könnt, dann regelt mit klaren gesetzlichen Ge- und Verboten, nicht auf dem Umweg über das Steuerrecht! Tut endlich mehr für Bildung, sonst werdet ihr erleben, dass die paar Kinder, die in Deutschland noch aufwachsen, nie die Chance bekommen, zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu werden, zu Erwerbstätigen mit allen Chancen am Arbeitsmarkt.
Dazu fehlt euch Geld? Dann streicht Subventionen, ganz und gar ungerecht, prozentual mit dem Rasenmäher. Investiert die Ersparnis in die Integration der dritten in Deutschland lebenden Ausländergeneration. Macht unser Land unabhängig von fossiler Energie, denn sie geht unaufhaltsam zuende. Investiert in die europäische Verteidigung, ohne euch aus den Nato-Verantwortlichkeiten zu lösen. Denkt vielleicht mal über eine Berufsarmee nach, denn einen Staat im Staate kann die Bundeswehr nie mehr bilden, und Berufsarmeen sind billiger und effektiver. Und macht die einfachen Handreichungen bei den sozialen Diensten endlich unabhängig vom Wehrdienst beziehungsweise seiner Verweigerung durch junge deutsche Männer. Führt endlich ein soziales Jahr ein für jede und jeden junge(n) Deutsche(n). Zu tun gibt es genug, vom versifften Stadtpark über die Essensausgabe bei der AWO bis zur Entsorgung des Stuhlgangs altersdementer Heimbewohner. Das riecht zwar streng, wird aber der Entwicklung obercooler Handyklingeltonspezialisten überhaupt nicht schaden.

Deutschland hat als Teil der karolingischen Erbmasse seine Kräfte ganz entschieden überspannt. Es blieb allein beim supranationalen Konzept, blieb herrschsüchtig und partikular, während anderswo Nationen entstanden. Die Nationen zerstückelten Deutschland nochmals gründlich im Dreißigjährigen Krieg, der neuzeitlichen Urkatastrophe. Preußen einte es - und überspannte gleich wieder Anspruch wie Kräfte. Das Resultat: erneute Teilung, nach dem Ersten Weltkrieg und erst recht nach den Gräueltaten Nazideutschlands vor und im Zweiten Weltkrieg. Nun ist Deutschland erstmals in seiner Geschichte ganz, friedlich und eingebunden - ein nahezu idealer Zustand, den es zu bewahren gilt, und nicht erneut aufs Spiel zu setzen im wirtschaftlichen Umbruch. Denn, was passiert, wenn dieses Deutschland, in seiner ungemein prekären Mittellage, nochmals aus der Reihe tanzt, als Möchtegern-Hegemon auftritt, um von inneren und ökonomischen Schwierigkeiten abzulenken, das schlägt die Schauerlichkeit des schauerlichsten Splatter-Computerspiels um Längen.

An jene, die den politischen Prozess in Deutschland gestalten, eine Mahnung: Am wichtigsten ist, dass, wenn ihr auf Grundlage allen abrufbaren Fachwissens eine politische Entscheidung getroffen habt, ohne es euch leicht zu machen, nach bestem Wissen und Gewissen - dass ihr dann einmal dabei bleibt und nicht gleich wieder einknickt, sobald sich zartester Widerstand regt. Sonst blamiert ihr die Demokratie und den organisierten Machtwechsel. Sonst macht ihr euch zum Gespött. Sonst ebnet ihr jenen den Weg, die null Gewissen und wenig Kenntnis verbinden mit großer Durchsetzungskraft. Sie stehen in den Startlöchern, glaubt mir!
 
Und so haben wir denn doch noch einen Kreis geschlossen, haben den Orbis rund gemacht und stehen wieder am Anfang, in Kastalien, der pädagogischen Provinz des Glasperlenspiels.


Skandinavien
von
Dimitrij Samjatin, praefectus strategus
(September 2004)

Ebendiese pädagogische Provinz haben die skandinavischen Staaten gar nicht nötig, wie mir scheint, sieht man einmal davon ab, dass wir Norwegen ganz gern in der EU hätten, um nach der Ost- auch die Nordsee geostrategisch zum Mare Nostrum zu machen. Nun könnten wir natürlich CNM und den Vereinigten Staaten ein Tauschgeschäft anbieten: Helft ihr uns, Norwegen in die EU zu bringen, dann helfen wir euch, Schweden und Finnland in die Nato zu bringen, damit endlich der unreife Zustand der „backdoor guarantee" sein verdientes Ende findet - bei den Akten.
Aber das machen wir ausdrücklich nicht, zumindest nicht jetzt, dann es würde die Nerven auf russischer Seite endgültig zerreißen. Das aber gilt es auf jeden Fall zu verhindern, besonders, seit Putin geschwächt aus dem jüngsten tschetschenischen Geiseldrama hervorgegangen ist, und der militärisch-industrielle Komplex Russlands händeringend nach irgendeinem Konflikt sucht, den man mit Bravour bestehen kann, irgendein Husarenstückchen mit der Ostseeflotte, in der Exklave Kaliningrad, im Finnischen Meerbusen oder an der russisch-finnischen Landgrenze, irgendetwas, das den verunsicherten Menschen Russlands zeigt: Ihr seid beschützt, eure Sicherheit liegt in guten, kraftvollen Händen (und sei es auch nur, um Russlands Faschisten Wind aus den Segeln zu nehmen).
Nein! Dort wird künftig noch ein bisschen leiser aufgetreten, wenn es nach uns geht!
Was war nun mit  der pädagogischen Provinz? Wie kommt es, dass die Skandinavier, dass Dänen, Norweger, Schweden und Finnen in fast jeder Hinsicht vorbildlich sind? Bei der Entwicklungshilfe, im Schulwesen, beim Vollzug freiheitlicher Demokratie, bei Friedensmissionen und beim Reformtempo in Zeiten der Globalisierung? Auf jeder Ebene der Zivilgesellschaft? In die Wiege gelegt war es ihnen ja nun beileibe nicht, eher im Gegenteil:

Die Römer waren von Süden den Rhein hinab gekommen. Die Nordmänner schifften rheinaufwärts, wenn auch nur, um zu plündern und nicht, um diese Wasserstraße so systematisch zu nutzen, wie, sagen wir Wolga oder Dnjepr. So kam es dann, dass Dänen, Schweden und Norweger sich die britischen Inseln unterwarfen, Teile Nordfrankreichs, in Italien mit kurzlebigen Staatsgründungen Furore machten und in Russland mit dem Kiewer Reich, nicht zu reden von den Warägergarden Konstantinopels, Island, oder den Fahrten Leif Eriksons und Eriks des Roten nach Amerika. Das Kiewer Reich ging in Russland auf, Sizilien wurde von den Staufern geerbt, und die Normandie war einerseits Basis Heinrichs des Eroberers und sollte andererseits zu einem der Angelpunkte des Hundertjährigen Kriegs werden. Aber das war nicht das schlimmste Verhängnis, das die Nordleute über uns brachten. Am schlimmsten für unsere Schöpfung, das karolingische Europa, war die Tatsache, dass es unter dieser dritten Geißel, nach Sarazenen und Madjaren, (legen Sie hier die Reihenfolge bitte nicht auf die Goldwaage!)  endgültig in die Knie ging. Nachdem sie allerhand kaputtgeschlagen hatten, verschwanden die Nordmänner, wie sie gekommen waren. Diejenigen, die in ihren Eroberungen blieben, hausten dort weiter, doch ihre Herkunftsländer, aus denen sie aufgebrochen waren, aus Gründen, die wir immer noch nicht völlig nachvollziehen können, lagen fortan sehr weit an der Peripherie des Kontinents. In der Hanse spielten sie dann erstmals wieder eine große, konstruktive Rolle. Schweden expandierte im Dreißigjährigen Krieg und schnitt Russland jahrhundertlang von der Ostsee ab - aber ansonsten?

Es ist ein Unterschied, ob man von der Hauptachse des Geschehens spricht oder vom weit entfernten und gelegentlich zudem äußerst feindseligen Vorposten der europäischen Zivilisation. Oh - natürlich für die Menschen ist der Unterschied nicht groß, nur für die Wirkung ihrer Taten im Gesamtbild. Vielleicht hat sich ja aus dieser resignativen Einsicht die Tugend entwickelt, zunächst einmal vor der eigenen Haustüre zu kehren. Dann kam vielleicht die Einsicht hinzu, dass es sich ohne Streit mit dem Nachbarn angenehmer lebt. Und nachdem heutzutage Tourismus dem Fernweh und der Sehnsucht auszubrechen ein Ventil verschafft, dürfte der Heerzug Karls XII. und seiner Schweden bis an die Grenzen der Türkei das letzte skandinavische Abenteuer dieser Art gewesen sein.

Ganz ausdrücklich an CNM gerichtet: Wir tasten Rolle und Funktion Grönlands nicht an. Dänemarks Regierung will das nicht. Grönland will das nicht. Und die Gründer wollen es erst recht nicht. Aus geostrategischer Rücksicht ist es völlig in Ordnung, wenn für die Sicherheit Grönlands die Vereinigten Staaten von Amerika zuständig sind, die auf Thule Air Base und den umliegenden Einrichtungen seit dem Zweiten Weltkrieg hervorragende Arbeit leisten. In aller Bescheidenheit erinnern wir daran, dass wir es waren, die 1951 für diese Lösung sorgten. Über Spitzbergen gibt es nicht viel zu sagen. Über Island ebenso: obwohl formell für das Land zuständig, verfolgen wir dort keinerlei eigene strategische Interessen und regen hier an, den Nordatlantik künftig frei zu halten von der Konkurrenz der Räte. Schaffen wir doch ein neutrales Gebiet, ähnlich den Antipoden, das CNM und COT dem militärischen Schutz der USA anvertrauen, ohne auf diesen Territorien in irgendeiner Weise noch politisch zu konkurrieren. Wir kennen das Risiko genau. Und wir wissen auch, dass CNM unser Angebot vermutlich als Zeichen von Schwäche missverstehen wird. Trotzdem halten wir unseren Vorschlag für sinnvoll - und wollen nichts unversucht lassen. Ja, wir hoffen sogar, dass Islands Teilnahme an der 4000 Mann starken multinationalen Verfügungstruppe, die von den skandinavischen Staaten aufgebaut wird, hierdurch keine Beeinträchtigung erfährt.

Von Dänemark hingegen hätten wir uns in der Irakfrage mehr europäische Disziplin gewünscht, wollen aber gern in Rechnung stellen, dass hier antideutsche Angstreflexe wirken, die wohl aus der Zeit des Sturms auf die Düppeler Schanzen stammen und im Zweiten Weltkrieg furchtbar bestätigt wurden. Man steht in Kopenhagen ungern aufseiten des riesigen Nachbarn, zumal wenn der einen Alleingang gegen Amerika zu wagen scheint. Sei’s drum. Wir verstehen auch, dass der Kleinstaat, dem einmal Norwegen gehört hat, ein bisschen der vergangenen Größe nachtrauert – aber den Euro könnten sie dennoch übernehmen! Und sie könnten ein bisschen besser auf ihre liberale Tradition beim Asyl- und Ausländerrecht achten.

Norwegen – fast sechzig Prozent seiner Menschen möchten der EU angehören. Kein Wunder, besagen die Handelsabkommen ja, dass Norwegen sich zwar den EU-Richtlinien zu unterwerfen hat, ohne jedoch irgendeinen Einfluss auf ihr Zustandekommen zu haben. Christliche Volkspartei dagegen, konservative Partei dafür, während die Liberalen eine Volksabstimmung befürworten ... nun springt doch!

Schweden – hat einen hervorragenden Geheimdienst, dem wir für seine Hilfe bei der Ausräucherung Herrn Cosgraves herzlich danken. In Finnland ist der im Juni 2003 erfolgte Rücktritt der Ministerpräsidentin Jääteenmäki ein Beispiel für genau die Art von amerikanischer Einflussnahme auf Europas Binnenpolitik, die wir ablehnen.

Was wir wollen? Dass Skandinavien und Baltikum wieder miteinander verwachsen, unauflöslich, familiär, wirtschaftlich, politisch, nachbarschaftlich, kulturell. Wir wollen, dass die Ostsee sicher ist. Wir wollen die Pipelines, die russisches Gas nach dem Westen befördern, sicher machen und halten. Das schließt Russland an die westeuropäischen Märkte an. Das macht Deutschland und die EU unabhängiger vom Golföl. Es erlöst die Golfstaaten ein Stück weit aus den unzumutbaren Geschäftsbeziehungen mit dem moralisch verkommenen Westen. Ja! Rührend! Der Strategiepraefect der Gründer wird sarkastisch!

Aber wir haben literarisch, ja lyrisch begonnen, und wollen genauso enden: Für heute schließt Kastalien seine Schulen. Es war kein finnischer See, in dem Josef Knecht ertrank. Und für die Gischt von Schaffhausen kenne ich am Ufer manch norwegischen Fjords das Pendant, das nicht weniger atemberaubend rauscht, nur eben weit, weit weg, ein bisschen am Rande ...

Die britischen Inseln
von
Dimitrij Samjatin, praefectus strategus
(Oktober 2004)

Mit Schwung wirft man das septemberliche Netz aus Bodensee-Assoziationen wieder aus und erwähnt St. Gallen als iroschottische Gründung. Das Christentum hatte über Zentral- und Westfrankreich zuerst Schottland und Irland missioniert, und von Sankt Patricks grüner Insel kamen nun heilige Männer, um in Deutschlands finsteren Wäldern Gottes Wort zu predigen. Zum Beispiel Gallus nach Sankt Gallen. Oder, um den berühmtesten zu nennen - Bonifatius: Er missioniert die Sachsen, haut eine Eiche um, den heiligen Baum des Donnergottes, wird dennoch nicht strafweise vom Blitz erschlagen ... nette Legende!
Merken wir uns aber, dass sie das Wort verkünden, gegen die herrschenden Schwerter und Äxte! Merken wir uns, dass der katholische Glaube, gleich was später die Verbrechen der Kirche gewesen sein mögen, sich aus der Position ohnmächtiger Schwäche verbreitet hat, durch Überzeugung, gegen barbarische Gewalt, gegen die Löwen im Circus und unzählige Christenverfolgungen. Was er bot, dieser Glaube, rührte die Menschen jener Zeit offenbar so tief an, dass sie für ihren neuen Glauben auch Gefahr auf sich nahmen. Sie glaubten und wurden dafür verfolgt. Rom wollte sie nicht. Wir wollten sie nicht – und damals waren wir sehr mächtig. Durchgesetzt hat sich dennoch dieser neue Glaube. Gegen uns. Es gibt Arten von Überzeugungskraft, die sind durch noch so viel Gewalt nicht auszurotten.
Merken wir uns das.
Merken wir uns auch, dass 1620 ein Häufchen nach Holland verschlagener englischer Kongregationalisten auf der Mayflower nach Amerika segelt, um Plymouth zu gründen, eine Keimzelle Neuenglands. Der Weg, den die Ideen nehmen, ist oft seltsam. Habent sua fata ...

Lyra, die Leier und Leopold Bloom sieht Dampfwölkchen verpuffen über dem Guinnessboot - herzlichen Dank an Bertie Ahern für hervorragendes Management der irischen Ratspräsidentschaft, die nach den Verwerfungen des Jahres 2003 und dem Berlusconiflop viel Boden gut gemacht hat! Respekt auch für seine Bemühungen, den Dialog in und über Nordirland wieder in Gang zu bringen, insbesondere mit seinem britischen Amtskollegen. Vor dem Hintergrund der Irakproblematik, vor dem Hintergrund des in Den Haag anhängigen Verfahrens, mit dem die irische Regierung versucht, Großbritannien zur Schließung der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield zu zwingen, mit Sinn Fein im Parlament und der IRA in vielen Herzen – ist das eine beachtliche Leistung. Gelöst ist der Nordirlandkonflikt damit nicht, doch er scheint, nicht zuletzt dank entsprechender Initiative Bill Clintons, auf Dauer entmilitarisiert. Wir lassen Nordirland nicht aus den Augen, aber es spielt in unserer Morgenlage nicht mehr die prominente Rolle wie das Baskenland oder Korsika - in der Regel ein Indiz dafür, dass die Menschen einer Region besser miteinander klarkommen.

Wir haben gute Chancen, unsere Regionalkonflikte im Vereinigten Europa aufzulösen. Gewissheit gibt es jedoch nicht. Vielleicht schlummern im italienischen Mezzogiorno oder in den fünf neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland  Konfliktpotenziale ungeahnten Ausmaßes.

(Das ist das Wurzelwerk jeder Strategie: Widersprechende Überlegungen, es könnte gut gehen oder auch nicht. Wer richtig wählt, kommt aufs historische Siegerpodest. Wer falsch wählt, kann ernsthaftere und bessere Politik machen, kann der bessere Mensch sein - steht aber vor der Geschichte als Hanswurst dar. Deshalb meine Bitte an ein demokratisches Europa, das Politiker zunehmend kritisch begutachtet: Seid unbeugsam kritisch, aber fallt nicht auf einen Gutmenschenjournalismus herein, der ganz genau weiß, wie überall auf der Welt alles aussehen müsste, aber zugleich aus Gründen der political correctness verschweigt, in welch grausame Dilemmata die Entscheidungsträger manchmal verstrickt sind.
Beispiel: Putin. Sicher eine hoch problematische Figur, doch was man nach Beslan über ihn liest – in westlichen Medien – das ist scheinheilig bis zum Erbrechen. Wir haben Putins Kompromissbereitschaft erlebt, als es um unsere entführten legaten ging, kurz vor Veröffentlichung der Akte Narwa. Heute fragen wir uns, ob seine damalige Verhandlungsbereitschaft nicht ermutigend wirkte auf die Musical- und die Schulattentäter. Ist irgendwer interessiert an einem neuen Kosovo mit den Ausmaßen Russlands? Nein? Dann schwätzt auch nicht so billig daher!
Ausnahmen gibt es natürlich auch von diesem Appell: Natürlich sind die Vereinigten Staaten von Amerika berufen, die Wahl in Tschetschenien als undemokratisch zu geißeln. Wer sonst, als eine Regierung, die nur ins Amt kam, weil die Stimmauszählung rechtzeitig unterbrochen wurde, wäre dazu berufen ...
Aber auch in Westeuropa: Demontieren Sie ruhig weiter Putin! Wenn Putin weg ist, verübt der russische Auslandgeheimdienst wieder Attentate auf kritische westliche Journalisten. Aber ich bin mir sicher – bis dahin werden Sie Ihre Meinung längst wiederum und noch einmal gewendet haben, und der Osten ist wieder rot und leuchtet.
Ihr seid Meister des Wünschens. Wir sind Lehrlinge des Machens.)

Doch nach Irland! Irland dient uns als Kette am Anker. Die ewige Flankenmacht England verankert uns im atlantischen Raum während Irland an England hängt und es bindet. Stets hat Irland geholfen, Londons imperiales Gehabe zu bändigen und hat dabei starke kontinentale Bindungen gepflegt, von den Zeiten der Großen Spanischen Armada über Napoleon, bis zu den Iren der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die den Deutschen den Zweiten Weltkrieg so ungemein großmütig verzeihen konnten, schließlich ging der gegen den gemeinsamen Feind – England!

Diese Zeiten sind nun glücklich vorbei und nicht einmal Churchills strategische Vision von den drei Säulen des Westens – Empire, USA und Europäische Gemeinschaft – spielt noch irgendeine Rolle. Das Empire gibt es nicht mehr und Großbritannien hat sich der Europäischen Union angeschlossen.
Warum? Um Einfluss auf die europäischen Geschicke zu behalten. Whitehall hat nie im Traum daran gedacht, in der EU aufzugehen oder gar nationale Kernkompetenzen an die Gemeinschaft abzutreten. Großbritannien beteiligt sich nicht in fairer Weise an der Finanzierung der Union. Das Land wird am Pfund festhalten, an der privilegierten Partnerschaft mit den USA und an der Fuchsjagd. Bei Europa macht es nur mit, um zu bremsen. Da es sich, anders als zu Zeiten klassischer Gleichgewichtspolitik, keinen Festlandsdegen mehr leistet, der im permanenten Gerangel kontinentaler Mächte das Zünglein an der Waage spielt, während die Insel in alle Welt expandiert, steht es vor der schlichten Wahl: Draußen bleiben ohne Einfluss oder reingehen und beeinflussen. Und so haben wir denn das Vereinigte Königreich in unserer Mitte, nicht als integrationswilligen Partner, sondern als mentalen Insulaner, der verhindern will, dass das Festland zu einig oder gar mächtig wird. Frankreich wird die europäische Verfassung in der Volksabstimmung annehmen – aber England? Geht Europa ohne England?
Geht Europa mit England? Wie soll Europa gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit einem England gestalten, das mit Amerika dreist gemeinsame ECHELON-Sache gegen seine europäischen Partner macht – und dann auch noch, trotz Generalangriffs auf die Privatsphäre, die islamistische Provinz Londonistan nicht in den Griff bekommt? Man weiß alles – kann aber nichts tun? Ist das die Lösung? Dass in London, wie in Paris oder Berlin ganze islamistische Denkschulen davon träumen, zweierlei Recht einzuführen, neben dem englischen für die Ungläubigen das islamische Recht für die Gläubigen? Was macht London? Leerlaufenden Aktionismus. Panzer vor Heathrow. Sauber mit Washington abgestimmte Publicity. Wozu dann aber vorher diese ganze obsessive Datensammelwut?

Trotzdem dulden die Gründer den Anker im Atlantik. Trotzdem wollen wir Englands Einfluss gar nicht unbedingt beschneiden, weil uns an einem gegen Amerika gerichteten Europa nichts liegt. Vielleicht ist das Englands Schicksal, seine historische Aufgabe – während Amerika alle kontinentalen Verbündeten nachhaltig brüskiert, diese zu hindern, reflexhaft wichtige Bande zu kappen ... aber Schluss mit der Geschichtsphilosophie, sie ist ungefähr so ergiebig wie Mathematikbiologie. Fazit bleibt: England stört – und dennoch halten wir es in Europa. Fröhlich bekennen wir diese absurde Position.

Was wir nicht wollen, ist angelsächsischer Kapitalismus allenthalben. Mag die Insel sich arrangieren mit ihrem maroden Gesundheitswesen, mit den Gebissruinen in immer mehr lächelnden Gesichtern, mit flächendeckendem Eisenbahnchaos, hinkenden Menschen, denen durch einfaches orthopädisches Schuhwerk geholfen wäre oder den rituellen Wochenend-Kneipenschlägereien – Kontinentaleuropa braucht das alles nicht.
Vielleicht war die Entwicklung zwangsläufig: Vielleicht musste das Mutterland der industriellen Revolution ja dermaßen idiotische Gewerkschaften hervorbringen, dass es schließlich zu Frau Thatchers Politik keine Alternative mehr gab. Und, machen wir uns nichts vor, New Labour ist nichts anderes als Thatcherismus light und fast am Ende. Englands Außenhandelsbilanz verzeichnet Ausschläge ins Negative - und das wird nicht besser mit schwindenden Ölreserven in der Nordsee. Tony Blairs New Labour bekennt sich weder zum kontinentaleuropäischen Sozialstaatsmodell, das sozial Schwachen solange hilft, wie es irgend finanzierbar ist. Noch bekennt New Labour sich klar zum amerikanischen Modell, wo im Winter halt im Pappkarton erfriert, wer mit zwei Vollzeitjobs immer noch nicht die Miete für eine beheizbare Wohnung beisammenhat. Nur sehr große Nationen können sich derartige Menschenverachtung leisten, ohne am eigenen Ruf gestraft zu werden.
 
Hingegen Schottland und Wales zu dezentralisieren war ein schlauer Schachzug Tony Blairs. Was wäre mit einem Quäntchen Nachgiebigkeit zur rechten Zeit aus England geworden? Was, wenn England dem simplen Wunsch der nordamerikanischen Kolonien nachgegeben hätte: keine Besteuerung ohne Mitspracherecht? Die Welt würde heute regiert aus London. Und, egal, ob es Englands Truppen gelungen wäre,  Afghanistan zu erobern oder Hongkong oder sonst was – an der kombinierten transatlantischen Macht wäre niemand vorbeigekommen. CNM wäre nie entstanden, nach wie vor wären wir für Nordamerika zuständig. Der Faschismus wäre nicht hochgekommen und es hätte keine kommunistische Hemisphäre gegeben. Eine Winzigkeit nur hat England getrennt von der Weltherrschaft: der Sturz von ein paar Kisten Tee ins Bostoner Hafenwasser.

Heute müssen wir es nicht mehr dementieren: Obwohl James Cosgrave in Schweden gestellt wurde, hielt er sich, drei Jahre nach den Ereignissen auf der Bastei bei Dresden, meist in Großbritannien versteckt. Bei einer Sozialisation wie der seinigen – Eton und Oxford - sind wir auch heute noch gut beraten, herauszufinden, welcher Netzwerke er sich bediente, um die britische Politik zu manipulieren, denn was, wenn nicht dies, soll der Adlatus und Nachfolger seines großen Meisters De Kempenaer ausgerechnet in England getrieben haben? Wir sind jetzt sehr gespannt auf jeden noch so marginalen Kurswechsel Londons.

Ist England, wie die Presse fragt, ein borniertes kleines Völkchen mit unverdauten Empirereflexen? Versetzen wir uns doch in einen Durchschnittsbriten mit einem Durchschnittslebensalter! Was ist denn der biografische Horizont der britischen Urgroß- und Großelterngeneration? Definitiv das Empire. Vielleicht schmutzige, schäbige Arbeit, vielleicht riesige soziale Diskrepanz oder das Engagement in der Gewerkschaftsbewegung, doch als fester Hintergrund, als Folie, vor der sich alles bewegt: das Empire. Das (schon gar nicht mehr ganz zutreffende) Bewusstsein, dass England die Meere beherrscht, dass man Miteigentümer ist von Indien und Hongkong, im Vorderen Orient und in Afrika allerhand zu sagen hat, immer vorausgesetzt, man dämpft die hegemonialen Bestrebungen der Berliner Parvenüs. Die sind nämlich in der Tat gefährlich. Der andere große Gegner, Frankreich, den hat man längst abgehängt, vorbei die Zeiten, als Beaumarchais französische Kredite für die aufständischen Kolonien in Amerika vermittelte oder Napoleon die Kontinentalsperre verhängte! Aber Berlin? Den ersten Krieg hat man als Kleinkind noch erahnt, den zweiten hat man mit bestanden, an vorderster Front oder in der langen Schlange vor dem Bunker, wenn die Sirenen jaulten und die V2 kam. Das alles hat man ausgehalten, eine enorme Anspannung der letzten Kräfte. Und dann? Indien bricht weg. Der Suezfeldzug scheitert. Afrika bricht weg. Wirtschaftliche Sklerose. Der deutsche Kriegsgegner holt auf und überholt. Sogar Argentinien wird frech und muss im Falklandkrieg gedeckelt werden. Alles wird immer weniger. Und früher war alles besser ...
Dass so etwas massenpsychologisch nachwirkt, ist klar. Ebenso klar dürfte sein, dass England sich zum Lecken seiner Wunden auf sich selbst zurückzieht und noch eine Generation braucht, um möglicherweise, erlöst von imperialer Vergangenheit,  nach Europa zu wollen. Bis dahin muss uns seine Teilnahme am gemeinsamen Markt genügen. Sie wirkt. Und am Ende steht eben nicht die Freihandelszone mit gemeinsamer Währung, jedenfalls nicht, wenn der karolingische Kern entschlossen voranschreitet in Richtung politischer Union.

Gewiss wird England nicht der Versuchung widerstehen, Polen und Tschechien und die baltischen Staaten ein wenig unter seine Fittiche zu nehmen, wenn Chirac wieder einmal schulmeistert. Aber das sind innereuropäische Querelen, auch wenn die neuen Mitgliedsländer vielleicht auf Amerika schielen, wo sie Englands Freundschaft suchen.

Blair und Chirac: Hund und Katze.
Blair und Bush: Pudel und Herrchen.
Blair und Schröder: Wettbewerb konzeptions- und mittelloser Reformer.

Was ist das für ein Mann, der England derzeit regiert? Wenn es stimmt, dass er nach dem Ausscheiden aus seinem Amt zum Katholizismus konvertieren möchte – ein verhinderter Heinrich VIII.? Glaubt er selber, was er redet? Glaubt er den Beweisen, die er selber gefälscht hat? Saddams Bio- und Chemiewaffen, binnen 45 Minuten einsatzbereit? Oder weshalb folgte er George W. Bush in den Irak, ohne für seine blinde Gefolgschaft auch nur einen Hauch von Einfluss zu ergattern? Dass Washingtons Neocons geglaubt hatten, den Nahen Osten vielleicht demokratisieren oder auch nur stabilisieren zu können durch einen Einmarsch in den Irak, das mag ja noch angehen, ihre Beschränktheit ist legendär – aber doch nicht der britische Premier, der über Dienste und Apparate mit mehrhundertjähriger Kolonialerfahrung verfügt! Warum wischt so jemand die gesamte Expertise seiner Stäbe vom Tisch und stürzt sein Land kopfüber in den Fleischwolf Irak? Wir wissen es leider nicht genau. Aber wir haben einen furchtbaren Verdacht: Der Mann könnte an der Krankheit aller religiösen Renegaten leiden – dem Sendungsbewusstsein. Vielleicht funktionieren bestimmte Persönlichkeitstypen ja so, dass sie, bei aller Täuscherei, bei allem Tricksen, Lügen und Betrug im Kern doch wähnen, im höheren Auftrag zu handeln. Auch bei Bush, dem wiedererweckten Christen, meint man ja hin und wieder für Augenblicke – dass er seine eigenen Lügen glaubt. Bei Cheney - niemals.

Und dann diese Parteitagsäußerung! Natürlich braucht Blair sich nicht dafür zu entschuldigen, dass jetzt Saddam entmachtet ist. Entschuldigen, wenn man überhaupt Entschuldigungen in den politischen Maßnahmenkatalog aufnehmen sollte, kann er sich aber dafür, dass die Verbündeten einen Irak hinterlassen, der zum jetzigen Zeitpunkt noch schlimmer dran ist als unter Saddam. Nur - davon wurde nicht gesprochen in Brighton bei Labour.

Nun ist aber Großbritannien nicht Blair. Es hat auch das Unterhaus mit zwei Degenlängen und einer Handspanne Abstand zwischen den Bänken von Regierung und Opposition. Es hat ein hochgradig reformbedürftiges Oberhaus. Eine geschriebene Verfassung hat es nicht. Dafür hat es die Monarchie, die ohne Flugzeugabsturz oder letale Fischvergiftung auf den ältesten Sohn von Prince Charles zuläuft. So würde denn Elisabeth, vom Geist des 19. Jahrhunderts beseelt, unter Überspringung des 20. Jahrhunderts, das Szepter in die Hände eines jungen Mannes legen, der den größten Teil seines Lebens im 21. Jahrhundert verbringt. Das muss nicht schlecht sein für die Monarchie – und auch nicht für das Land. Wir jedenfalls haben keine Einwände gegen diese Monarchie, sie stabilisiert Großbritannien und gleicht den seelischen Haushalt der Briten in vorteilhafter Weise aus – und mit William vielleicht mehr, als mit Charles, der, betrachtet man nur seine Ansichten zur Architektur oder zu Ackerbau und Viehzucht, vielleicht ein bisschen zu skurril ist, um ein ganzes Land zu repräsentieren. Andererseits – wir sprechen von England, wo Skurrilität noch nie als Hindernis galt.

Die City bleibt, trotz Selbstisolation im Pfund, dank ihrer schieren Professionalität weiterhin Knotenpunkt der Weltfinanzmärkte. Den Versuchen, sich dort einzukaufen, zum Beispiel den deutschen, haftet etwas rührend Linkisches an. Nicht die Währung sondern das Personal entscheidet hier.

Fleet Street ist ein trauriges Kapitel, das den französischen Staatspräsidenten zum Wurm und den Deutschen an sich zum ewig Hacken knallenden Nazi herabwürdigt. Man könnte die Exzesse leichter aushalten, wenn sie nicht an britischen Schulen wirkten, wo deutsche Schüler es längst ziemlich schwer haben, wo Ausgrenzung und Mobbing mit Nazivorwürfen längst Alltag sind. Die BBC hingegen wird sich aus dem Sumpf der Irakkriegsberichterstattung zuverlässig wieder herausarbeiten und weiterhin der Spitzengruppe internationaler seriöser Medien angehören.

Tee gibt es immer noch um fünf, auch für emigrierte russische Oligarchen wie Beresowski. Ich persönlich vermisse Sir Peter Ustinov und verachte Sir Mick Jagger dafür, dass er, um Rock&Roll zu leben, anlässlich seines Ritterschlags ausgerechnet den Hoflakeien demütigt, der ihm die Autotür aufmachen soll. Vom täglichen Sundowner rät mir der Arzt ab. Das Wetten hat noch nie zu meinen Lastern gehört. Pferde sehe ich zwar gern, aber hinwiederum nicht gern genug, um mir fürs Rennen den Zylinder aufzusetzen. Diana war eine banale blöde Kuh, die aber für ihr Engagement gegen Landminen großen Respekt verdient. Candle in the Wind ... Elton John huscht manchmal um meine Ecke auf dem Weg vom Restaurant in seine venezianische Eigentumswohnung. Und so könnte sich denn der Kreis schließen, wir alle könnten, Fukuyama beipflichtend, das Ende der Geschichte deklarieren, gäbe es da nicht noch China und den Islamismus und den Klimawandel.

Das englische Archiv ist wieder aufgebaut. Wir werden die Verwüstungen Cosgraves aufräumen. Es gab in England eine Niederlage. Wir sind in Englan
d wieder aufgestanden.

Die Gründer und der Neuweltrat
von
Adam Bonaventura Czartoryski, princeps consilii
(Oktober 2004)

Mein Thema ist Amerika. Mein Fehler war Florida im Jahr 2000. Mein Zögern ermöglichte Gerrit Daniel de Kempenaers Flucht. Meine Engelsgeduld schuf ihm Gelegenheit, im trauten Wechselspiel mit neokonservativen Trupps fürs Schmuddelige Wählerlisten und Wahlmaschinen zu manipulieren und Intrigen bis in den Obersten Gerichtshof zu spinnen. Gegen alle Mitglieder des Rates, auch gegen meinen successor, hielt ich an falschen Beschlüssen fest. Nun ist es einmal ausgesprochen, und muss damit gut sein!

Interessanter für unser Verhältnis zu CNM ist die Frage, was De Kempenaer eigentlich gewollt hat, was er bezweckte mit seinem Eingriff in die amerikanische Präsidentschaftswahl 2000.
Dazu muss ich ausholen. Wenn man einer Gruppe wie der unsrigen vorsteht, hat man die Wahl: Tun wir, was die Macht der Gründer stärkt – oder tun wir, was die Macht unseres Raumes stärkt? Das ist nicht deckungsgleich.
In jeder nichttotalitären Ordnung maximiert Konflikthaltigkeit das Einflusspotenzial einzelner starker Player. Divide et impera, sprich: Die Gründer haben in ihrem Raum umso mehr Macht, als ihr Raum von inneren Konflikten durchzogen wird. Die Entscheidung von princeps und successor, die Entscheidung vor der jeder praefect, jeder magister, jeder legat täglich mehrfach steht ist: Diene ich dem Egoismus der Gründer oder stelle ich mich selbstlos in den Dienst meines Raumes?
De Kempenaer nun hatte sich für die erste Alternative entschieden, während die Mehrheit der Gründer täglich mit dem Dilemma lebt.
Anderen Räten bleibt das erspart, insbesondere jenen, die Einzelstaaten führen, wie COR, CMO oder, wenn man Kanada vernachlässigt, eben dem Neuweltrat mit USA. Es war ja auch kein Zufall, dass der Orakalrat vor rund zweitausend Jahren nicht in einem zersplitterten Europa sondern im Römische Kaiserreich auf dem Höhepunkt seiner Macht Marcus Vipsanius Agrippa aufsuchte. Schaut man nur auf die Einheit, dann haben wir unsere Sache seither nicht besonders gut gemacht. Zieht man die Lebensqualität in Betracht, könnte man unsere Leistung durchaus schätzen.
Wie dem auch sei - wir Gründer leben mit dem strukturellen Handicap. Wir teilen es mit CID, CLU, CEB und CNO – doch eben nicht mit CNM. Gerrit Daniel de Kempenaer hatte, wie schon gesagt, eine klare Meinung zu unserem Handicap, keine verantwortungsbewusste oder menschenfreundliche Meinung, doch eine sehr klare. Er zog in jeder Hinsicht den Vorteil der Gründer dem Vorteil unseres Raumes vor. Das war seine mentale Ausgangslage. Historisch sah er die unaufhaltsam wachsende Bedrohung durch den Islamismus. Es gab einen tumben Präsidentschaftskandidaten, Aushängeschild, ja Marionette von Neokonservativen, die ein neues amerikanisches Jahrhundert erträumten. Bush war die Garantie für Randale. Gleichwie die Ereignisse im Detail abliefen, berechnete De Kempenaer:
Ein Wahlsieg Bushs entzweit Amerika und die Welt.
Ein Wahlsieg Bushs entzweit Amerika und den Islam.
Ein Wahlsieg Bushs beendet einstweilen die amerikanischen Bemühungen in Nahost.
Ein Wahlsieg Bushs entfremdet die beiden Säulen des Westens – Amerika und Europa.
Ein Wahlsieg Bushs entfremdet EU-Europa und NATO-Europa.

Das war, als hätte man einem räudigen Köter Pansen hingeworfen. De Kempenaer konnte gar nicht anders, als für den Wahlsieg Bushs zu arbeiten, so wie heute die härtesten Islamisten nichts sehnlicher wünschen, als den erneuten Sieg Bushs, weil der die Konflikte zuverlässig unlösbar macht.

Aber ich sollte mich verbal mäßigen - besonders ich - als spät berufener Gegner De Kempenaers. Gerade ich sollte mich hüten, in die Klischees des Hasses zu verfallen. Ich nehme daher den völlig deplatzierten „räudigen Köter“ zurück und zum Anlass, über den Begriff der Feigheit nachzudenken.
So heißt es doch immer: „feiger Terroranschlag“. Mich regt die Wortkombination furchtbar auf. Vielleicht eine Folge des Alters. Man hofft zwar, im Alter gelassener zu werden, aber ich bekenne freimütig: Das mag anderen geschenkt sein, mir nicht, mich versetzt die Wortkombination in rasenden Zorn.
Ist ein verdeckt operierender Kämpfer feige, wenn er, wie in Madrid, versucht, seinen Einsatz zu überleben? Was ist an Leuten feige, die für ihre idiotischen Ziele ihr Leben opfern? Diese Männer und Frauen sind todesmutig. Wir würden sehr viel leichter mit ihnen fertig, wären sie Feiglinge. Doch jemand, der sein Leben aufs Spiel setzt, und seien es die Täter von Beslan oder des 11. September 2001 ist offensichtlich mutig. Sie sind verabscheuenswürdig grausam, sie töten wahllos, wie in New York oder selektieren die Schwächsten, wie in Beslan, aber sie opfern ihr eigenes Leben (bis auf den einen). Warum nennt man sie dann feige? Warum pressen wir die ganze Verurteilung, unseren Abscheu, die Wut, den Hass, die Trauer in das offenkundig falsche Wort „feige“?

Was ist von einer profitorientierten Spaßgesellschaft zu halten, die sich nicht traut, die wieder auferstandenen Heere des Propheten auch nur beim Namen zu nennen?
Warum brabbeln wir: „feige“?
Warum sagen wir nicht: Der Islam ist eine von Anfang an kriegerische Religion, ein Glaube, der sich nicht durch Überzeugungskraft ausbreitete. Der Prophet Mohammed kam ohne Krieg nicht einmal aus dem Exil in Medina nach Mekka zurück. Mag sein, Allah führte dabei sein Schwert. Aber er führte eben das Schwert und nicht das Wort. Nicht mit dem Koran, sondern mit dem Schwert in der Hand wurde Mekka erobert. Die Wirkung des Worts wurde nicht auf die Probe gestellt. Der Prophet kam nicht in Frieden und predigte den Menschen von Mekka, bis sie an Allahs geoffenbartes Wort glaubten. Nein. Er eroberte Mekka.
Und in der Folge? Da hat der Islam immer nur blutig erobert. Die Überzeugungskraft seiner Argumente, sein Charisma, hat er nie erprobt. Er hatte nur eine zeitlang das schärfere Schwert.

Seine kulturellen Höchstleistungen schmälert das kein bisschen, nicht die Pracht und zeitweilige Toleranz Andalusiens, nicht die Kalifate von Bagdad und Damaskus, nicht das goldene Istanbul, nicht Basras Waren- und Menschen wimmelnde Häfen. Nicht die Überlieferung des antiken Schrifttums. Nicht die Verbreitung jener Ziffern, mit denen heute die Welt rechnet. Die begnadeten Ärzte. Die Baumeister. Die Meister der Bewässerung. Die Bäder. Der Duft des großen Basars. Eine Mystik, die dem Menschen fast auf den Grund der Seele blickt. Die Gärten.

Schade, dass die Gärten immer nur auf fremdem, geraubtem Boden angelegt wurden!
So wie der Palast unseres römischen Statthalters in Hierosolyma.
So wie die Twin Towers auf den Gräbern der Indianer.

Mein Thema ist Amerika.

Aber Fakt bleibt, dass nicht in Mekka und Medina, nicht im Jemen oder an den langen Küsten Arabiens, nicht im Ursprungsland des Islam eine Hochkultur entstand. Nein, sie entstand auf dem Rücken unterjochter, besiegter Menschen. Anderswo. Im Geraubten.
Entweder, die Zeit des Raubens ist vorbei, oder die Menschheit ist vorbei.

Und genau das ist es, was wir im Kern des militanten Islamismus finden: den Tod um des Todes willen. Den Tod für alle, auch für jene, die an ein ewiges Leben nicht glauben. Den Wunsch, die Welt zu erobern, um sie reif zu machen für ihren Untergang. Wir haben es mit bekennenden Apokalyptikern zu tun. Wir lieben das Leben. Sie lieben den Tod. Wir müssen ihnen die Macht nehmen, über mehr zu entscheiden, als über ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod.

Warum brabbeln wir „feige“? Weil wir es gern so hätten, obwohl es offensichtlich falsch ist? Warum sprechen wir nicht die komplizierte Wahrheit aus, die da heißt: Wir müssen mit unseren friedlichen, vielfach liebenswerten muslimischen Nachbarn inner- und außerhalb unserer Grenzen in Frieden leben. Doch das erneut gegen uns gezogene Schwert, den islamistischen Terror, müssen wir vernichten. Am schwierigsten dabei: Wir müssen beide Aufgaben zugleich erledigen und sauber voneinander trennen.
Wir, die Gründer und unser Raum, verfügen über 1370 Jahre Erfahrung mit diesem Spagat. Unser Hauptverbündeter jedoch, das junge Amerika, hat sich nicht nur für unbesiegbar gehalten, sondern sogar für unangreifbar, und steht seit dem 11. September 2001 so sehr unter Schock, dass es mit seiner hysterischen Reaktion dem Feind das Vorgehen ziemlich leicht macht. So die erste Version der Ereignisse.
Die zweite Version ist zu schrecklich, um sie jetzt noch öffentlich zu erörtern. Unsere diesbezüglichen Fragen sind in der Akte 9/11 nachzulesen. Gesprochen wird hierüber nur in abhörsicheren Räumen.

Mein Thema ist: Amerika. Land of the free. Your land, my land. Sehnsucht der Pilgerväter. Hafen der Mayflower. City on the hill. Unter diesem Hügel bibelfester Überheblichkeit die Knochen eines beinah ausgerotteten Volkes. Am Fuß des Hügels die Nachfahren schwarzer Sklaven und Latino-Einwanderer. Auf der Spitze des Hügels WASP, white, anglo-saxon, protestant. Nunja – ein bisschen was davon trifft sicher zu.
Hoffnung unzähliger Einwanderer. Integrationsfähigstes Land der Welt. Ihre älteste Demokratie. Die vielleicht beste Verfassung. Checks and balances. Das demokratische Immunsystem des Westens. Sieger, Retter der Welt vor zwei totalitären Systemen. Opfermutig im Zweiten Weltkrieg und in Korea. Zäh, verschlagen und geduldig im Kalten Krieg. So klug und menschlich und strategisch weitblickend in Nachkriegsdeutschland ...

Wer bin ich schon, euch eure Strategie vorzudeklinieren? Niemand. Nichts. Mich und alles, was sich in einem Radius von zehntausend Meilen um mich herum befindet, könnt ihr nach Belieben pulverisieren, jetzt, in dieser Sekunde, ohne dass ich das geringste dagegen tun kann. In euren Händen haltet ihr die größte Machtansammlung, die der Geschichtsschreibung bekannt ist.
Andererseits seid ihr gerade mal gut zweihundert Jahre alt. Wir aber zählen reichlich zweitausend. Und leben immer noch.
Wahrscheinlich haltet ihr uns nicht für besonders hilfreiche Freunde. Wahrscheinlich, und sogar mit gewissem Recht, haltet ihr uns für undankbar. Aber im Tiefsten wisst ihr doch, dass ihr und wir zusammengehören, weil ihr von uns her kommt. Deshalb, und vielleicht, weil wir die lange Distanz geschafft haben, hört einmal zu!

Man gewinnt keinen Krieg, auch nicht mit all eurer Macht, wenn man blindlings in ein kleines Messer stolpert. Ihr wurdet von Apokalyptikern angegriffen und habt die Antwort Apokalyptikern überlassen. Woran man einen Apokalyptiker erkennt? Das sind die Menschen, die am lautesten schreien, was gut ist und was böse. Das sind die schwarzweißen. Ein Grauer ist vielleicht unsympathisch – doch nie Apokalyptiker.

Wählt die Apokalyptiker ab! Noch liegt Bush ja nur bei den Umfragen vorn, nicht bei der mutmaßlichen Zusammensetzung der Wahlmänner. Verwandelt die Mehrheit gegen Bush in eine Mehrheit für Kerry! Wie wirken die Hurricans in Florida? Macht der Gouverneur eine gute Figur, der kleine Bruder des Präsidenten? Oder sind die Menschen so schockiert und aufgerüttelt von der Macht des Klimawandels, dass sie anfangen, über Amerikas Umweltpolitik nachzudenken? Was bewirkt Michael Moore im gutbürgerlichen Segment der Demokraten? Wie wirkt Kitty Kelleys Buch? Heizt es nur die Stimmung des ohnehin bushfeindlichen Clinton-Amerika an, oder empört die Drückebergerei des heutigen Präsidenten im Vietnamkrieg auch ein paar texanische Roughnecks? Haben die dreißig Konzerte junge Wähler für Kerry mobilisiert? Es könnten wieder wenige tausend Stimmen entscheiden. Sieben Prozent Unentschlossene. Seid ihr sicher, dass ihr richtig rechnet bei den Wahlmännern? Habt ihr wirklich alle Folgen der geschickt auf republikanische Bedürfnisse neu zugeschnittenen Wahlkreise einkalkuliert? Ziehen sie im letzten Moment den Sudan aus dem Hut? Ein humanitärer Einsatz? Ein Kriegseinsatz gegen das iranische Atomprogramm dürfte wohl vor der Wahl höchstens vonseiten Tel Avivs erfolgen. Es heißt zwar, Amerika wählt keinen Präsidenten im Krieg ab, aber Krieg hat er ja nun zur Genüge. Außerdem haben Schröder und Chirac in Sotschi Putin ins Boot geholt gegen Teheran. Und dass die diesbezüglichen Aktivitäten des offiziellen Russland allein zum Aufbau von Verhandlungsmasse dienen, ist euch doch geläufig, oder? Habt ihr Gewähr, dass alle Wahlmaschinen sauber arbeiten? Oder wird jetzt, ohne nachzählbare Quittung, Florida wieder „auf dem Silbertablett serviert"?  Habt ihr nichts übersehen? Wie viele Stimmen bringt das liberalisierte Schusswaffengesetz den Republikanern - und was bringt die landesweite Unterstützung vieler Polizisten Kerry? Was macht Theresa? Denkt an Clintons Bypässe - der Mann musste aus gutem Grund mit Atemnot und Herzbeschwerden ins Krankenhaus, der weiß, dass es spitz auf knopf steht. Punktet Kerry genug im Fernsehen? Schafft die Apokalyptiker ab! Meinethalben fälscht die Wahl, um die vorherige Fälschung zu korrigieren. Damit seid ihr zwar weder Neocons noch religiöse Rechte los, doch immerhin ihren aktuellen Vollstrecker im Weißen Haus.

Dass die unipolare Weltsekunde vorbei ist, erweist sich täglich auf den Straßen des Irak. Doch reden wir vom neuen amerikanischen Jahrhundert!
Zum Pazifik äußere ich mich hier nicht. Zum Atlantik hat mein Strategiepraefect das Wichtigste gesagt. Im Nahen Osten habt ihr zwar die Macht, alles kaputt zu schlagen. Aber ihr habt nicht die Macht, aufzubauen, was euch gefällt. Ihr könnt alles vernichten, doch nichts gestalten. In diesem Punkt seid ihr den Terroristen sehr ähnlich. Ich weiß, ihr habt die besseren Absichten, und seid versichert, ich stehe an eurer Seite. Aber gibt es euch nicht zu denken, dass niemand - abgesehen von Israel und ein paar korrupten Ölscheichs - euch noch zuhört in der Region? Wisst ihr nicht, dass ihr dort jedes Vertrauen verspielt habt? Obwohl - bei Abwesenheit der Amerikaner wirkt der american way of life durchaus anziehend auf Teile der arabischen Jugend, ein Pfund, mit dem sich wuchern ließe.
Nicht einmal Israel traut euch doch ganz, ihm genügt nicht der Einfluss, den es über Wolfowitz und Perle ganz offiziell ausübt, nein, es schleust zudem noch Spione ins Pentagon.
Ihr seid im Irak dem Islamismus ins offene Messer gerannt. Weil ihr jede dämliche Herausforderung annehmen müsst. Weil ihr euch nicht entschließen könnt, sie am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Weil ihr Politik nicht für den strategischen Erfolg macht, sondern fürs heimische Fernsehpublikum.
Die Folgen, wenn ihr euch nun zurückzieht, werden schrecklich: Zerfall des Irak, Triumph der Terroristen und ein zweites riesiges Afghanistan mit Öl im Boden, nahe bei Israel, grenzend an die Türkei und mit Zugang zum Persischen Golf. Die Folgen, wenn ihr bleibt, sind möglicherweise schrecklicher, aber zum Bleiben gibt es keine Alternative.

Dass Staaten sich des Terrors bedienen, haben wir gelernt, zum Beispiel von Libyen. Nun stehen wir dem Phänomen gegenüber, dass der Terror ganze Staaten kapert, ob wir sie nun allein lassen, wie früher Afghanistan - oder ob wir sie besetzen, wie Afghanistan heute oder eben den Irak. Ist Tschetschenien militärisch lösbar? Die Palästinensergebiete? Diesen Phänomenen werden wir durch klassischen Militäreinsatz nicht mehr gerecht. Trotzdem müssen wir eingestehen, dass es oft keine Alternative zum Militäreinsatz gibt.
Und zeigt nicht das Beispiel Afghanistan, dass Militäreinsatz erfolgreich sein kann, zumindest partiell?
Die Antwort hängt davon ab, wie man die Lage bewertet. Entstehen dort ganz langsam zivile Infrastrukturen und Vorformen der Demokratie, die das Land tief genug befrieden, dass der Bürgerkrieg auch dann nicht wieder ausbricht, wenn die westlichen Truppen demnächst abrücken?
Oder binden Warlords und Mudschaheddin nur die Krawatte um und kassieren internationale Hilfsgelder ab, solange fremde Truppen im Land stehen, um schließlich, nach deren Abzug, ihre oberflächliche Friedfertigkeit gleich wieder aufzugeben? Bis dahin ist es ja recht praktisch, unter internationalem Schutz Mohn anzubauen ...
Die Zukunft wird es zeigen.
Die Gegenwart im Irak macht jedoch eindringlich klar, wie vollkommen ein Militäreinsatz scheitern kann.
Der zivile Aufbau wird keinen Terroristen beeindrucken. Schulen und Krankenhäuser, Wasserwerke und Stromleitungen, die wir dort bauen, verhindern keine Geiselnahme, keinen Sprengstoffanschlag und keinen Raketenangriff. Was sie allenfalls erreichen: Sie verlangsamen das Rekrutierungstempo des Terrors. Sie verschaffen uns die Zeit, Alltagssicherheit massiv zu irakisieren, einen irakischen Inlandsgeheimdienst aufzubauen. Ein rigides Grenzregime zu errichten mit Luftüberwachung und mobilen Einsatzteams, um Waffen- und Menschenströme zu unterbinden.
Wir müssen dort, nachdem wir einmal drin sind, zwanzig Jahre bleiben. Amerika, das hineinwollte, muss jetzt bleiben und kann den schwarzen Peter nicht an Europa weiterreichen. Zurückziehen kann Amerika sich nur, wenn Rückzug überlebenswichtig wird. Lasst uns vorläufig eine Lehre ziehen: Mit Afghanistan und Irak haben wir genug geschultert. Wir brauchen keine weiteren Länder besetzen! Schon gar nicht den Iran! Wenn dort gehandelt werden muss, dann reicht eine kombinierte Aktion von Mossad, CIA, israelischer Luftwaffe und – wir stehen zur Verfügung – Schwarzen Händen.
Achtung, jetzt wird es ironisch: Nicht, dass wir uns dort auskennen würden! Es ist zwar schon ein Loredan dorthin gereist, doch selbstverständlich wissen wir nicht, wovon wir reden, da weiß die Fälscherpipeline vom Pentagon zum Weißen Haus sehr viel besser Bescheid!

Ich könnte es mir so leicht machen. Ich könnte krakelen: Schafft Bush ab! Sein Nachfolger Kerry kann den unvermeidlichen Gesichtsverlust in vertretbaren Grenzen halten, denn eins ist klar – ihr müsst da wieder raus. Und ihr habt keine Exitstrategie. Und Powell, der über solche Strategien nachgedacht hat, habt ihr aus dem Zentrum der Macht verdrängt. Ein bedeutender Patriot, trotz UN-Lügen! Er nimmt es auf sich, mit der Schlange Rice und dem alten Krokodil Rumsfeld im selben Atemzug genannt zu werden. Er scheut die Nähe zu Wolfowitz nicht und nicht die Nähe zum korrupten Vizepräsidenten. Nein, er bleibt auf dem Posten, um das Unvermeidliche zu exekutieren, sollte es zur zweiten Amtszeit kommen. Raus da! Ihr könnt das nicht gewinnen! Seid zynisch! Überlasst den Scherbenhaufen sich selbst! Der Krieg ist nur zu gewinnen, wenn ihr in dieser Schlacht nicht verblutet. Verjagt Bush. Lasst Kerry Präsident werden, das minimiert den Schaden!

So leicht ist es aber nicht. Um zu zeigen, dass ich euch verstehe, werde ich den verführerischen Gedanken trotzdem zuende denken – um ihn dann mit ein paar Sätzen ad absurdum zu führen. Was wäre also wenn der Feind ...

Ich sage nicht „Gegner“ oder „Rivale“, weil der Feind für uns unter keinen Umständen etwas anderes vorsieht, als den Tod. Ihn stört nicht, was wir tun. Ihn stört, dass es uns gibt. Ich sage auch nicht „feige“. Ich sage einfach „Feind“.
Was hätte nun der Feind gewonnen, nach eurem Rückzug aus dem Irak? Gar nichts. Im Gegenteil. Er würde sich die Haare raufen. Um diese logische Lücke zu bemänteln heißt es ja auch rituell in Bin Ladens Propagandavideos: „Amerika kann im Irak verbluten, oder sich aus dem Irak zurückziehen und alles verlieren ...“. Der erste Teil ist in sich stimmig. Der zweite durchaus nicht. Amerika verliert nämlich durchaus nicht so furchtbar viel bei einem Rückzug - nur sein Gesicht. Das hat es aber dort gar nicht mehr. Was sollte schlimmer sein, denn als der „große Satan" zu gelten? Gut, ja, wenn der „große Satan"  abhaut, werden sie johlen, sie werden sich ermutigt fühlen, doch was ändert das an der strategischen Bilanz? Es gäbe lediglich das Vermittlungsproblem im eigenen Land, daheim in den USA.
Ein Rückzug entzieht den Terroristen bei den islamischen Völkern einen Großteil der Legitimation, besonders wenn er verbunden wäre mit erkennbaren Bemühungen um die Etablierung eines Palästinenserstaates. Allerdings, auch das muss gesagt werden, macht ein Rückzug die Terroristen zu Helden und wird ihnen, zumindest kurzfristig, bei der Rekrutierung neuer Kräfte helfen. Ob sie allerdings auf diese Weise mehr Zulauf bekämen als jetzt ohnehin schon, bliebe abzuwarten.
Ein Rückzug reduziert die Zahl ihrer leichten Ziele. Dort bewegen sie sich, als Guerilla, wie der Fisch im Wasser. Zu uns zu kommen, würden die wenigsten von ihnen schaffen.
Ein Rückzug stellt sie vor die Alternative: Ducken wir uns unter das Regime der friedlichen Mehrheit oder treten wir hervor und versuchen, Gestaltungsmacht über das Land zu gewinnen. Nicht Vernichtungsmacht, sondern Gestaltungsmacht. Vernichtungsmacht kann anonym bleiben. Gestaltungsmacht muss sich zeigen und gerät in unsere Zielerfassung.
Ihr Ducken würde unser Problem weitgehend lösen.
Doch sie werden um die Gestaltungsmacht ringen, und das stellt für uns einen unschätzbaren strategischen Vorteil dar:
Sie sind sich über nichts einig, nur über ihren Feind - uns. Nun sind wir aber nicht mehr da. Wenn es um die Macht in ihrem eigenen Land geht, werden sie übereinander herfallen. Gut, wenn sich gegenseitig zerfleischen! Gleichzeitig werden sie erkennbar, ihre Deckung fällt. Man kann reingehen – zuschlagen – rausgehen. Vor der Kamera alles frech leugnen und sie raten lassen, welcher ihrer Rivalen es gewesen sein könnte.
Erleichtert man ihnen so die Produktion von Massenvernichtungswaffen im Vergleich zu heute? Nein. Heute wissen wir nicht, wer sie sind und wo sie sind und in wie vielen Kellern was alles lagert. Nach dem Rückzug werden wir ein bisschen besser wissen, wer sie sind und wo sie sind und an welchen Kellern sie sich zu schaffen machen.

Das klingt sehr verlockend, nicht wahr? Besonders in Europa, dem Venuskontinent, wo man tatsächlich glaubt Rückzug bedeute Frieden. Wenn es so einfach wäre! Denn man liefert durch Rückzug Millionen unschuldiger, geschundener Iraker vollends einem kongoähnlichen Zustand aus. Wir wissen, dass dieser Zustand, ist er erst einmal eingetreten, kaum noch rückgängig zu machen ist. Heute gibt es noch Inseln der Sicherheit, die man ausbauen und vernetzen kann.
Man hätte nie reingehen dürfen, diese Meinung haben wir vehement vertreten. Doch jetzt, nachdem der Fehler einmal passiert ist, kommt Rückzug aus dem Irak nicht infrage!

Glaubt mir, mit jeder dieser Zeilen vergrätze ich freie legaten im linksliberalen Spektrum! Trotzdem sage ich es euch abermals. Wir hatten euch gewarnt, hatten geraten: Macht aus dem Irak eine säkulare Militärdiktatur! Durchaus ja – weg mit Saddam, dem unberechenbaren Monstrum. Aber faselt doch nicht von Demokratie, nein ersetzt ihn durch berechenbare Monstren! Wir hatten Geld und Schwarze Hände angeboten. Ihr wolltet nicht. Ihr wolltet die große Operation für das heimische Fernsehpublikum. Etwas, das die Bilder der einstürzenden Türme auswischt. Nun habt ihr, geführt von Apokalyptikern, vielleicht das Vorgeplänkel von Armageddon.
Trotzdem mache ich hier öffentlich ein letztes Angebot. Lasst Kerry Präsident werden. Lasst ihn den Schaden minimieren. Er kann auf leiseren Sohlen gehen, ohne Amerika restlos zu demütigen. Er kann den Dialog mit den Palästinensern glaubwürdig wieder aufnehmen. Er kann ohne Gesichtsverlust einen Strategiewechsel befehlen – ihr werdet es erleben, wenn Kerry Präsident wird, gibt es keine johlenden Frauen auf den Straßen der arabischen Welt und keine Freudenschüsse in den Himmel! Lasst Kerry Präsident werden!

Wir Gründer sind, was unsere Schwarzen Hände angeht, in einer angespannten Lage. Trotzdem gehen wir mit unserem Angebot an die Grenze des Möglichen. Zweihundert Mann, koordiniert von Zett. Fünf Millionen freihand für jeden Einsatz. Fünf Millionen pro Kopf zu Hause auf einem Konto für jeden erfolgreichen Heimkehrer. COR, CID, CMO, CNO bieten das Gleiche. Das haben wir für euch organisiert, wir undankbaren Europäer von der Venus. Ihr bei CNM habt natürlich eure eigenen Möglichkeiten. Und ihr könnt das unerschöpfliche Potenzial der USA in Fahrt bringen, während wir unsere Räume, nun sagen wir: ermuntern. Da sollte es doch möglich sein, auf ganz weichen Sohlen, ganz ohne Fernsehbilder, zu tun, was nötig ist.

Doch mit diesem blutigen Handwerk ist es ja längst nicht getan. Um eine Strategie daraus zu machen, muss viel hinzukommen.

Für unsere Räume:
Den Nordatlantik nachhaltig zu unserem Meer machen! So und nur so haben wir den Rücken frei für die Probleme im Süden.
Die gegenseitigen Quertreibereien einstellen. Auf dem Balkan uneingeschränkt kooperieren. Auch auf Kuba und Haiti.
Die Abhängigkeit von fossiler Energie aus dem Golf senken! So sinkt zugleich der Druck, Verbindungsrouten im Pazifik unbedingt beherrschen zu müssen.
Daran arbeiten, dass unsere muslimischen Minderheiten sich auf lange Sicht stärker integrieren. Nicht der Versuchung nachgeben, sie zum Sündenbock zu machen. Die Kraft aufbringen, ihnen zu vertrauen. Auf die Verführungskraft der Freiheit und des Rechtsstaates vertrauen. Exzesse wie in Guantanamo revidieren.
Den Traum von der Allmacht ad acta legen. Ihr werdet den Pazifik mit Chinesen, Japanern, Russen, Vorder- und Hinterindern teilen müssen. Wer auf Allmacht zielt, endet in der Ohnmacht.

Für Israel:
Bestandsgarantie, egal, was es kostet. Gleichzeitig Druck, ein selbstständiges Palästina zuzulassen. Lasst sie meinethalben mit der Mauer experimentieren, aber warum muss die verdammte Mauer auch noch die Palästinenser bestehlen, ihr Land abtrennen und ihre internen Verbindungswege kappen? Nun kündigt Scharon, wie wir es schon im Sommer prophezeit hatten, die Roadmap offiziell auf. Er ist für sein Land ein Verhängnis, so wie Bush eines für Amerika ist.

Für Palästina:
Kein Cent mehr für Terrorfinanziers. Kein Eurocent, kein Dollarcent. Sobald der Staat Palästina existiert, Zug um Zug humanitäre und infrastrukturelle Aufbauhilfe bei penibelster Buchführung über die Fördermittel.

Für die Türkei, unseren Freund, der nicht verloren gehen darf:
Immunität turkmenischer Minderheiten im irakischen Kurdistan, auch wenn sich Terroristen dort verstecken. Sie verstecken sich dort nicht, weil sie sich sicher glaubten, sondern weil sie amerikanische Militärschläge gegen Turkmenen wollen. Die USA haben den Karren in den Dreck gefahren. Das Mindeste, das sie nun tun können, ist, an der türkischen Südgrenze mit ihrer Turkmenen- und  Kurdenproblematik, eine gewisse Waffenruhe zu erhalten.
Das Bollwerk Türkei ist wichtig. Und Erdogan steht unter Druck seiner islamistischen Partei. Helft ihm, zumindest im Irak! Schiebt das Problem nicht wieder der EU zu! Versucht es gar nicht erst. Denn ich habe es oft genug gesagt und stehe nach wie vor dazu: Solange ich regierender princeps der Gründer bin, tritt die Türkei der Europäischen Union nicht bei. Mein Nachfolger ist da zwar anderer Meinung, aber der soll sich gefälligst gedulden, bis mein Stuhl frei wird!

Für die arabische Welt und die muslimischen Staaten Asiens:
Stützung prowestlicher Regimes, auch wenn sie unappetitlich sein mögen. Zugleich Förderung und Schutz gemäßigter Reformkräfte, um in fünf, zehn, fünfzehn Jahren eine Perspektive zu eröffnen.
Weitestgehende Kooperation mit COR. Ihr wisst doch, dass wir über die back channels verfügen.
Raus aus der arabischen Halbinsel, bis auf den unmittelbaren Schutz der Ölanlagen!
Afghanistan: Dort können wir Befriedung weiterhin versuchen. Sehr groß ist meine Hoffnung nicht.
Für Tschetschenien würde ich bedingungslosen Rückzug vorschlagen, so verfahren, wie die Lage dort ist. Doch der rund vierzehnprozentige islamische Bevölkerungsanteil in der Russischen Föderation, wobei die Muslime vielfach in geschlossenen Siedlungsgebieten leben, muss berücksichtigt werden. Der Rückzug aus Tschetschenien könnte als verlockendes Modell fehlinterpretiert werden.

Seid nicht feige! Ihr kommt doch, laut Kagan, vom Mars. Wir stammen doch von der Venus! Lasst Kerry Präsident werden und nehmt unser Angebot an!
Sonst müssen wir euch an eure und unsere strategischen Dilemmata erinnern.
Ihr habt eure Macht mißbraucht, um in unserer Nachbarschaft einen Krieg anzufangen. Ihr könnt wieder gehen. Wir sind dann immer noch da. Allein mit dem Problem. Wir müssen vorbereitet sein auf diesen Moment, wenn ihr die Überforderung eingesteht und euch hinter beiden Weltmeeren verschanzt.
Ihr könnt unbegrenzt hochrüsten, vorausgesetzt, die Welt gibt euch Kredit. Eure Leistungsbilanz und eure Handelsbilanz sind aber negativ. Das heißt: Euer Kredit beruht nicht auf ökonomischen Fakten, sondern auf blindem Vertrauen. Wenn ihr uns nun in die Verschüchterung hineinschießt, was ihr ja zweifellos könnt - wo bleibt dann das nötige Vertrauen? Wo der Kredit? Springen dann die Irakis ein? Oder bekommt ihr aus Tschetschenien Kredit? Oder springt Japan ab? Euch läuft die Zeit davon. Zehn, wahrscheinlich zwanzig, äußerstenfalls dreißig Jahre, und ihr seid ökonomisch handlungsunfähig, weil ihr niedrige Steuern mit dem Wunsch nach Allmacht verknüpft.
Bush wird dieses Problem nicht lösen. Er hat von Clinton einen Haushaltsüberschuss von 127 Mrd. Dollar übernommen und übergibt im Haushaltsjahr 2004 ein Defizit von rund 500 Milliarden Dollar.

Soll ich etwas zum Untergang eures Mittelstandes sagen? Über die schleichende Erosion der Bürgerrechte, nicht nur in Guantanamo? Da beschwert ihr euch über Putins vertikale Achse der Macht - aber ruft denn das Weiße Haus etwa nicht bei Zeitungen an, um vermeintlich unpatriotische Berichte in letzter Minute zu kippen? Die CIA baut doch gerade an einer weltweiten Infrastruktur für das „Informationsmanagement"! Soll ich dazu Stellung beziehen, dass vor dem Welt-Aids-Kongress nicht genehme Forscher ausgeladen wurden? Weitere vier Jahre Bush, und Amerika wird nicht länger das Mekka aller Forscher sein, ganz egal, wie viel Geld ihr ausgebt. Das Klima stimmt nicht mehr. Die Freiheit von Forschung und Lehre hat längst Schaden genommen! Weitere vier Jahre Bush - und die Freiheit der Presse nimmt Schaden. Weitere vier Jahre Bush - und noch mehr Schlüsselpositionen sind mit Religiös-konservativen besetzt. Weitere vier Jahre Bush - und Amerika ist vollends gespalten in Clinton-Amerika und Bush-Amerika. Weitere vier Jahre Bush - und Brüderchen Jeb, heute der Gouverneur von Florida, wird als nächster Präsidentschaftskandidat aufgebaut.

Bush löst keine Probleme – Bush ist eines. Wir wollen gern an eurer Seite stehen, werden es, notgedrungen, auch bei einer zweiten Amtszeit dieses Präsidenten, dessen Herausforderer so merkwürdig blass bleibt. Gleich, wer Präsident wird oder bleibt - niemand steht uns so nahe, wie ihr.
Doch wir müssen uns vorbereiten auf den Fall, dass eure verantwortungslose politische und religiöse Rechte euer Land handlungsunfähig macht. Behindert die EU-Integration nicht! Wenn ihr uns in unserem Kernraum behindert, spaltet ihr Räte und Kontinente und macht aus Verbündeten Rivalen.

Das Zeitfenster
von
Karl Bucholtz, successor principis
(November 2004)

Nun ging es mehr als ausführlich um Gewicht und Gegengewicht. Wir haben uns davon verabschiedet, es könnte eine Art stabiles Gleichgewicht geben, das Gegenteil vom Perpetuum Mobile, sozusagen das Perpetuum Stabile. Wir sprachen von Menschen und Mächten, von den langen Linien der Räte und der Welt und haben dabei zumeist verschwiegen, dass dieses ganze Menschen- und Mächtegewusel auf einem Ball, der zerknautscht und feucht in einer Ellipse die Sonne umsaust, eine ziemlich oberflächliche Erscheinung darstellt.
Eines Tages stürzt die Sonne, oder was dann von ihr übrig ist, ins nächstmächtigere Gravitationszentrum. Zuvor stürzt die Erde in die Sonne. Wo sind dann wir? Wie weit reichen unser Selbstvertrauen und unsere Entschlossenheit, gesetzt den Fall, es leben noch Menschen? Verdampfen wir - oder haben wir uns vorher abgesetzt in irgendeine Nachbargalaxie, die uns eine Verschnaufpause gewährt von einer Million Jahren?
Natürlich machen die Gründer jetzt nicht in Science Fiction. Aber interessant ist doch schon, dass man mit solchen Themen die Menschen ins Kino lockt und in die Buchhandlung - nicht aber mit der simplen Frage: In hundert Jahren, wenn die Alpengletscher weggeschmolzen sind, wachsen dann am Rhein dank starken Niederschlags und hoher Temperaturen Palmen - oder fällt der Fluss trocken? Und was heißt das, im ersten Fall für Bluthochdruckpatienten, im zweiten für die Klospülung? Und wie erörtert man solche Fragen in der Mediendemokratie?

Das Vage lockt. Konkretes ist sperrig. Hoffentlich ist das keine anthropologische Konstante, denn wir reden hier von Fragen, die nicht mehr nur die Machtverteilung innerhalb unserer biologischen Art betreffen, sondern die Zukunft der Art Mensch insgesamt.
Wir reden vom Klimawandel und Umweltschäden, von der Bevölkerungsentwicklung und Migrationsströmen, von endlichen Rohstoffen und Ressourcen, über die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, verschiedenste Arten des Terrorismus respektive asymmetrischer Kriegsführung, wir reden von internationaler Kriminalität, Aids, Ebola und Vogelgrippe und davon, dass der Staat möglicherweise zerfällt. Ein ziemlich unbekömmlicher Cocktail für unsere Art.

Würden wir heute beginnen, ökologisch nachhaltig zu wirtschaften, wären die positiven Folgen für das Klima erst in frühestens vierzig, fünfzig Jahren spürbar.

Bis dahin leiden wir weiter, und vermutlich heftiger denn je, unter der Folge unserer Gier - dem Klimawandel. Man muss nicht gleich das Schlimmste annehmen, etwa dass die abschmelzenden Polkappen den Golfstrom stoppen, und in Westeuropa sibirische Verhältnisse einkehren. Nein, um eine gewaltige Katastrophe auszulösen genügt es schon, wenn Wasserknappheit weite Gebiete Südeuropas unbewohnbar macht - ein Prozess, der übrigens Fakt ist, längst im Gange, auch wenn er sich im Big-Brother-Container noch nicht herumgesprochen hat. Ebenso unverstanden ist, dass der steigende Meeresspiegel nicht nur Bangladesh bedroht oder Venedig, sondern fast ebenso sehr die Norddeutsche Tiefebene und besonders Holland. Wenn wir dort nicht hunderte Milliarden Euro, Geld das wir nicht haben, für höhere Deiche und Küstenschutz ausgeben, geht besiedeltes Gebiet verloren. Europas Menschen werden zusammenrücken müssen, was einhergeht mit extremer Verlusterfahrung. Das alles ist, wenn überhaupt, nur in einem vereinten Europa halbwegs konfliktfrei zu regeln. Andererseits: Vielleicht wird ja in Russland Permafrostboden zur blühenden Agrarlandschaft? Doch ob es nun in unserem Raum Gewinner des Klimawandels gibt, oder nur Verlierer - der Wandel findet unaufhaltsam statt. Wir können rechtzeitig bauliche und technische Vorkehrungen treffen. Wir können nach fossilem Wasser suchen oder in Meerwasserentsalzung investieren - der Wandel hat begonnen und geht weiter.
Heißt das, wir lehnen uns resigniert zurück und pfeifen das Liedchen: "Nach uns die Sintflut! Wenn wir doch nichts ändern können, wozu dann die Aufregung?" Nein, das heißt es nicht. Denn wenn wir jetzt nicht bald gegensteuern, wird die Natur in fünfzig Jahren keineswegs wieder lieblich, nein, mit jedem Tag des Zögerns verlängern wir die Periode der Katastrophen und erzeugen vielleicht sogar Phänomene von Mutation, Sturm, Flut, Dürre, oder, gerade im Gegenteil, der Ausbreitung von Schädlingen und Krankheiten, die mit all unserer Technik und all unserem Erfindungsreichtum schlechterdings nicht mehr zu meistern sind. 
Verantwortliche Politik müsste also noch heute beginnen, zumindest die Jahre einundfünfzig fortfolgende ein wenig sicherer zu machen. Tut sie das? Nein. Gefangen zwischen Lobbyisten und Wählern wartet sie zu. Die Lobbyisten versuchen, Einbußen umweltschädlicher Wirtschaftszweige zu verhindern (oder den Verlust von Arbeitsplätzen ebendort). Die Wähler bestrafen Verzichtsforderungen oder auch nur gravierende Änderungen derzeit automatisch mit Abwahl. Die Medien müssen Geld verdienen, und das kann man nicht in einem Werbeumfeld, das Schreckenszenarien ein halbes Jahrhundert in die Zukunft verlegt. Andererseits sind natürlich auch ganz gewöhnliche Dummheit und Faulheit im Spiel. Man könnte ja durchaus zum Beispiel erklären: Bis vor wenigen Tagen erlebten wir einen heftigen Anstieg des Ölpreises. Er stieg nicht nur wegen China und Irak, sondern auch, weil durch die Hurrikans in der Karibik Venezuela weniger förderte und an der amerikanischen Südostküste viele Öltanker ihre Fracht nicht termingerecht löschen konnten. Der Klimawandel kostet dich, Verbraucher, also schon jetzt, bei der nächsten Tankfüllung richtig Geld. Möchtest du, dass das so weitergeht und schlimmer wird?
So könnte man argumentieren. In zehn Sekunden, ohne die Aufmerksamkeitsspanne des Fernsehzuschauers zu überstrapazieren.
Ebenso ist es bei den Rohstoffen - da findet sich einfach niemand, nicht einmal ein Erdöllobbyist, der bekennt, dass Öl schlicht zu kostbar ist, um es zu verbrennen. (Und findet er/sie sich - ist niemand interessiert, denn anderswo kommt Sport.) Hochsubventionierte Energiekonzerne werfen den Produzenten erneuerbarer Energie vor, durch unregelmäßige Einspeisung den Netzbetrieb zu verteuern. Die Kernenergie, steuerfinanziertes Hochrisikogeschäft schlechthin, winselt über jeden öffentlichen Euro, der in Windräder oder Solarzellen fließt. Die Kohle gräbt riesige Löcher in unsere Landschaft, Kohleverbrennung bringt den Klimawandel erst so richtig in Schwung, doch andererseits können wir uns vorstellen, dass Westeuropa über seine strategischen Kohlereserven bald schon froh ist, zum Beispiel wenn der Nahe Osten und mit ihm die Ölversorgung vollends kollabiert. In Ermangelung von Alternativen müssen wir uns schweren Herzens weiterhin auf diesen Energiemix verlassen. In der Zwischenzeit können wir erneuerbare Energien ausbauen, sparen und, in Gestalt von Wasserstofftechnologie und Biomasse, nach Ersatzstoffen suchen. Und bei alledem hoffen wir, dass die verbleibende Galgenfrist ausreicht. 

Es geht um ein enges Zeitfenster. Das Fenster öffnet sich im Augenblick, der die verschiedenen katastrophalen Bedrohungen einer Wählermehrheit in den westlichen Demokratien so klar macht, dass die Bereitschaft zum Handeln und Verzichten entsteht. Das Fenster schließt, sobald die katastrophalen Entwicklungen so weit fortgeschritten sind, dass es für Gegenmaßnahmen zu spät ist.
Mehr Hoffnung haben wir nicht. Für dieses Zeitfenster halten wir uns bereit und treffen Vorsorge. Dieses Zeitfenster wird die eigentliche Bewährungsprobe der Gründer. Denn weder hoffen wir, dass die Menschen ein Einsehen haben, so lange ihr Leben in der Spaßgesellschaft noch halbwegs Spaß macht. Noch sind wir bereit, auf autoritäre Gesellschaftsformen zu setzen. Wo wir heute in unserem Raum, insbesondere in Russland, autoritäre Staatsformen tolerieren, geschieht das ja nicht aus Begeisterung, oder weil wir es wollten - sondern weil wir keine Alternative sehen. Bestimmte Entwicklungsstufen sind nicht zu überspringen. Generell jedoch gilt: Wir hatten zweitausend Jahre Gelegenheit, mit allerhand Kaiser-, König- und sonstigen Reichen, mit Diktaturen und Oligarchien zu experimentieren und sind zu der Einsicht gelangt: Wenn es hart auf hart kommt, sind Demokratien effizienter. Andererseits eignet ihnen natürlich eine gewisse Schwerfälligkeit - und genau deshalb ist der Punkt, wann sich das Zeitfenster öffnet, kaum vorhersagbar.
Lässt er sich manipulieren, der Punkt, an dem sich das Zeitfenster öffnet? Nein. Ich wüsste beim besten Willen nicht, wie sich ein klimatologisches Pearl Harbor inszenieren ließe. Jedenfalls nicht in einem kalkulierbaren Rahmen.
Energiepolitisch lässt sich der Punkt sehr wohl manipulieren. Zum Beispiel brauchen die Amerikaner nur so weiterzumachen wie bisher, und sie erzeugen, selbstverständlich unfreiwillig, das Gegenteil von dem, was sie als Ziel anstreben. Eine deftige Militäraktion im Iran - und fertig ist die Katastrophe. Insofern hat mein princeps durchaus recht, wenn er im letzten Beitrag feststellt, dass der Westen die Verteidigung gegen einen Angriff islamistischer Apokalyptiker ausgerechnet unseren eigenen christlichen Apokalyptikern übertragen hat. Die Islamisten wollen reinen Herzens und voller Überzeugung den Untergang der Welt herbeiführen. Die Regierung Bush bastelt am Weltuntergang, indem sie von Demokratie spricht und von Werten - in Wahrheit jedoch ein neues amerikanisches Jahrhundert meint, oder, noch präziser, Vermögensvorteile für ein paar Dutzend mit Öl- mit Rüstung und Bauwirtschaft verbandelter Familien.
(Bei ihren Unterstützern aus dem ultraprotestantischen Bible Belt kann man sich da nicht ganz so sicher sein. Von denen arbeiten manche genauso reinen Herzens und ohne persönlichen Vorteil auf die Apokalypse hin, wie die Islamisten. Diese christlichen Apokalyptiker nehmen die "Geheime Offenbarung", den antirömischen Propagandatext des Johannes, wörtlich und träumen von der letzten Schlacht um Gut und Böse, ums Himmlische Jerusalem (verortet natürlich in Israel), kurz gesagt von Armageddon. Um nun gleich alle sabbernden Spekulanten des Okkulten zum Schweigen zu bringen: Natürlich sind wir die Hure Babylon. Wir, die Gründer. Wir sind das Tier, sind 666 - kein Wunder, war doch der gute Johannes ein abtrünniger Gründer, desertiert aus Protest gegen unsere Religionspolitik. Warum betrieben wir diese brutale Politik? Wir haben die Monotheisten bekämpft, weil sie Einheit erzwingen wollten, wo es Vielfalt gab. Sie sind uns entwischt. Doch als sie glaubten, sie hätten endgültig gesiegt, hatten wir sie längst infiltriert. An dieser Politik des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, an den barbarischen Christenverfolgungen, die wir geschehen ließen, gibt es aus heutiger Sicht natürlich eine Menge zu kritisieren, doch im Wesentlichen verlaufen die Grenzlinien noch heute genauso wie damals: Wir traten für ein rationales Herrschaftsethos ein. Sie traten für den Gottesbezug der Herrschaft ein. Wir wollten das Leben gestalten. Sie wollten den Skandal des Todes erträglich machen. Wir hielten Gott für die Erfindung des Menschen. Sie hielten den Menschen für das Geschöpf Gottes. Irgendwann stellt sich heraus, wer recht hat, liebe Freunde, aber gefälligst nicht, indem ihr mir die Welt unter den Füßen sprengt!)

Zurück zu unserem Zeitfenster! Bislang haben wir es, so bedrohlich klein es scheint, quasi in idealtypischem Versuchsaufbau diskutiert, in einem prästabilisierten Modell. In Wahrheit gibt es natürlich zahlreiche Interdependenzen, wechselseitige Abhängigkeiten, die zur Verwirrung beitragen.
Bringt der Klimawandel zum Beispiel wesentlich kältere Winter - sind wir früher am Ende mit fossilem Brennstoff.
Wärmere Winter hingegen verlängern unsere Frist.
Gebremster Energieverbrauch verlangsamt auch den Klimawandel. Und umgekehrt.
Schreitet die ökonomische Entwicklung Asiens rasant - und die Afrikas gemächlich fort, wobei wir helfen, weil alles andere entweder Krieg bedeutet oder eine neue Völkerwanderung, dann sind wir früher mit den Brennstoffen am Ende und haben weniger Zeit, Alternativen zu suchen.
Schrumpft die Bevölkerung im reichen Westen, verbraucht sie weniger Ressourcen.
Gelingt es uns, den Bevölkerungsrückgang durch kontrollierte Immigration aus Asien, Afrika und Südamerika auszugleichen, schützen wir zwar die westlichen Gesellschaften vor der Vergreisung - verbrauchen aber mehr Ressourcen.
Unter welchen Bedingungen steigt oder schrumpft die Bevölkerung wo? Die Durchschnittsdifferenz von Geburten- und Sterberate ist ja längst nicht der einzige Faktor, der hier mitspielt. Hunger und Durst spielen mit. Krieg und Seuchen spielen mit. In Venedig haben wir in einer einzigen Pestepidemie zwei Drittel der Bevölkerung eingebüßt - und durch kontrollierte Einwanderung bald wieder die alten Zahlen erreicht.
Was heißt Bevölkerungsentwicklung in Zeiten von Migration - und ich meine hier nicht einmal die die großen Ströme von überallher nach Europa und Nordamerika? Nein, welche Rolle spielt Bevölkerung, wenn zwei Flüchtlingstrecks, einer aus der Norddeutschen Tiefebene, der andere aus Sizilien, sagen wir bei Wien aufeinander prallen? Unvorstellbar? Kontrollieren wir denn heute die Flüchtlingsgruppen, die in den Schengenraum eindringen? Nichts ist unvorstellbar! Und alles hängt mit jedem zusammen.

Ein Atomkrieg um Wasser? Genau so vorstellbar, wie das Scheitern einer Atommacht im asymmetrischen Krieg um Wasser.
Überhaupt, die asymmetrischen Kriege - da prahlen die Islamisten mit dem Kosten-Nutzen-Verhältnis ihrer Anschläge in New York, Moskau, Djerba, Bali, Madrid und Beslan. Kosten für sie jeweils nur ein paar tausend Dollar und manchmal das Leben einiger Märtyrer. Nutzen für sie Tod und Leid für tausende unserer Menschen, weltweite Aufmerksamkeit für ihr Anliegen, die flächendeckende Verbreitung von Angst, Misstrauen, Hass und der Verlust von Milliarden Euro, Jen und Dollar, die nicht mehr zur Verbesserung der Lebensverhältnisse aufgewendet werden, sondern jetzt in die Terrorprophylaxe fließen. Das ist wirklich eine Bilanz, die uns schaudern macht und jeglicher Illusion beraubt, der Sieg werde uns leicht in den Schoß fallen.
Überdies wird diese Art von Krieg uns aufgenötigt in Zeiten, da erstens die Tugend des Opfermuts in unseren Bevölkerungen nicht besonders weit verbreitet ist und zweitens schlicht das Geld ausgeht.
Nachdem fast der gesamte Westen ins Stadium reifer Industriegesellschaften eingetreten war, und die damit verbundene Abflachung der Wachstumskurve erlebt hatte, haben wir keineswegs die richtigen Maßnahmen ergriffen. In Westeuropa, insbesondere der alten Bundesrepublik, wollte man, nachdem keine Zuwächse zum Verteilen mehr da waren, dennoch weiter umverteilen. Einerseits scheuten Politiker den Machtverlust bei den nächsten Wahlen, sobald sie am System ständiger Umverteilung rüttelten. Andererseits handelte man aufgrund ernsthafter sozialer Verantwortung - oder dem, was man dafür hielt. Teils war auch ernste Besorgnis um die Demokratie im Spiel, zum Beispiel in Deutschland und Italien, deren innere Konflikte mit Geld - und womit denn auch sonst? - verkleistert werden sollten. Man plante: Ballermann statt NPD! Heraus kam aber, denn erwirtschaftetes Geld war ja nicht mehr zu verteilen, ein Schuldenberg, dessen Verzinsung alleine schon die Haushalte furchtbar belastet. (In Amerika ist die Lage übrigens gar nicht so verschieden, denn dort verschuldet man sich statt für den Sozialstaat fürs Militär - und für den Konsum eben privat.)

Kurz, die Zeit der Umverteilung ist vorbei. Als dem Kapitalismus noch die kommunistische Alternative gegenüberstand, auch wenn sie nur eine Scheinalternative war, da unternahm der Westen Anstrengungen, um sozial schwache Bevölkerungsgruppen an sich zu binden. Nun, da die Alternative verschwunden ist, rechnet der Westen nach und stellt er fest, dass er sich finanziell überhoben hat. Der Staat als Umverteiler entfällt künftig.
Der Staat als Regelgeber für multinationale Konzerne entfällt ohnehin. Der Staat als Beschützer und Rechtswahrer entfällt jetzt schon in manchem Stadtviertel oder - auf Deutschland bezogen - in den "national befreiten", rechtsradikalen Zonen Ostdeutschlands, wo der braune Pöbel schon wieder glaubt, es geschafft zu haben. In England und Frankreich heißen diese Zonen anders, haben auch nichts mit rechtsradikalen Parteien zu tun, doch die Hilflosigkeit des Rechtsstaates in manchem Vorort von Paris oder London, der fest in der Hand muslimischer Migranten ist, fällt nicht weniger ins Auge. Deutsche Gefängnistrakte werden ab einem gewissen Prozentsatz russlanddeutscher Insassen nur noch äußerlich bewacht, weil drinnen nicht einmal mehr die Illusion rechtsstaatlicher Ordnung mit vertretbaren Mitteln aufrecht zu erhalten ist. Und von Steuerhinterziehung über Fahrerflucht bis zu Versicherungsbetrug, Korruption und dem Abschöpfen öffentlicher Zuschüsse, ist längst das Austricksen von Regeln auch in den Stammbevölkerungen des Westens zum allgemeinen Sport geworden.

Der klassische Staat zieht sich seit den 1970er Jahren aus fast jedem Betätigungsfeld zurück. Außerhalb des Westens, beispielsweise in Afrika, hat er nie ganz Fuß gefasst. Nur sein Gewaltmonopol behauptet er noch eifersüchtig, ohne es jedoch im entferntesten durchsetzen zu können. Wir haben bereits gesehen: Mit wenigen tausend Dollar und der Bereitschaft zu sterben kann man sogar autoritäre Staaten effizient treffen.
Die weiter um sich greifende Erosion des staatlichen Gewaltmonopols, wenn sie vor Öffnung des besagten Zeitfensters geschieht, dürfte das Überleben der Menschen in der Katastrophe erschweren.
Zur Veranschaulichung stelle man sich nur eine simple Flutkatastrophe vor, sagen wir Hamburg, - und in der Stadt wäre das Gewaltmonopol strittig zwischen ein paar korrupten Polizisten, dem Sicherheitsdienst der Hafenholding, der albanischen Reeperbahnmafia, und einer Bürgerwehr, die versucht, in bestimmten Stadtvierteln Zustände aufrecht zu halten, bei denen man ohne Lebensgefahr einkaufen gehen kann. Wer sollte die Bewältigung der Katastrophe koordinieren, und dort, wo widersprüchliche Interessen aufeinander prallen, allgemeinverträgliche Lösungen durchsetzen? Der Verlust an Menschen und Wirtschaftsgütern wäre um ein Vielfaches höher, als bei zentraler Steuerung in diesem Ausnahmemoment, ja, man darf mit Fug bezweifeln, ob ein solches "kongolesisches" Hamburg, wie ich es kurz skizziere, sich je wieder von einer Flut erholte.

Wir brauchen also, zur Katastrophenbewältigung, und um dem Terror nicht das Feld zu überlassen, Staaten, die ihr Gewaltmonopol effizient durchsetzen. Bis das Zeitfenster wieder schließt, brauchen wir den Staat - danach ist sowieso vieles offen.
Auf diesem Gebiet liegt das einzige mir bekannte Verdienst der Administration Bush II nach dem elften September 2001. In Amerika wird - nach dieser Erfahrung - der Staat so schnell nicht weiter erodieren, jedenfalls nicht da, wo es um die Durchsetzung des zwischenstaatlichen Gewaltmonopols geht. Im Landesinneren teilt man sich das Gewaltmonopol ja seit der Revolution mit jedem Amerikaner, der Geld genug hat, eine Feuerwaffe zu kaufen.
(Eigenartige Fixierung auf diese Waffenart. Man sollte einmal eine Studie auf den Weg bringen, die untersucht, ob Wohnungsinhaber, die einen gewaltsamen Eindringling mit dem Steakmesser erledigen, genauso oft mit Notwehr durchkommen, wie die Schützen.)
Natürlich bin ich ein gehorsamer successor, doch diese Kleinigkeit wird mir mein princeps durchgehen lassen, auch wenn er ansonsten letzthin "abhörsichere Räume" dekretierte: Genützt hat der islamistische Terror nämlich bislang, jedenfalls soweit mir bekannt ist, nur drei Gruppierungen. Den militanten Islamisten selber. Dem "Staat" Amerika in seiner Kernkompetenz, Krieg führen und dafür Steuern einziehen, beziehungsweise Schulden machen zu können. Und schließlich den Firmen, bei denen der Staat dieses Geld wieder ausgibt.
Wer allso glaubt, Bin Ladens jüngstes Video wäre zufällig fünf Tage vor der Wahl erschienen - und nicht, um Bushs Wahlkampf, den Wahlkampf des Traumgegners, zu unterstützen - verdient den Kopf nicht, den er zum Denken auf dem Hals trägt.
Doch selbst, wenn der ungeheuerliche Vorwurf, der zwischen meinen Zeilen lesbar ist, sich eines Tages verifizieren ließe, ändert das nicht ein Quäntchen daran, dass Amerika unser strategischer Verbündeter bleibt. Wer sonst - außer natürlich China?
Wer sonst? Die Koranschüler, die den verderbten Westen mit seinem Drogenkonsum anprangern, während sie gleichzeitig ihre Waffen mit Drogenhandel finanzieren?
Nein, mag Amerika ein noch so undurchsichtiges und fragwürdiges Spiel treiben, gegen diesen Gegner sind wir zuverlässig an seiner Seite.
Nur wundert uns natürlich, dass Amerika, zum Beispiel im Irak, wo immer möglich, Sicherheitsdienstleistungen an private Unternehmen delegiert. Wollen wir das Paradebeispiel Kellogg Brown & Root (KBR) ansprechen, mit seinen 20.000 Söldnern Tochterfirma von Dick Cheneys Halliburton, die dem Vizepräsidenten noch heute mindestens 150.000 Dollar zahlen und dafür - ohne öffentliche Ausschreibung - vom Pentagon einen sieben Milliarden Dollar schweren Auftrag im Irak zugeschanzt bekamen? Das müssen jene tiefen Weisheiten sein, zu denen die US-Regierung im Gebet gelangt.
Wir sollten ein bisschen aufpassen, denn der funktionstüchtige Staat ist zwar ein Wert an sich, doch wenn er in die Hände religiös heuchelnder, skrupelloser Geschäftsleute fällt, reduziert sich dieser Wert.

Söldnerfirmen, Bandenkriminalität, Terrorgruppen und staatlicherseits die Institutionen Polizei, Armee, Geheimdienst: Sie bilden das Viereck der Gewalt in unserer Zeit. Es wird nicht nur zur personellen Durchmischung kommen, sondern unausweichlich, wenigstens insgeheim, zur Angleichung von Praktiken.
Die Bündnisse, die heute schon geschlossen werden, sind vielfältiger Natur, angefangen bei der Kooperation zwischen Drogenhandel und den doch angeblich so hochmoralischen Taliban. Womöglich schützt dieselbe Söldnerfirma eine Diamantenmine in Südafrika und die Hochzeit eines Mafiabosses auf Korsika, wo sie dann nolens volens zugleich mit dem französischen Inlandsgeheimdienst kooperiert. In Einkaufspassagen, und auf Bahnhöfen ersetzen heute schon private Sicherheitsdienstleister ganz selbstverständlich die Polizei. US-Militär lässt Gefangene von Privatfirmen bewachen, foltern und verhören. Der pakistanische Geheimdienst hat ein Jahrzehnt lang die Taliban gepäppelt. In Tschetschenien sind bei weitem nicht alle islamistischen Kämpfer aus purer Überzeugung bei der Sache - dort gibt es viele Söldner. Und in einer Welt, die, wenn nicht ein Wunder geschieht, kaum reicher werden kann, als sie es heute ist - und zugleich in den nächsten zwanzig Jahren demografisch den Wellenkamm junger, chancenloser Männer erlebt - wird es auf lange Zeit nicht an rekrutierbarem Nachwuchs für jede Art von dreckigem und brutalem Job mangeln.

Darüber hinwegzulügen hat keinen Zweck: Wir gehen schweren Zeiten entgegen, und die Gegenwart mit ihren Bedrängnissen und Nöten, die uns oft so schwer erträglich scheinen, wird im Rückblick als Abglanz einer goldenen Ära strahlen. Ja schwerer noch - erst, wenn diese schweren Zeiten vorbei sind, erst wenn wir dann noch existieren, erst dann kommt die eigentliche Herausforderung - jenes Zeitfenster, von dem ich oben sprach, und in dem wir die Folgen von Klimawandel, Ressourcenschwund und Umweltverschmutzung meistern müssen, um zu überleben.

Die vielleicht schlimmste Bedrohung auf dem Weg zu jenem Zeitfenster (aber auch darüber hinaus) ist die Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Heute sind sie in der Welt und wir müssen mit ihnen rechnen. Doch immerhin befinden sie sich in der Hand halbwegs berechenbarer Menschen, von Menschen, die selber leben wollen.
Was, wenn sie in die Hand todesverliebter Apokalyptiker geraten? Da gibt es dann kein Rezept mehr, außer ebendies zu verhindern. Und dieser stille, verbissene Kampf, der jeden Tag auf der ganzen Welt tobt, findet in völliger Rechtlosigkeit statt. Dort richtet niemand, kein Völker-, ja nicht einmal das Kriegsrecht, stellt irgendein Kriterium dar - nur der Erfolg. Denn vermutlich wäre der erste Misserfolg das Ende der Menschheit. (Man sieht also: Es war falsch, solche Waffen in die Welt zu bringen. Der Mensch ist fehlbar, und fehlbaren Menschen solche Entscheidungen aufzubürden war ein Akt verantwortungsloser Dummheit.) Das Dilemma aber, dass dieser Kampf ohne Regeln gekämpft wird, bleibt ungelöst und fordert täglich das Gewissen der Akteure heraus - jedenfalls auf unserer Seite.
Es muss ja gar nicht ganz schlimm kommen, um katastrophal zu werden. Lassen wir die Apokalyptiker einmal beiseite. Legen wir, rein hypothetisch, die Massenvernichtungswaffen in die Hand schlichter Gangster oder von Terroristen, die begrenzte, definierte Ziele verfolgen. Bis heute hat in Erpressungsversuchen an Staaten meist Staatsräson die Oberhand behalten. So sollte es sein, auch wenn wir für die Zahlung der Regierung Berlusconi an die irakischen Geiselgangster, um die beiden Simonas freizubekommen, großes Verständnis haben. Aber nehmen wir einmal an, die Wasserversorgung einer Millionenstadt wäre bedroht, oder die Bewohnbarkeit ganzer Regionen, weil jemand über das Potenzial für einen Milzbrandanschlag verfügt oder einen besonders gemeinen Virus freisetzen kann, oder eben eine so genannte schmutzige Atomwaffe besitzt - wie weit würde, ja müsste die Bereitschaft zu Konzessionen in diesem Fall gehen? Und was alles dürfen die Akteure tun, um einen solchen Fall zu verhindern? Auf Ebene der Räte werden diese Fragen gemäß den Weisungen des princeps und seiner Kollegen entschieden (ohne hier auf strukturelle und verfassungsrechtliche Unterschiede der Räte einzugehen). Aber auf Ebene der Staaten? Darf ein Geheimdienst alles tun, um die Proliferation atomarer, biologischer oder chemischer Waffen zu verhindern? Wirklich alles?
Wir, die Räte, geben niemand Rechenschaft, und deshalb werde ich hier nicht in die staatliche Ebene hineindekretieren. Nur über eines bin ich mir relativ sicher: Sollte eines Tages diese katastrophale Bedrohung eintreten, und sollten dann Menschen die Unfähigkeit oder Untätigkeit ihres Staates verfluchen, der es so weit hat kommen lassen, dann sind unter diesen Menschen viele, die vorher, als man ihnen erklärte, dass der Staat täglich im übergesetzlichen Notstand kämpft, gleichwohl dessen Bewältigung mit streng rechtsstaatlichen Mitteln gefordert haben.

Trauern wir dem staatlichen Gewaltmonopol nach? Sicher insofern, als es, für wenige Jahrhunderte, die Lage etwas übersichtlicher gemacht hat. Sicher nicht insofern, als das staatliche Gewaltmonopol auch die Gefahr der Vergötzung in sich trägt und solche Exzesse ermöglicht hat, wie den stalinistischen Gulag, den Mord an den europäischen Juden und zwei Weltkriege.

Nüchtern betrachtet müssen wir gestaltend auf die Situation einwirken, die wir vorfinden. Wir müssen bis zum besagten Zeitfenster überleben. Dann müssen wir im Zeitfenster richtig und sehr rasch handeln. Und danach erst, in fünfzig bis hundert Jahren, entscheidet sich, ob unsere Art diesen Planeten noch etwas länger bevölkert.

Unsere Agenda ist banal. Dass man für die paar Maßnahmen überhaupt so etwas hochtrabendes wie eine Agenda braucht, liegt an der Dummheit, an der Gier und an der schlichten menschlichen Fehlbarkeit jeder und jedes Einzelnen.

Äußere Sicherheit schaffen: Europa einigen, mit Russland kooperieren. Jenseits der Grenzen unseres Raumes zunächst mit Amerika, China und den verantwortungsbewussten Kräften der islamischen Welt. Dann aber auch mit den wichtigen NGOs. Und vergessen wir nicht die Räte selber! Kooperation vor Konfrontation. Konfrontation nur, wo man sie uns aufzwingt. Dort allerdings effizient.

Die Vereinten Nationen stärken, nicht als Wahrer eines Völkerrechtes, das längst obsolet ist. Nein - als fixfertige Kommunikationsstelle. Immer, wenn in der Weltgeschichte Krisen bewältigt werden mussten, wurde die meiste Zeit damit vertrödelt, einen Tagungsort zu suchen, zu klären, wer für die Sicherheit verantwortlich ist, Fragen der Rangfolge und des Prestiges zu klären, wer wo wohnt, wer vor wem reden darf, wenn überhaupt ... New York ist die  perfekte Clearingstelle für die Welt. Durch die bereits vorhandene Infrastruktur. Und durch seine Geschichte in all ihren Aspekten.

Wo immer möglich, in internationaler Kooperation den globalisierten Kapitalismus zivilisieren.

Innere Sicherheit schaffen. Wo möglich, das staatliche Gewaltmonopol schützen und stärken. Verbrechen bekämpfen. Terrorismus liquidieren. (Nun höre ich die Kritiker: "Und eure Schwarzen Hände?" Liebe Kritiker: Wir Räte sind die Idee der Staates, bevor sie verhunzt wurde. Wenigstens hier lohnt es sich, einmal Platon zu lesen.)

Vertrauen in die Demokratie schaffen. Ja: Schaffen, nicht erhalten, denn es ist vielfach längst verloren. Trotzdem wird die Funktionstüchtigkeit westlicher Demokratien es sein, die über Leben oder Tod der Menschheit entscheidet.

Seuchen bekämpfen - in enger internationaler Kooperation. Hunger bekämpfen - in lokalen Initiativen, nicht über tausend internationale Verteilungsbürokratien. Allerdings auch nicht über die Lockangebote freihaus nach Afrika gelieferter Gentechnik von Monsanto. Unser täglich Brot ist nicht sicher, wenn ein US-Konzern das Patent darauf hat.

Wetterfestigkeit herstellen bei privaten Bauten und öffentlicher Infrastruktur. Tun, was man tun kann gegen äußerste Kälte, äußerste Hitze, Dürre, Flut, Sturm. Die Notkrankenhäuser ausmotten, die im Kalten Krieg unterirdisch angelegt wurden. Es sind viele, und sie könnten für Millionen Menschen Schutz und medizinische Erstversorgung bereitstellen, zu relativ günstigen Kosten.

Energie sparen und Alternativen entwickeln - was analog für sämtliche Rohstoffe gilt.

Vielleicht, und das wird das schwerste sein, eine Kultur, ja eine Ästhetik äußerlicher Bescheidenheit entwickeln, wobei innerer Reichtum fast zwangsläufig folgte. Aber das geht natürlich nicht - es schadet dem Umsatz.

Die Menschen informieren. Es gibt einige Menschen, die in diese Zukunft schauen können, ohne den Blick abzuwenden. Aber es kann nie genug geben.

All das ist nicht neu. Es steht seit vielen Jahren in Sonntagsreden, in Parteiprogrammen, Geheimdienstdossiers und Kirchentagsresolutionen. Es wäre nur an der Zeit, mit der Umsetzung zu beginnen. Jetzt.

Und mit diesem Appell, der uns Gründer am Ende, nach lange durchgehaltenem elitärem Gestus, doch wieder auf Durchschnittlichkeit reduziert, verabschiede ich mich, wenn nicht für immer, so doch für lange Zeit aus agrippas mund. Mit mir verabschieden sich die Kollegen Samjatin, Rodil, Manini, Manners, Ghika, Polignac sowie Herr Dsien.

Das letzte Wort hat selbstverständlich unser aller Herr, der princeps. Er wird sich im Dezember dem neutralen Gebiet widmen: Australien und Neuseeland.

Terra Australis
von
Adam B. Czartoryski, princeps consilii

Die Einsicht war nicht leicht, geschweige denn, dass die Entscheidung rasch fiel oder gar konfliktfrei, aber down under musste sein. Als unkontrollierte Weltregion, ein Gebiet, dem alle Räte abstinent gegenüberstehen – was nicht heißt, dass die Mächte ihrer Regionen sich dort immer heraushielten, beileibe nicht!

Ist die Welt ein Versuchsaufbau? Dann ist Terra Australis die Kontrollgruppe: Ein Papyrusboot ohne Lanzettruder, Aeroporto Marco Polo unter genuesischem Verwaltungsratsvorsitzenden oder Ayers Rock als Sandkorn im Stundenglas der Räte.
Gäbe es eine Metaphysik der Räte – hier stünden ihre Tempel, inmitten von Maoris, Aborigines, von Kunden der Neuseelandgesellschaft und deportierten Strafgefangenen. Genau hier. Nicht umsonst unterscheide ich bei relevanten Menschen, nur halb im Spaß, zwei Gruppen. Nennt man Bruce Chatwin, dann sagt eine Gruppe: Utz. Die anderen sagen: Songlines.

Alsdann zwölf Partituren:

I.
Per Waitangi-Vertrag schien bereits 1840 alles klar, jedenfalls, bis ein Autokorso der Maori den Widerstand von Regierungschefin Helen Clark provozierte, da verbriefte Besitzansprüche der Ureinwohner an besonders ertragreichen Küstenregionen kollidierten mit staatlicher Souveränität. Der Fall lag in der griechischen Provinz Achaia schon dem römischen Prokonsul Gallio vor (act.apost. 18, 12-17), wobei ein schönes Stück vom Schwein unverschenkt blieb, obwohl wir inzwischen wissen, dass Plinius der Ältere gute Gründe hatte, in den Vulkanausbruch zu segeln, und dass Augustus (Sueton, Caes., Augustus, 98) in Gegenwart von Thrasyllus über Masgaba reimt: „Das Grab des Gründers seh ich ganz in Flammen stehn." Wir müssen die – durchaus stark variierenden - europäischen Lebensstandards sichern in einem
zunehmend härteren internationalen und interkontinentalen Wettbewerb. Wir wollen schonender mit Ressourcen umgehen, als wir es bisher getan haben. Da Westeuropa beim Wettbewerb um die niedrigsten Kosten nicht mithalten kann, setzen wir auf Innovation und technologische Spitzenleistung. Zur Tragik der Dreiunddreißig gehört, dass sie als Auslöser der Französischen Revolution damit zugleich den Sturz der Serenissima Repubblica einleiteten. Als dann Venedigs Todesengel Bonaparte der Regatta zusah, die – o Hohn und Spott – zu seinen Ehren gerudert wurde, saß er am Fenster des Palazzo Balbi. Natürlich fangen wir am Ende an, bei den Barbieren!

II.
Zerkon Syenus schreibt in den Reformationes: „Ein seltsameres Bündnis wurde wohl nie zur Freundschaft - ich krummbeiniger schwarzer Zwerg vom Oberlauf des Nils und dieser blonde Gotenhüne. Mein Schicksal und das meines Freundes Totila mag uns als Lehre dienen, dass ein gemeinsamer Feind gar nicht viel zu tun braucht, nein, er braucht nur da zu sein, um die seltsamste Allianz zu schmieden."
Übrig bleibt ein wilder Eber.
Weiterhin schreibt Zerkon Syenus: „Hätten aber die Hunnen nicht in Oberitalien gewütet, kaum wären dann so viele hervorragende Familien in die Sieben Meere geflüchtet, und die Gründung unseres Lagunensitzes hätte sich verzögert, wäre womöglich vollends unterblieben, woran jedermann erkennt, wie allem Übel auch ein Quäntchen Gutes anhaftet und man ins Grübeln kommt, ob das sich nicht auch umgekehrt verhält.“
Unser Relais prägt den Osthang des Vulkans Big Ben auf Heard-Island, eine honiggelbe Wabe schändlicher Bienen, Seitenlänge 31 Zentimeter, während Öl- und Gasausbeuten zwischen Jakutsk und Irkutsk naturgemäß nach China fließen, und die einstige Gefängnisinsel Sachalin einen Teil der japanischen Versorgung übernimmt. So strömt in den kommenden Jahrzehnten genügend Geld nach Russland, um den von siebzig Jahren Kommunismus zerrütteten Koloss wirtschaftlich wieder zu beleben.
Dann erst begegnet ihr der Söldner, umgeben von Haifisch-Luftballons, auf Höhe des Palazzo Dario, wo John Fields zum Wechseln der Gondel gezwungen wurde, in einem Vaporetto der Linie 82, spätabends auf Höhe von Venedigs erstem Renaissancepalast, den böse Zungen ganz zu unrecht eine grell geschminkte Alte schimpfen. Dümmliche Monstren!

III.
Der Bedarf an Zügeln, die der Quadrigenlenker für sein Viergespann benötigt, ist nach wie vor strittig zwischen jenen, die behaupten, die inneren Deichselpferde hätten prinzipiell keiner bedurft, weil sie über Zug und Druck der Außenpferde gelenkt worden seien – und jenen, die das gerade Gegenteil behaupten, ohne jedoch zufrieden stellend zu erklären, wie ein einziger Wagenlenker simultan vier Paar Zügel handhabt. Übrig bleibt ein Bär, sofern wir annehmen, dass Plectrudis aus gutem Grund von ihrem Sohn Karl Martell in Köln arretiert wurde. Übrig bleibt auch ein Rheinkiesel. Wohingegen Annos Aufenthalt im Loch vollkommen willkürlich ist und auf dem natürlichen Verhalten eines Fuchses beruht, der auf dem Heumarkt an einen Unbekannten verkauft wurde, um Weihnachten des Jahres 999.
Und der Hund? Canis? Lupus?
Zwar wird die Welt dann unberechenbarer, doch Japan muss einen selbstständigen politischen, nicht nur wirtschaftlichen Kontakt zu den alten Kriegs- und Kolonialgebieten herstellen, bevor eines Tages Amerikas Schutz wegbricht, oder die demografische Falle zuschnappt. China ist ein gar zu anspruchsvoller Nachbar, und unser Relais nimmt jeweils am 26. Januar, dem australischen Nationalfeiertag, einen neuen Arbeitszyklus auf. Wir sollten also dem unglückseligen Marchese Guardini zugute halten, dass für eine kleine, verschworene Gruppe gebürtiger Venezianer und Mitglieder beziehungsweise Beauftragter des Rates im Ridotto auch noch Spiele stattfanden, nachdem das Haus am 27. November 1774 offiziell geschlossen worden war. Die Spieltugend!

IV.
Wo der betrügerische Salesianermönch die Karte für dreißig Cent verkauft, doch für drei Karten einen Euro haben will, hätte die ottonische Pfalz nie und nimmer Bestand gehabt. Obwohl Marino Falier noch ungeboren war, ist der Wald ist der Wald ist der Wald. Mehr gibt es über die Templer nicht zu sagen, außer vielleicht, dass inhaftierte Assassinen keinen Schaden taten. Sodann: der Irak. Ich werde hier nur auf eine der vielen vermengten Problemlagen eingehen, nämlich auf die (halb)autonome kurdische Minderheit im Norden des Landes. Ihr Autonomiegebiet dürfte sich binnen kurzem zum Magneten für die anderen kurdischen Minderheiten entwickeln, im Iran, in Syrien und in - der Türkei. Wer dann glaubt, mit dem Palazzo Contarini und dem Palazzo Contarini-Fasan (Elternhaus Desdemonas, der Frau, die von Cristoforo Moro aufgrund unbegründeter Eifersucht ermordet wurde, was Shakespeare inspiriert haben soll) am Ende zu sein, wird bald eines Besseren belehrt durch den Palazzo Contarini delle Figure, den Palazzo Corner-Contarini dei Cavalli, den Palazzo Correr-Contarini, den Palazzo Foscari-Contarini, den Palazzo Contarini degli Scrigni, den Palazzo Contarini-Corfu, den Palazzo Contarini-Polignac und den Palazzo Contarini del Bovolo (mit Rückenansicht auf der Wendeltreppe), der aber schon nicht mehr am Canal Grande liegt, ebenso wenig wie der Palazzo Contarini dal Zaffo, wo Tizian verkehrte, als er das Bild malte, das heute hinter meinem Schreibtisch hängt. Von Dirk van Bleiswijk zu Tasman: Das Relais wird bedient aus Canberra, 119 Empire Circuit, Yarralumla A.C.T. 2600, wobei ausschließlich Nachrichten über das 70 Quadratkilometer kleine Jervis Bay Territory übermittelt werden, solange dies über keinerlei eigene Verwaltung verfügt. Vornehme Damen?

V.
The Sydney Morning Herald druckt unsere Anzeigen längs einer gedachten Linie Uluru-Kaptiale. Unsere Inserate für die Linie Uluru-Darwin erscheinen in der Courier-Mail. The Age versorgt Tasmanien - schon wieder ein Pferd, diesmal ein Schimmel, den ein Armbrustschütz per Blattschuss erlegt. Gespeist wird dennoch Rehkeule ... und schon wieder - diesmal wird in der hungernden Stadt Pferdefleisch gebraten, vielleicht auch, weil das Reittier im Belagerungskrieg naturgemäß eine eher untergeordnete Rolle spielt.
Es erfüllt mich mit Hoffnung, zu beobachten, wie, wenige Jahre nach der epochalen Erdbebenhilfe Griechenlands für die Türkei und immerhin achtzig, neunzig Jahre nach den ethnischen Säuberungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs, auf beiden Seiten das Vergeben einsetzt. Umso tragischer ist, dass wenige Kilometer nordwestlich alle Episoden der türkischen Eroberung noch einmal nachgefochten werden müssen. Ein Ersatzkrieg? Der Palazzo Erizzo geht aber durchaus nicht auf den legaten Paolo Erizzo aus der Akte Konstantinopel zurück, auch nicht auf seine Familie, denn die stammte aus Genua. Stadtbewohner: Der Mohr trägt, ungeachtet seines anachronistischen Turbans die Züge von Zerkon Magnificus!

VI.
Erlösung! - als nach all den Pferden der kaiserliche Lieblingslöwe Mahommed die Pranke schläfrig durch das Käfiggitter baumeln lässt – obwohl, zuvor wandelte man durch einen Stall mit weißen Andalusiern. Reminiszenzen an ein Autodafé inklusive. Man beachte, dass sich heute der Vatikan antikatholischer Inquisition ausgesetzt fühlt. Und dass zugleich die Sonnenblumen weniger werden. Wohingegen der Import von Pfeffer für holländische Brauereien aufgrund genereller Kapitalknappheit fast unmöglich scheint. Und übrig bleibt? Genau: der Bär. Betreut wird das Gebiet von unserem legatus extra Paolo Correnti, Djakarta, der sich alle zwei Monate, abwechselnd in Canberra und Wellington, mit Kollegen von den anderen Räten trifft. Australische oder neuseeländische Autoritäten bzw. Delegierte haben bei solchen Treffen keinen Zutritt. Die Treffen dienen ausschließlich dem Clearing in Fällen von Neutralitätsbruch, bzw. in Fragen des Betriebs der Relais. Abgesehen vom Personen- und Objektschutz stehen dabei rund 200 eigene Schwarze Hände für den operativen Einsatz zur Verfügung, und wir engagieren für periphere Aufgaben im Jahresmittel noch einmal die gleiche Anzahl Söldner, die nie zwischen den beiden Säulen hindurchgehen dürfen – oder die Figur auf dem Krokodil mit „San Teodoro“ anreden, denn ihr Original steht unter den Giganten.  Etwa auf Höhe der vornehmen Damen.

VII.
Gewiss, schon wieder der Bayenturm des Friedensstifters aus dem Heeresgeschichtlichen Museum. Wir können aber die Geschichte nicht verfälschen – und fügen uns daher dem Schicksal, dass Überbringer schlechter Botschaft als deren Urheber gelten, ja behaupten vorsorglich sogar, beim Immobilienhandel rund um das neue Kölner Archiv ginge alles mit rechten Dingen zu. Im Norden steht eine offene Falle: Die Menschen der russischen Exklave Kaliningrad streben in die EU, doch wir dürfen ihnen keine Perspektive öffnen, weil sonst Moskau verrückt spielt. Die Gründer haben sich also im Baltikum auf ein extrem waghalsiges Experiment eingelassen. In Ausnahmefällen nehmen an den geheimen Treffen in Canberra und Wellington Vertreter der Britischen Krone teil, Generalgouverneur Michael Jeffery und Generalgouverneurin Silvia Cartwright, allerdings nur, solange die Relais der Räte nicht involviert sind. Lord Byron tritt im Palazzo Benzon (als Gast der Contessa Querini-Benzon) nur zu Ehren meines praefectus magistrorum, Juan Rodil auf. Wie überhaupt stets alles ein Gemenge ist aus öffentlicher Wirksamkeit und dem Privatesten. Tiere, überall Tiere!

VIII.
Junge Zaren werden gerne unterschätzt, während die Wasserfälle rauschen. Alte Zaren werden gerne überschätzt, während die Newa meerwärts strömt. Den Flüssen stelle man sich nur entgegen, wenn der eigene Atem lange währt. Oder Nigeria – der Koloss mit 130 Millionen Menschen, in dem sich Europäer und Amerikaner um Öl streiten, in dem sich fünfzig Prozent Christen mit vierzig Prozent Muslimen streiten und darüber und darunter und dazwischen die großen Stämme Haussa, Yoruba, Ibo und Fulani – nicht zu reden von jenen kleineren Stämmen, die noch einmal rund dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Wer dieses Land entwickeln und stabilisieren könnte, würde einen entscheidenden Beitrag zur Rettung ganz Afrikas leisten. Wir können es nicht. Auch nicht in Kenia oder Tansania. Doch die Querini – nehmen sie nur den Brustpanzer aus der Reichshof- und –rüstkammer, Wien, sind selbstverständlich mit einem eigenen Palazzo vertreten, wie denn auch sonst, immerhin gehörte der Kommandant des venezianischen Flottenkontingents bei Lepanto der Familie an.
Da Quantas 32,5 Mio Passagiere befördert hat, besteht seitens des Komitees der Vereinigten Räte keinerlei Absicht, das finanzielle Engagement bei der Fluggesellschaft aufzugeben oder zu reduzieren. Dem kann ich mich als princeps der Gründer anschließen, voll einvernehmlich mit meinem praefectus horrei Jules V. Polignac. Altertümliche Gelehrte mögen gegenteiliger Ansicht sein.

IX.
Weniger einverstanden sind wir mit John Howards bedingungsloser Unterstützung des US-Kurses unter der Regierung Bush. Bei allem Verständnis für die exponierte Lage westlicher Gesellschaften im Südpazifik und das daraus resultierende besondere Sicherheitsbedürfnis ist solche Nibelungentreue eigentlich unvereinbar mit dem Neutralitätsprinzip und den Übereinkünften des letzten Gipfeltreffens aller Räte, der Millenniumskonferenz 2000. Auf der Konferenz 2005 wird hiervon zu sprechen sein. Wenn nun Patu den Hund vergiftet hätte, wäre dann später, ein Dossier weiter im Leben des Chevaliers de Seingalt, das Erdbeben von Lissabon nicht an den Dachbalken der Bleikammern ablesbar? Schon die Anzahl der Sbirren, die ihn verhafteten, war angeberisch hoch. Der Chevalier war kein bescheidener Mann, dass allerdings jenes legendäre Treffen mit den Schwarzen Händen stattfand, zu Füßen Colleonis, kurz vor der Verhaftung, ist zweifellos wahr. Liechtenstein lassen wir beiseite. Auf das Finanzgebaren der Schweiz kamen wir kurz zu sprechen, doch das kleine, ungemein praktische Fürstentum bleibt jeder näheren Erläuterung enthoben. (Apropos: San Marino, Andorra, Monaco, die Kanalinseln, die Isle of Man, etc. desgleichen. Meine praefectur arbeitet an einer Studie über die Tauglichkeit solcher Standorte für den Fall, dass wir entscheiden, unser Großes Archiv aus Venedig fort zu verlegen.) Und den Palazzo Grassi, das präklassizistische Meisterwerk Giorgio Massaris, erwähne ich nur wegen der Ausstellung „Effetto Arcimboldo" aus dem Jahre 1987. Deshalb wird Heulen sein und Zähneknirschen über diesen späten, wenn mich nicht alles täuscht - letzten - Palastbau am Canal Grande. (Peggy Guggenheim zählt nicht!) Die Monstren werden sie zerreißen.

X.
Wer hätte je gedacht, dass Goethe Obelisken durch Rom spazieren trägt, fast so, wie Eulen nach Athen? Und wer hätte je bezweifelt, dass Bethesda Terrace ein Versuchsballon war, den der misstrauische princeps Siau Chou aufsteigen ließ, als Falle für seinen praefectus ordinis? Weshalb er dann ja auch zu Tode kam auf dem Kanal, und die Strecke zwischen Tatort und dem Vaporetto-Anleger Crea von Bedeutung sein wird, sogar in den unterirdischen Anlagen des erneuerten Kölner Archivs, dieweil auf dem Balkon der Schluss von Heines Wintermärchen erklingt: „Nimm dich in acht, dass wir dich nicht zu solcher Hölle verdammen.“
Energisch widersprechen wir jeder Bestrebung in Australien und Neuseeland, aus dem Commonwealth auszuscheren. Insbesondere australische Bestrebungen, eine parlamentarische Demokratie anstelle der parlamentarischen Monarchie zu setzen, missbilligen wir. Sollte sich Australiens Verfassung ändern, ist das für uns - innerhalb der Räte - der Casus Belli. Wir akzeptieren den ungebremsten US-Einfluss und die asiatischen Handelsverstrickungen nur unter der Voraussetzung, dass sie per Verfassungskonstrukt ihr Widerlager in London behalten. Die Zeiten sind nun glücklich vorbei und nicht einmal Churchills strategische Vision von den drei Säulen des Westens - Empire, USA und Europäische Gemeinschaft - spielt noch irgendeine Rolle. Das Empire gibt es nicht mehr und Großbritannien hat sich der Europäischen Union angeschlossen. Wir können es nicht oft genug betonen: Der Fisch fängt vom Kopf an, zu stinken. Das gusseiserne Tor zur alten Pescheria kann deshalb nicht hoch genug respektiert werden! Fische und Krustengetier jeglicher Art und nebenan, in der L'Herberia, zehn Meter Kisten Porcini ... Aber das Schicksal eines jungen Paares?

XI.
Waren Austern übrig? Rheinwein? Er hat es geliebt, das Wasser von Spa, unser Paulus Smet-Nayes, und wöchentlich wurde es per Luftfracht nach Boston geliefert. Nüchtern betrachtet müssen wir gestaltend auf die Situation einwirken, die wir vorfinden. Wir müssen bis zum besagten Zeitfenster überleben. Dann müssen wir im Zeitfenster richtig und sehr rasch handeln. Und danach erst, in fünfzig bis hundert Jahren, entscheidet sich, ob unsere Art diesen Planeten noch etwas länger bevölkert. Doch in der Frage des Öls der Timorsee stehen wir aufseiten Australiens und damit im Konflikt mit CLU. Ich muss das hier nicht noch näher erläutern, oder? Der Fall ähnelt dem Fondaco dei Tedeschi, wo wir niemals das Lager der Fugger betraten, noch an jenem Fest teilnahmen, das dort, wie allenthalben in Venedig, zu Ehren des Siegers von Lepanto, Don Juan d'Austria gefeiert wurde. Nicht einmal den Entwurf von Tizians Fresken bekamen wir zu Gesicht. Nur Körbe mit verschiedenen Früchten.


XII.
Die Martinsgans war gut. Kastanienfüllung dito. Der Barolo war besser. Und alle Anleihen, insbesondere jene von Schloss Moyland, wurden zurückerstattet und verzinst. Hat jemand diese Konstruktion bemerkt? Er oder sie melde sich am John-Kerry-Aufkleber an der Rückwand des Vaporettoanlegers der Ca’d’Oro. Die Anzahl der Einwohner Neuseelands beträgt ein Fünftel der jährlichen Hotelübernachtungen in Venedig. Neuseeland ist herrlich ruhig. Im Jahr kommen zwischen siebzig- und achtzigtausend Touristen – ungefähr so viele, wie Venedig Einwohner hat. Trotzdem ist es nur ein Gerücht, dass die Gründer, gemeinsam mit anderen Räten, ihr Hauptquartier hierher verlegen wollen, denn auf einer gedachten Linie Dunedin - Kap Palliser - Bay of Plenty erscheinen unsere Inserate ausschließlich in der Dominion Post. Am Anfang endete der Ritter.