creatores : DAS ARCHIV DER GRÜNDER : agrippas mund |
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Stefan Frank Das Archiv der Gründer Roman Pb 455 Seiten 28,95 € ISBN 978-3-8334-8556-5 Kaufen im BoD Shop oder überall im Buchhandel |
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Das Archiv der Gründer. Der Roman.
Die handelnden Personen sind geblieben - von Karl Bucholtz bis Pilgrim de Benevent - von Monica zu Goethes römischer Freundin Faustina. Auch die meisten Schauplätze sind noch da - vom Carcer Mamertinus über den Hradschin bis auf die Bastei in der sächsischen Schweiz. Trotzdem ist alles anders. Es ist nicht mehr die Website, die 1999 startete. Der Roman ist erschienen. Scheinbar selbständige Dossiers und Akten entpuppen sich als Spuren einer Schnitzeljagd durch zweitausend Jahre, als Spur des Aurum Agrippae, des mythischen Strategietextes am Anfang der Gründer. Die Zeichen mussten nur herausgelesen werden aus dem Wust des Spielmaterials, das De Kempenaer dem Archivmagister Geldern untergejubelt hatte. Jetzt wird das Muster sichtbar. 2008 publiziert die Website - nach wie vor kostenlos - Aurum Agrippae. Und aus dem Roman gibt es für potenzielle K ä u f e r hier eine Leseprobe aus jedem Kapitel ...
Dossier Bucholtz 1998
Der Boden zitterte, als im Canal der Vaporetto mit dröhnender
Maschine losfuhr und den Anleger frei gab für den nächsten
Wasserbus, der schon heranglitt. Bucholtz mochte es nicht, dieses Gefühl
sacht wippenden Terrazzo Marmorins, wenn Flut in die Lagune drang, wenn
starke Bootsmotoren Kielwasser gegen die Mauern schwappten, oder wenn
ein Kollege gewichtigen Schrittes die weiten blanken Flächen abmaß
im Piano nobile der venezianischen Paläste. Ohne Termin hätte
er das eklige Wippen besser vertragen. Heute regte es ihn auf.
In knappster Form hatte man Bucholtz einbestellt, unhöflich,
ohne Begründung, weshalb der prächtige Portego heute sogar
ihn einschüchterte - wahrhaft ein Vorzimmer der Macht. Dabei hatte
magister Bucholtz noch vor drei Jahren selbst am Arbeitsplatz des Sekretärs
gesessen und liebte jede einzelne Facette der sieben Muranolüster,
die den gewaltigen Saal beleuchteten - jetzt im Februar auch noch um
neun Uhr morgens.
Der neue Sekretär bestellte einen Finanzmagister zum
Vortrag, wobei, ganz beiläufig, aber doch lauter als nötig,
der Satz fiel: “Sie werden praefect de Kempenaer nicht antreffen. Der
sitzt beim Chef.”
Karl Bucholtz schluckte, sehr bewusst, es kostete ihn Mühe.
De Kempenaer beim Chef ... und der princeps hatte Bucholtz mit keiner
Silbe vorgewarnt ... das galt der Erbschaft! Seit 1981 ging es immer
wieder um die Erbschaft, obwohl sie doch in läppische vier Koffer
gepasst hatte.
.
Onkel Matthias hatte weder Konten hinterlassen noch Immobilien
oder Hausrat, nur besagte vier Aktenkoffer aus schwarzem Boxcalf - und
seinen zwanzigjährigen Neffen als Universalerben. Bucholtz hatte
den Empfang der Koffer quittiert, in ungeöffnetem Zustand, sogar
verplombt, gemäß einer Testamentsklausel, deren erbschaftssteuerrechtliche
Fragwürdigkeit ihm damals entging. Der Notar hatte die schweren
Trumme einzeln auf den Schreibtisch gewuchtet, offenbar froh, dass er
sie los wurde, denn er nahm ungerührt in Kauf, dass ihre Messingecken
sein poliertes Nußbaumholz zerkratzten.
Verplombt hatte Bucholtz sie tagsüber auf dem Rücksitz
kutschiert. Verplombt standen sie neben Butterbrot und Pfefferminztee
und schließlich beim Abwasch im Weg. Tatsächlich wurde es
Nacht, bis er das erste geflochtene Bleidrähtchen mit dem Küchenmesser
aufschnitt, das lose Ende aus dem Schnappschloss zog und einen verständnislosen
Blick warf auf den winzigen Pfeil, der die Plombe zierte, von unten
rechts nach oben links geprägt. Dann allerdings begriff er rasch:
Hier nahm sein Leben eine Wende.
Er fand gut dreißigtausend Mark in bar, einen Brief
von Onkel Matthias und dicke Stapel alter Pergamente, viele in kryptischem
Latein. Seltener las er Deutsch, altertümliches Englisch und Französisch,
zumeist sinnlos - oder vielleicht verschlüsselt? Besonders
raffiniert verschlüsselt wirkte, was sich zunächst wie Klartext
las - oder was sollte er von dem dreiseitigen Memorandum halten, in dem
unterzeichneter Cornelis Hornstift, pictor, seinem Kaiser Rudolf wärmstens
empfahl, die Lehren des Bacon-Manuskriptes zu beherzigen? Was ging dem
quellenkundlich nicht ganz unbedarften Geschichtsstudenten durch den
Kopf über Texten, wiederum Pergament, daher vermutlich nur Abschrift
antiker Papyri, die vom Apostel Petrus sprachen, als hätte der seine
eigene Hinrichtung um Jahre überlebt?
Nur zwei harmlose Beispiele! Beunruhigender war der Brief.
Nach dem Autounfall hatte Matthias Geldern notgedrungen Bucholtz’ Vormundschaft
übernommen und ihn sporadisch im Internat besucht. Sie waren recht
gut miteinander ausgekommen - auf Distanz. Warum lockte Matthias Geldern
jetzt seinen Neffen in dies Zwielicht?
Bunte, nicht immer künstlerisch wertvolle Porträts
der Amtsvorgänger des regierenden princeps schmückten in
dichter Folge die Wände, weshalb man irgendwann im Rokoko, in
kluger Selbstbeschränkung, die Saaldecke hart weiß gefasst
hatte. Der Stuck erzählte Geschichten vom langen Wirken des Gründerrates,
angefangen bei Marcus Vipsanius Agrippa, der es gewagt hatte, Kaiser
Augustus zu widersprechen. Sogar die Muranolüster ordneten sich der
schlichten Erzählweise unter, indem sie nämlich aus klarem Kristall
gefügt waren, ohne farbiges Einsprengsel. Bucholtz wanderte, die Hände
im Rücken verschränkt, zwischen Wasser- und Gartenfront auf
und ab, scheinbar vertieft in die Ornamente chinesischer Seidenteppiche,
die hier nach dem Geschmack des princeps lagen. Tatsächlich schielte
er im Vorbeigehen auf den Bildschirm des Sekretärs. Ihn interessierte
die morgendliche Terminplanung. Der lange holländische Name stand
deutlich lesbar an drittletzter Position - Gerrit Daniel de Kempenaer -
und, wie Bucholtz bemerkte, mit einem Häkchen im Feld auf Wunsch des
princeps. Siau Chou musste also mindestens drei Leute zu diesem Gespräch
bestellt haben - De Kempenaer, Karl Bucholtz selbst, der vermutlich in der
untersten Zeile stand, und noch jemand dritten. Nur - wen? Und würde
dieser Dritte eher helfen oder schaden?
( ... )
Gallio an Marcus Vorenus, den
Ersten des Rates. Glück und Gesundheit vorab!
Paulus ist klüger, gebildeter und kosmopolitischer als
Petrus. Er ist auch beherrschter - im Gegensatz zu Petrus hackt er
nicht fremden Leuten im Affekt das Ohr ab. Vielleicht ist er sogar tapferer
als Petrus, der seinen Herrn dreimal verleugnete. Aber ihn juckt,
anders als Petrus, eine ewige Narbe - Paulus hat ihren Halbgott Jesus
Christus nicht gekannt. Er behauptet, Jesus wäre ihm nach der
Kreuzigung als Lichtgestalt erschienen. Petrus jedoch ist mit dem lebendigen
Jesus gewandert und hat mit ihm gegessen. Paulus fühlt sich als
der bessere Mann, befähigter zur Führung, was ohne Zweifel
zutrifft. Aber Petrus ist der Berufene. Und Jacobus der Echte war sogar
der menschliche Bruder des Halbgotts, geboren von derselben Mutter. Vor
etlichen Jahren trafen sich die Drei mit anderen Aposteln zu einem Konzil
in Damaskus. Damals kam es zu jener Regelung, bei der Petrus eigentümlich
ins Hintertreffen geriet.
Die Missionsgebiete von Petrus und Paulus wurden sauber getrennt.
Paulus erhielt Erlaubnis, im ganzen Reich Griechen und Syrer, Kleinasiaten
und Afrikaner, wen immer er fand, zu missionieren. Nur das Geld der
Kollekte musste er regelmäßig bei der Muttergemeinde Jerusalem
abliefern - bei Jacobus dem Echten, dem Herrenbruder. Die Kompetenzen
des Petrus jedoch wurden beschnitten. Er durfte das Christentum nur noch
in jüdischen Kolonien predigen. Und seine Mission war keineswegs
selbstständig, sondern der Oberaufsicht von Jacobus dem Echten unterstellt.
Eine missliche Lage für Petrus. Mit dem Tod des echten Jacobus gewann
er zwar ein wenig Unabhängigkeit zurück, doch seit dem falschen
Jacobus, der jetzt in seinen Briefen behauptet, auferstanden zu sein, liegt
Petrus wieder an der Leine.
Hier in Rom wollte sich Petrus vom Jerusalemer Gängelband
lösen. Sein Pech war nur, dass schon Paulus in Rom missioniert
hatte, um ein Basislager für seine Spanienmission zu errichten.
Als Petrus dem Paulus hier in die Quere kam, zunächst mit dem Argument,
er wolle die Juden Roms missionieren, später jedoch als Führer
der ganzen Gemeinde, da schlug Paulus heimtückisch zurück und
verriet Petrus an die Behörden.
Wir wissen nicht, was Petrus vom Verrat des Paulus weiß.
Das macht es nicht leichter, die beiden auszusöhnen und auf gemeinsamen
Kampf gegen den falschen Jacobus einzuschwören.
Außerdem müssen wir damit rechnen, dass Petrus
sich gegen seine Befreiung sträubt. Denk an die Opfersucht der
Christen! Sie glauben, ihre Fantasien werden wahr, wenn sie dafür
sterben - und nennen das: Blutzeugnis. Bei Petrus liegt der Fall noch
komplizierter. Er hat seinen Halbgott Jesus dreimal verleugnet, um sein
eigenes Leben zu retten. Während Pontius Pilatus in Jerusalem über
Jesus zu Gericht saß, kam es im nächtlichen, von Fackeln beschienenen
Hof zu einem merkwürdigen Vorfall mit drei Hähnen. Seither drückt
Petrus eine Ehrenschuld, die in seinen Augen nur mit dem Tod gesühnt
werden kann. Solch abstruses Zeug begegnet dir ständig, wenn du mit
Christen verhandelst.
Doch dies ist nicht einmal die eigentliche Schwierigkeit.
Wie viel von unserem Wissen dürfen wir preisgeben im Gespräch?
Ganz gleich, wie wir entscheiden, wir setzen stets unsere Glaubwürdigkeit
aufs Spiel. Sollte Petrus selber über den Verrat des Paulus Bescheid
wissen, dann machen wir uns unglaubwürdig, sobald wir unser Wissen
verleugnen. Wenn Petrus noch nichts weiß, und wir offenbaren den
Verrat, dann hetzen wir beide Apostel aufeinander. Ich schlage deshalb
vor - wir geben zu, von ihrem Kompetenzgerangel zu wissen. Wir kennen ihre
Vereinbarung über die Aufteilung der Missionsgebiete. Außerdem
wissen wir, dass Petrus in Rom den Vertrag mit Paulus gebrochen hat. Damit
sollten wir es gut sein lassen. Mehr geben wir nicht preis. Sie dürfen
nicht merken, dass wir ihre schmutzigen Geheimnisse kennen.
Denn was macht Paulus, wenn wir ihn entlarven? Ist er kalt
bis ans Herz und tut, als ginge ihn der Vorwurf nichts an? Beharrt er
auf seinem Recht, die Spanienmission vor der Zudringlichkeit Petri zu
schützen? Oder versinkt er vor Scham im Boden und fällt als
Verhandlungspartner aus? Und Petrus? Bricht er zusammen? Schlägt
er Paulus ein Ohr ab? Oder lässt er das Gespräch platzen? Kurzum
- von uns darf Petrus nicht erfahren, dass Paulus ihn verraten hat. Und
Paulus darf von uns nicht den geringsten Vorwurf hören.
( ... )
Faustus bettete Petrus auf den Maultierkarren, den er nachmittags
beim Umspannhof der Via Appia gemietet hatte. Petrus war noch verwirrt.
Außerdem fieberte er, kein Wunder nach der Haft im kalten, feuchten
Tullianum! Versteckt unter Filzdecken brummelte Petrus wütend
und ängstlich. Faustus lenkte das Maultier zum Tiber in den anschwellenden
Karrenverkehr, wo sie nicht mehr so einsam und auffällig durch
die nächtliche Stadt zockelten. Dann bog er links ab, um zwischen
Aventin und Palatin auf die Via Appia zu kommen. Sie hatten gerade die
Hälfte des verbrannten Ruinenfelds am Circus Maximus passiert, da
richtete sich Petrus auf und schrie: “Wohin fährst du, Engel des
Herrn? Kennst du mich nicht? Ich bin Petrus, der Fels. Ich muss zu meinen
Brüdern. Rasch, eile, denn die Zeit ist nah!” Ein Platzregen ließ
Petrus verstummen, doch bald ergriff der Fieberwahn erneut das Wort:
“Wohin, Engel des Herrn? Ich muss zu meinen Brüdern, mit ihnen
sterben!” Zum Glück war er recht schwach und seine Stimme endete
in einem Krächzen.
Faustus hielt und sah sich um. Gut dreißig Fuß
vor ihm rumpelte ein Gemüsekarren übers Pflaster. Die hatten
bestimmt nichts gehört. Sonst war niemand in der Nähe. Trotzdem
band Faustus das Maultier an einen verkohlten Balken und kümmerte
sich um Petrus. Er fesselte dem kraftlos Widerstrebenden die Hände
auf den Rücken und knebelte ihn. Danach kamen sie gut voran. Schon
lag das Scipionengrab hinter ihnen im Mondlicht und sie näherten sich
dem Treffpunkt, wo Paulus, Gallio und princeps Vorenus warteten.
( ... )
Akte Pompeji
Ach, schweigt mir vom Vesuv! Es waren Aktendiebe und
Verräter, die den Ursprung unseres Archivs verdarben, Leute wie
Karl Bucholtz hier und sein verfluchter Onkel Geldern. Ihnen verdanken
wir den schrecklichen Verlust, vorausgesetzt, es handelt sich beim
Aurum Agrippae nicht überhaupt um einen Mythos.
Gerrit Daniel de Kempenaer in seinem Prozess im Jahr 2000
( ... )
Mein princeps
behielt recht: Die Inspektion des Hauptarchivs in Alexandria übertraf
unsere schlimmsten Befürchtungen. Kein maßgebliches Dokument
fand sich im Stadtteil Brucheion. Alles versteckt - gerade mal, dass
Hieron uns durch seine Kontore in der Griechenstadt führte, wo
wir Fälschungen inspizierten, Kleinkram und Hierons scheinheiliges
Grinsen, wann immer er geruhte, meine Fragen zu beantworten.
“Wo steht Agrippas politisches Testament?”
“Cornelius, bester Cornelius Acro: Leider vom feuchten Klima
zerfressen, buchstäblich zerfressen, aber es gibt ja noch Agrippas
Denkschrift zum Polis-Projekt. Nicht interessiert? Schade!”
“Aber wenigstens die Prozessakten ... Gniphos Fehlurteil über
den Verräter?” setzte ich nach.
“Leider nicht im Bestandskatalog. Sind vielleicht in Rom geblieben,
als Vorenus das Archiv umlagerte? Nein? Sicher nicht?”
Nur die Geschäftsbücher fanden wir vollständig
und akkurat, wie es von Hieron nicht anders zu erwarten war.
( ... )
Princeps Vorenus zupfte ein
Thymianblättchen vom Zweig und zerrieb es, um den matschigen Krümel
sogleich wegzuwerfen. Auf den Fliesen hatte sich schon ein ganzer
Kranz solch feuchter grüner Punkte gebildet. “Ich traue ihm nicht
mehr. Niemand wirft Cornelius vor, dass er drei Viertel des Archivs
verlor. Das war ein furchtbarer Schlag, aber nicht seine Schuld. Ich
habe Pompeji mit eigenen Augen gesehen und weiß, nur ein Wunder
hätte das Archiv unbeschadet aus diesem Inferno gerettet. Aber warum
hat Cornelius nicht offen mit mir über seinen Bruder gesprochen?
Ich hatte keine Ahnung, dass Manius bei Hieron war. Ich glaubte Manius
verbittert auf dem Landgut der Gebrüder Acro.”
“Leider ... ”, Marcellus zögerte. Ihm war unbehaglich.
Er war es nicht gewohnt, mit dem princeps Wein zu trinken und ihm bei
der Meinungsbildung zu helfen, aber er musste berichten, was geschehen
war. “Leider bin ich noch nicht zuende mit den üblen Nachrichten.
Als ich tags darauf zurückkam, mit der Nachricht vom Tod des Plinius,
da hockte Cornelius Acro stumpfsinnig vor dem erschreckend kleinen Haufen
Codizes und Rollen. Er hatte sie auf der Porphyr-Grabplatte gestapelt.
Viele Stunden waren vergangen, in denen Cornelius nicht das geringste
unternommen hatte. Heute fürchte ich, er wollte Zeit schinden für
seinen Bruder.”
Im Mausoleum lagen die Elendsgestalten der Männer am
Boden, ohne Nahrung und sauberes Wasser, bestenfalls zu Tode erschöpft,
etliche aber schon fiebernd, weil ihre Wunden sich entzündeten.
Acro ließ sich widerwillig von Marcellus‘ Tatkraft anstecken und
trieb die, die sich noch bewegen konnten, zurück nach Pompeji. Die
Landschaft war völlig verwandelt. Sie ritten über eine sanft
ansteigende Ebene aus feuchter, oberflächlich verkrusteter Asche.
Flüchtlinge kamen ihnen nicht mehr entgegen, die meisten Menschen,
die sie trafen, bewegten sich in ihre Richtung, Heimkehrer, denen die Abwesenheit
von Pompeji, Stabiae oder Herculaneum das Leben gerettet hatte. Jetzt überholten
sie den Trupp in verzweifelter Hast. Der jüngste Aschenregen war mit
so gewaltigen Wolkenbrüchen einhergegangen, dass die Sonne den Boden
erst oberflächlich wieder getrocknet hatte. Stellenweise brachen sie
durch die Kruste und sanken knöcheltief in körnigen Matsch. Am
Sarnus war kein Durchkommen. Der Fluss hatte sein neues Bett durch die Aschenhalden
noch nicht ausgeschwemmt und staute sich, bildete, so weit das Auge reichte,
eine Seenlandschaft aus flachen Pfützen, in denen es von silbrigen
Fischleibern zappelte und spritzte. Die Brücke suchten sie vergebens.
Und da die Pferde sich, nach einigen versuchsweisen Schritten, nicht in den
Sumpf hineinführen ließen, kostete der Umweg schließlich
den halben Nachmittag.
Pompeji war verschüttet: Die unteren Stockwerke lagen
unter Asche und Bimsstein. Nur hier und da staken noch Ruinen höherer
Geschosse hervor, eine Flucht rußgeschwärzter Säulen
ohne Gebälk oder ein Giebel. Die Dachstühle waren unter der
Aschenlast zerbrochen. Heimkehrer irrten durch die Aschenhalden, unter
denen kein Straßenzug mehr erkennbar war. Eine Witwe wiegte ihren
ausgegrabenen Ehemann im Arm. Ein Bäcker hatte den Verstand verloren.
Er grub mit dem Brotschieber nach seinem Haus. Auf dem Kopf trug er einen
aufgeschnittenen Brotlaib. Immer wieder schaute er zum Himmel, wo der nächste
Steinschlag blieb. Als er sie bemerkte, plärrte er:
“Ihr glaubt doch nicht, dies war mein Haus? Nein, nein, mein
Haus lag ganz woanders, das Loch hier grabe ich nur für meinen
Sauerteig. Morgen gibt's frisches Brot, das Pfund ein Goldstück.”
Ein irres Kichern folgte. “Hab ich euch drangekriegt, ihr Pack, ihr Plünderer?
Mein Mehl fresst ihr mir nicht weg!”
Sie fanden die Trasse der Landstraße so wenig wie irgend
einen innerstädtischen Straßenzug. Doch die Zypressengruppe
vor dem Nuceria-Tor war noch auszumachen. Marcellus erinnerte sich -
während Cornelius nicht mehr ganz sicher war - wie viele Bäume
in welcher Anordnung dort gestanden hatten. Asche bedeckte den unteren
Teil der Stämme, doch die sieben schlanken Säulen ragten immer
noch hoch über die Asche empor - als verkohlte Strünke. Hier war
der Karren umgestürzt, hier musste noch zu finden sein, was die Männer
nicht aus den Aktendosen gerissen und auf der Flucht mitgeschleppt hatten.
Für eine systematische Grabung war es schon zu dunkel. Marcellus
wollte gleich zwischen den Bäumen campieren, doch weil ein scharfer
Wind ging, führte Acro sie in den Windschatten einer Mauer, zwischen
die Ruinen der Porta Nuceria, wo sie sich das letzte gute Wasser teilten.
“Noch Wein?” fragte Vorenus. Marcellus lehnte dankend ab.
Ihm war nicht nach Wein in dem starken Thymianduft, der beklemmend
im Raum lag. “Ich liebe Cornelius Acro, wie meinen eigenen Sohn”, sagte
Vorenus. “Siehst du irgendeinen Weg, mir deinen Bericht zu ersparen?”
“Ich fürchte nein, Herr”, sagte Marcellus. “Aber ich
will es kurz machen.
Vor Tagesanbruch rüttelte die Wache mich aus dem Schlaf
und meldete, draußen bei den sieben Zypressen brenne lichterloh
ein Feuer. Ich rief Cornelius - keine Antwort. Wir suchten ihn - er
war nicht da. Also machten wir uns zu zweit auf, um herauszufinden, was
bei den Bäumen vor sich ging. Sehr nah kamen wir nicht heran. Sie
hatten eine Postenkette aufgestellt. Einige trugen Dreizacke - der Bewaffnung
nach zu urteilen waren sie Gladiatoren. Manius‘ Gladiatorenschule? Im Licht
hoch lodernder Flammen beaufsichtigte der Leibsklave Hierons von Alexandria
seine Arbeiter. Sie gruben. Jeder, der etwas entdeckt hatte, legte seinen
Fund ehrerbietig zwei Gestalten zu Füßen, die, mit dem Rücken
zu uns, am Boden saßen. Die beiden prüften den Fund und gaben
ihn dann einem dritten Mann, der ihn in den Satteltaschen verstaute.
Was sollten wir zu zweit gegen den Haufen ausrichten? Die
beiden Sitzenden erhoben sich, wandten sich um, und im Feuerschein
erkannten wir: die Brüder Acro. Sie sagten einander Lebewohl.
Cornelius schritt seelenruhig auf die Postenkette zu. Man grüßte
und ließ ihn passieren. Wir krochen eilig zurück und erwarteten
ihn auf halbem Weg zwischen den Zypressen und der Porta Nuceria in einer
Kuhle, die er zwangsläufig durchqueren musste.
Er blieb ruhig, als ich ihn anrief. Er wusste nicht, was wir
gesehen hatten, beschloss wohl, frech sein Glück zu wagen, meinte,
er habe uns gerade holen wollen. Im Licht der Flammen sei zu sehen,
wie Hierons Männer - uns an Zahl weit überlegen - Akten ausgrüben.
Von seinem Bruder Manius kein Wort.”
“Ihr tatet nichts?” fragte Vorenus.
“Was denn?” knurrte Marcellus. “Eine Handvoll übermüdeter
Verletzter gegen zwanzig frische Gladiatoren ohne Blessur?”
“Ich meine”, präzisierte Vorenus, “ihr tatet nichts mit
Cornelius Acro?”
“Er war mein Kommandant. Mein Kommandant befahl, den Morgen
abzuwarten. Hierons Leute rückten ab. Wir schauten nach, was
sie übrig gelassen hatten. Viel war verbrannt. Rings um die Feuerstelle
lag der beißende Gestank von verkohltem Papyrus. Eine Menge hatten
sie gestohlen. Am Boden leerer Aktendosen waren Markierungen eingekerbt:
Kombinationen von Dreiecken, Rauten und Quadraten. Sie hatten offenbar
genau gewusst, welche Dosen sie öffnen wollten. Aber das war nicht
das Schlimmste. Das Schlimmste kam, als ich begann, scheinbar ungeöffnete
Dosen zu öffnen - etliches vom Archiv hatte Manius liegen lassen.
Ich öffnete eine Dose: eine Papyrusrolle. Ich öffnete die zweite
Dose: ein Codex aus Vellum. Ich öffnete die dritte, zog einen Papyrus
heraus - und griff in Asche, grünliche Asche vom Vesuvausbruch. Die
Holzzylinder schlossen alle dicht, nicht einer war zerbrochen oder hatte
auch nur einen Riss. Wenn also Asche vom Vesuv hineingeraten war, auf den
Boden des Zylinders, dann mussten hier am Fleck bestimmte Zylinder entleert
worden sein - und anschließend neu gefüllt, wobei die verräterische
Asche im Dunkel unbemerkt blieb. Was verbrannt ist, müssen wir verschmerzen.
Was gestohlen ist, können wir jagen. Doch außerdem haben sie uns
in umgepackten Dosen Fälschungen untergeschoben - und wir haben keine
Ahnung, wo und in welchem Umfang.”
Vorenus barg das Gesicht in den Händen.
“Wir haben es”, murmelte er, “also mit folgenden Materialgruppen
zu tun: Der führerlose Karren, der im Ausbruch nach Pompeji zurück
raste, ist für immer verloren. Das, was ihr während des
Aubruchs vom umgestürzten Karren geborgen habt, ist nicht manipuliert.”
“Außer, es war schon in Alexandria manipuliert”, sagte
Marcellus.
“Ja. Mach es nur noch schlimmer! Das was ihr selber unter
den Bäumen ausgrubt, ist nicht manipuliert. Was auf der Erde
lag, teilt sich in zwei Gruppen: Dosen mit grüner Asche sind gewiss
manipuliert, vom Rest wissen wir es nicht ...”
“Sogar der Rest teilt sich wieder in zwei Gruppen”, warf Marcellus
ein.
“Richtig”, sagte Vorenus. “manipuliert oder nicht - leider
für uns ununterscheidbar. War‘s das? Nein: Was sie verbrannten,
ist für immer dahin. Was sie in den Satteltaschen mitnahmen, jagen
wir ihnen vielleicht wieder ab.”
Marcellus nahm nun doch Wein. “Und dann gibt es noch”, sagte
er, mit Krater und Pokal hantierend, “die Sachen, die Acro beim Wirt
Sittius versteckt hat, am Morgen, kurz vor unserem Aufbruch.”
“Ja”, sagte Vorenus nachdenklich, “die Remise hätte ich
fast übersehen!”
( ... )
Hypatius und Pompeius waren,
obwohl völlig unschuldig, an der Spitze von zwanzig Verschwörern
aus Senat und Rennställen hingerichtet worden. Ihre Leichen hatte
man ins Meer geworfen.
Bis Justinian das Hippodrom wieder eröffnete, sollten
Jahre vergehen, und dann trieben die Rennställe gleich wieder
Unfug - von der Politik bis zum Straßenraub.
Allerdings erzwang der Nika-Aufstand einige Reformen, die
dem Reich gut taten. Die systematische Erbschleicherei des Staates
wurde gebremst. Man begann, die Korruption in der Beamtenschaft zu
bekämpfen - zunächst, indem man die ordentlichen Gehälter
erhöhte, dann durch drakonische Strafen. Und schließlich
nahm man für eine Weile Abstand von der unseligen Praxis des Ämterkaufs.
Johannes der Kappadozier, dessen Amtsführung den Nika-Aufstand
verursacht hatte, irrte jahrelang durch den Südosten des byzantinischen
Reichs - verfolgt vom Hass der Kaiserin und knapp am Leben erhalten
von der treuen Freundschaft Justinians. Als Theodora starb, holte Justinian
ihn nach Konstantinopel zurück, doch der gebrochene Mann taugte
da nur mehr zum Pfaffen.
Tribonian, das zweite Bauernopfer, blieb ein enger Vertrauter
Justinians und stieg zum Quaestor sacri palatii auf. Abgesehen von
seiner schamlosen Geldgier war er ein brillanter Kopf und leitete die
Arbeit am Corpus Juris Civilis, dem Gesetzeswerk, das für Jahrhunderte
die Rechtswirklichkeit der christlichen Mittelmeerwelt bestimmte.
Ein Jahr nachdem ihr Bild in San Vitale zu Ravenna der Ewigkeit
anvertraut worden war, sechs Jahre nach der großen Pest, die
das Reich verheerte und sechzehn Jahre nach dem Nika-Aufstand starb
die Tänzerin und Hure, die treue Geliebte und ungetreue Ehefrau,
starb Justinians unersetzliche Ratgeberin, starb Kaiserin Theodora am
Krebs.
Hippias überlebte alle - seine Geliebte, den Kaiser,
Belisar, Narses, Mundus und auch seinen Förderer Ofellus. Jene
Strategie allerdings, die er aus dem Bett der Kaiserin vertrat, scheiterte.
COT wollte den Kaiser zwingen, sich auf die Verteidigung der Ostgrenzen
zu konzentrieren. Die Goten sollten in loser Abhängigkeit und zum
beiderseitigen wirtschaftlichen Vorteil den Westen des einstigen Gesamtreichs
beherrschen, so wie es unter dem Ostgotenkönig Theoderich funktioniert
hatte. Statt dessen überspannte Justinian die Kräfte. Seine
Generäle Belisar und Narses unterwarfen große Teile des westlichen
Mittelmeers. Narses wurde schließlich Exarch von Italien. Dies
verschlang, trotz unmenschlicher Steuern, die jeden Bürger dem Reich
entfremden mussten, jene Mittel, die für die Verteidigung im Osten
nötig gewesen wären. Und im Westen entstand ein Vakuum, das
erst die Franken wieder füllten. Hippias, der im selben Jahr wie
seine Geliebte Theodora geboren war, starb neunundneunzigjährig 596
in Venedig.
Mehr als vierzig Jahre zuvor - und obwohl jenes unverzeihliche
Lächeln aus der Arena zwischen ihnen stand - hatte Ofellus das
Feldlager des Narses aufgesucht, um zwischen ihm und dem letzten Ostgotenkönig
Teja zu vermitteln. Seit 552 gilt Ofellus als vermisst.
Akte Poitiers
GDdK: “Die exakte Wortfolge
‘Aurum Agrippae’ kommt nur ein einziges Mal vor, ganz undefiniert,
als Lockangebot eines Mannes, der um sein Leben bettelt. Wie man auf
dieser Grundlage Vorwürfe gegen mich konstruieren will, ist mir
völlig schleierhaft, bedenken Sie, nur ein einziges Mal, in der Akte
Nika.”
J. Sampaio: “Nicht ganz! Wie der Angeklagte weiß, gibt
es die Wortfolge ‘Aurum Agrippae’ - was immer sie bedeuten mag - ein
zweites Mal: In der Akte Poitiers.”
Aus dem Prozess gegen Gerrit Daniel de Kempenaer im Jahr 2000
( ... )
Entsprechend verdächtig ging dann der Handel über
die sündhaft prunkvoll ausstaffierte Bühne - so erzählten
jedenfalls später Mönche, die einen Winkel gefunden hatten,
um unbemerkt zu lauschen. Der Sklavenhändler brachte einen Mauren,
einen schlanken Mann mit Händen, die gewiss noch nie auf dem Feld
gearbeitet hatten. Pilgrim umarmte den Händler, sprach kurz mit
ihm, in jenem schnellen Latein, um das die Mönche ihn beneideten
- und schickte den wilden Gesellen ohne Bezahlung fort, obwohl der Sklave
blieb. Und nun erst dessen Benehmen! Er sprach gut Latein, nicht ganz
so rasch allerdings wie Pilgrim, was es den Mönchen ermöglichte,
ihn zu verstehen.
“Hübsch hast du’s hier”, spottete der Sklave, “imperialer
Purpur, eindrucksvoll, aber soll ich dir was verraten? Der letzte Rest
Imperium, den ich zu Gesicht bekam, bevor mich dein Knecht im Frachtraum
verbarg, waren die einstigen Kais der Flotte von Namnetum in der Loiremünde.
Dort stinken jetzt die Schweinekoben zum Himmel, und das römische
Pflaster hindert die Jauche am Versickern. Und jetzt schließ mir
endlich die Fußfesseln auf, Hildeger!”
Anstatt ihn unverzüglich auspeitschen zu lassen - so
die Mönche - hatte Hildeger sich tatsächlich hingekniet
und seinem neuen Sklaven die Fußfesseln gelöst, bevor er
ihn in seine Zelle führte. Dort lauschte niemand mehr, außer
dem Abt, der die vier Gänge des Festessens servierte, das die Klosterküche
eigens zubereitet hatte.
( ... )
( ... )
Bucholtz hielt die Augen geschlossen.
Vereinzelt wurde geklatscht.
Adam Bonaventura Czartoryski fragte trocken: “Weitere Meldungen?”
Nun folgte eine kleine Sensation - so etwas hatte es seit
hundertfünfzig Jahren nicht gegeben: Wasil Danew, magister horrei,
mit dem niemand gerechnet hatte, rief einen dritten Kandidaten aus,
keinen praefecten, sondern einen magister - William Douglas.
( ... )
( ... )
Haus Heyt bestand durch die
Jahrhunderte fort und besteht noch heute - ein Jahrtausend später.
Thekla von Heyt war schwanger, bevor Odilo ihren Mann zu Neujahr 1000
totschlug. Die Meister des Kölner Archivs sorgten dafür,
dass Graf Krickbeck das Söhnlein zu seinem Mündel machte.
Als Sühne für Meinolf und Jutta von Heyt wurde Thekla je ein
Pachthof aus dem Besitz derer von Bocht zugesprochen. Für Karl von
Heyt zwei Höfe. Damit war das Gleichgewicht der Kräfte wieder
hergestellt. Bernward von Bocht behielt den Rest - mit der Auflage, der
Pfarre fünf Sklaven und den letzten Pachthof zu stiften. Faramunds
Nachfolger ließ davon die erste Kirche in Lobbert bauen.
Sechs weitere Höfe wurden in der Millenniumshysterie an
Klöster vererbt.
Der Pfaffe Faramund lebte nicht mehr lange. Bischof Notger
lud ihn vor, als die Ereignisse in Lüttich bekannt wurden. Nahe
der Stadt fiel Faramund unter die Räuber. Kaufleute fanden später
den gefledderten Leichnam.
Annos Weissagung des großen Umbruchs sollte sich auch
in Deutschland erfüllen, kein Wunder, hatte er doch nur geschildert,
was in Frankreich gang und gäbe war. Mit Auflösung der Königsgewalt,
Schwächung der Grafen, mit den Anfängen des Lehnswesens
ging der Zusammenbruch der Sklavenwirtschaft einher. Latifundien waren
in der allgemeinen Rechtsunsicherheit nicht mehr zu halten. Und der
kleine Bauer geriet in Abhängigkeit zum Schläger um die nächste
Ecke. Der Jahrtausendwechsel brachte der Kirche im ganzen Abendland
großen Landgewinn, vor allem den Klöstern. Und die Gründer,
deren horrea Auffüllung brauchten, deren Archivare und legaten
essen mussten, auch in jener finsteren Zeit des Umbruchs, schürten
die Hysterie, um neue, leistungsfähige Strukturen zu erschaffen.
Henns weitere Erziehung fand am Bischofssitz von Leicester
statt, einer der alten dänischen Fünfburgen auf englischem
Boden. Der Freigelassene sog Wissen wie ein Schwamm. Mit zwanzig brachte
ihm kein Lehrer mehr was bei, nicht einmal mehr Geduld. Sein Aufstieg
durch die Rangstufen von COT war steil.
Schon als legat bewies er taktisches Geschick. Mit den Jahren
erwarb er auch strategischen Weitblick. Und er besaß die rechte
Mischung aus Einfühlsamkeit und Härte.
Unter dem Namen Aethelwold von Leicester regierte Henn die
Gründer ab 1017. Im ganzen Abendland milderte er die Grausamkeiten,
die der Umbruch mit sich brachte. Er förderte König Knut bei
der Erschaffung seines nordischen Großreichs aus England, Dänemark
und Norwegen. Weniger glücklich war seine Hand in Venedig, wo
ihm misslang, das Haus der Orseoli auszusöhnen mit der Serenissima.
Aethelwold von Leicester starb im Winter 1030 an der zweiten Blinddarmentzündung
seines Lebens. Der rastlose Arbeiter verfasste noch auf seinem Krankenbett
ein ebenso knappes wie prägnantes Regularium für die Neuordnung
der Archive, in dem er das Laufzettelprinzip für jeden Akt einführte.
Wie der junge Henn sich vorgezählt hatte, wann er wo gewesen war,
um was zu tun, erging es fortan den Dossiers. Fiebernd erinnerte er sich,
was seinem Tun im Fieber einst Halt und Ordnung verliehen hatte. Aethelwold
widmete sein Regularium De Libris Anno.
Der Tempel war besiegt. Jerusalem,
das Heilige Land, wieder verloren an den Halbmond. Von allen Seiten
prasselte gehässiger Verdacht auf den besiegten Orden: Die Templer
stünden mit Ketzern im Bund, sie feierten heidnische Riten, küssten
einander den Arsch, spuckten aufs Kreuz, verleugneten den Herrn, trieben
widernatürliche Unzucht, wucherten, seien unverschämt, hoffärtig
und nutzlos. Dies vor allem - nutzlos.
Am ärgsten hetzte der König von Frankreich. Philipp
der Schöne war seit dem Zank über die verweigerte Staatsanleihe
nicht mehr gut auf den Tempel zu sprechen, während Papst Clemens,
eine Kreatur Philipps, den Orden nur halbherzig in Schutz nahm, obwohl
er die Templer, bei etwas mehr Entschlusskraft, als scharfe Waffe hätte
gebrauchen können - durchaus auch gegen König Philipp. Statt
dessen geisterte durch die päpstlichen Kanzleien das Projekt, die
Templer in den Orden der Ritter vom Hospital des heiligen Johannes einzugliedern
- angeblich, um mit dem so erstarkten Ritterorden den neuen Kreuzzug zu
beginnen. Alles Vorwand! In Wahrheit ging es nicht mehr ums Heilige Grab,
sondern um Macht und Gold.
Als Großmeister Jacques de Molay im Sommer 1307 ein Ordenskapitel
im Pariser Temple anberaumte, hofften die Ritter, nun endlich käme
sein ausgeklügelter Verteidigungsplan zur Sprache, auf den man seit
Monaten vergebens wartete. Dem Orden stand nach wie vor beträchtliche
Macht zu Gebote - Landbesitz von Schottland bis Apulien, vom portugiesischen
Tomar bis Ungarn. Herden. Die Ritterschaft und die Serjeanzen. Viele
mächtige Familien waren dem Orden verpflichtet. Er verfügte
über eigenes und treuhänderisch verwaltetes Geld, seine Flotte
und ein verzweigtes Geflecht kirchlicher, dynastischer und ökonomischer
Beziehungen.
Gewiss war andererseits der Ruf des Ordens im Abendland ramponiert.
König Philipp schielte auf die französischen Latifundien und
den Schatz im Temple, denn besonders in Frankreich hatten die Templer
sich wie ein Staat im Staate gebärdet, doch all das war schließlich
kein Grund, freiwillig den Kopf auf den Block zu legen. Zur Bestürzung
der Templer jedoch sah Molays Plan ebendies vor. Der Großmeister
befahl, jedes belastende Dokument zu verbrennen, über templerische
Initiationsriten strikt das Maul zu halten, sich ansonsten aber zu ducken
und Verhaftung wie Prozess mannhaft durchzustehen. Formal war das Ordenskapitel
seit Wochen geschlossen, doch eine Anzahl hoher Würdenträger weilte
immer noch im Temple und versuchte, den Großmeister zur Vernunft zu
bringen, während die Spione des Ordens schon den genauen Tag meldeten,
an dem König Philipp zuschlagen wollte.
Inzwischen schrieb man den zehnten Oktober 1307. Joseph Goff,
praefectus horrei, hatte nicht mehr viel Hoffnung für den Orden,
als er über die Zugbrücke ritt, die den Templerbezirk mit
der Pariser Vorstadt verband. In diesen Männern, die das Heilige
Land verloren hatten, glomm ein düsterer Wille zum Untergang - soviel
hatte er begriffen.
Da ihn die Wache nicht kannte, wurde Goff gebeten, aus dem
Sattel zu steigen. Murrend zog er den Siegelring vom Finger und übergab
ihn dem Serjeanzen mit der Bitte, ihn dem Großmeister zu zeigen.
Der Serjeanz wog das Siegel skeptisch in der Hand, machte sich dann jedoch
über den schlammigen Hof zum Kapitelsaal auf, während Goff noch
einmal seine Ansprüche durchrechnete. Die Gründer hatten sehr
viel Geld beim Temple stehen, Unsummen, die verloren waren, wenn Philipp
seine klebrigen Finger darin badete. Nun wusste Goff jedoch, dass der bare
Templerschatz von Paris ungefähr reichte, um die Ansprüche der
Gründer zu decken. Ferner wusste Goff, dass Großmeister Molay
den Schatz längst an geheime Orte ausgelagert hatte. Nur wo die lagen
- das wusste Goff nicht.
Hauptsächlich deshalb war er hier - und erst danach, um
ein allerletztes Rettungsangebot zu unterbreiten. Molay in seiner
Verstocktheit würde auch diesen Vorschlag ablehnen, dessen war
Goff sicher.
Dem praefecten war flau. Die Schwarzen Hände, die ihn
auf seinem schweren Gang beschützen sollten, hatten sich verspätet,
und Jacques de Molay war ein harter Mann, verschlagen und illoyal. Um
die Truhen des Tempels zu füllen, schreckte er vor nichts zurück,
wie das Beispiel des Ordensbruders und Kapitäns Roger de Flor lehrte,
den Molay in Akkon regelrecht ausgeraubt hatte. Andererseits war Molays
Weltgebäude offensichtlich eingestürzt. Den Papst, abgesehen von
den Gründern der einzige Mensch, der den Templerorden jetzt noch retten
konnte - behandelte Molay wie Dreck. Er unterschied nicht mehr zwischen Vorteil
und Nachteil. Schwer zu sagen, wie er in dieser Stimmung auf die Wechsel
reagierte, die Goff ihm unter die Nase reiben musste. Goff hatte Bauchschmerzen
und seine alte Narbe an der Schulter pochte aufgeregt.
Mit dem Serjeanz kam ein ungarischer Ritter zurück, der
ehrerbietig grüßte, Goff den Siegelring zurückgab
und ihm sein Geleit antrug. Im zweiten Torhaus sah Goff ungewöhnlich
viele Armbrustschützen hinter den Schießscharten. Hatten
die Templer sich doch noch zum Widerstand entschlossen?
Sie überquerten den Hof, Goff im Sattel, der Ungar voran.
Links die Pferdetränke, geradeaus Templerkapelle und repräsentative
Bauten für Verwaltung und Ritterschaft. Rechts die endlosen Wirtschaftsgebäude,
hinter denen wuchtig der Turm des Pariser Temple emporragte, wo in
längst vergangener, goldner Zeit einträchtig Templerschatz
und französischer Staatsschatz wohlverwahrt und deponiert gelegen
hatten.
Im Kapitelsaal hatte der Präzeptor
der Auvergne das Wort: “Und deshalb, meine Brüder”, sprach er,
“bin ich trotz der Ansicht unseres verehrten Großmeisters für
Gegenwehr.”
“Haltet ein”, unterbrach ihn Molay. “Da kommt Joseph Goff,
wie ich vermute, um uns die Wechsel des Rates zu präsentieren.
Nun, Herr praefect - verlassen die Ratten das sinkende Schiff?” Goff
nickte kühl. “Die meisten von euch”, erklärte Molay, “nicht
die einfachen Ritter, aber Seneschall, Marschall, Drapier und sicher
auch die Präzeptoren, werden schon einmal vom Rat der Gründer
gehört haben. Er stand an der Wiege unseres Ordens. Oft half er
uns in großer Not. Viel Geld hat er uns anvertraut. Stets fanden
seine Kuriere und Würdenträger ein Nachtquartier in unseren
Komtureien, nicht wahr? Doch nun fürchtet der Rat, sein Geld sei
verloren, wenn er es nicht vor Philipp in Sicherheit bringt, nicht wahr?
Nur Mut, Goff, Euer Gold ist längst in Sicherheit. Es wurde zum
Fôret d'Orient gebracht. Dort mögt Ihr es Euch holen!”
“Reichtum ist nicht alles”, sagte Goff, ohne auf den Wald der
Templer einzugehen. “Weit mehr vermissen wir schon jetzt die gastliche
Aufnahme in Euren Komtureien. Doch einstweilen hoffe ich, dass Ihr Euch
retten lasst. Der Rat hat etwas für die Templer eingefädelt."
( ... )
( ... )
Schon während der Kreuzzüge
waren die Türken zur ernsten Gefahr geworden. Bald kontrollierten
sie Anatolien, wo zuvor die meisten Steuergelder, das meiste Korn und
die meisten Rekruten für Byzanz hergekommen waren. Die Türken
überwanden Bosporus und Dardanellen, widmeten sich dem Balkan,
eroberten Griechenland, besiegten Serben wie Bulgaren, den Hunyadi von
Ungarn und den großen Skanderbeg, während sie zwischendurch
immer mal wieder die alte Kaiserstadt belagerten, die hinter ihren uneinnehmbaren
Mauern bisher standgehalten hatte.
Nach Ende der Kreuzfahrerstaaten verjagte das Paläologengeschlecht
die lateinischen Herrscher aus Konstantinopel und machte das Reich wieder
byzantinisch. Doch dieses Reich, Roms Erbe, bildete nur noch einen
Archipel von Inseln zur See und Landflecken inmitten türkischer
Provinzen - todgeweiht ohne westliche Hilfe. Nun bettelte man also im
Westen um Hilfe, bei denselben hoffärtigen katholischen Kreuzrittern,
die Byzanz geplündert und dem orthodoxen Glauben so hart zugesetzt
hatten, bei denselben katholischen Kaufleuten vornehmlich genuesischer
und venezianischer Herkunft, die in Pera residierten und im unheiligen
Interesse ihres Schwarzmeerhandels strikte Neutralität wahrten. Das
Betteln fiel schwer. Das Volk Konstantinopels hasste die Fratzen in
Pera kaum weniger als den Papst in Rom. Das Volk dämmerte weihrauchsatt
vor sich hin und erflehte inbrünstig Wunder, wo Politik am Platz gewesen
wäre.
Johannes, der ältere Bruder und Vorgänger des regierenden
Kaisers, hatte schließlich sein Seelenheil über die Hürde
geworfen - mithilfe der Gründer. Lambros und der alte Cosimo Medici
hatten 1439 das Konzil aus dem pestverseuchten Ferrara nach Florenz
gelockt, wo viele Bischöfe des Ostens, einschließlich des
Patriarchen von Byzanz, die Kirchenunion mit den Katholiken unterzeichneten.
So entfiel der im Westen gern benutzte Vorwand, Katholiken dürften
Orthodoxen nicht helfen, denn käme der Türke über sie,
so nur als gerechte Strafe für ihre Ketzerei. Fast hätte diese
Kirchenunion Konstantinopel gerettet, doch dann starb Patriarch Joseph
in Florenz unter mysteriösen Umständen, und Kaiser Johannes
fuhr ohne seinen Patriarchen heim. Niemand brachte jetzt die widerspenstige
orthodoxe Geistlichkeit auf Kurs. Diese Priester ignorierten schlicht alle
Vereinbarungen von Florenz. Und die Westkirche fasste das als Vertragsbruch
auf. Jäh endete ihre gerade erst aufkeimende Hilfsbereitschaft. Konstantinopel
blieb allein - auch als Konstantin Paläologos seinem Bruder Johannes
auf den Thron folgte.
Beim Feind herrschte inzwischen Sultan Mehmed II., ein unterschätzter
Jüngling - bis er die Festung Rumili Hissar aus dem Boden stampfte,
gegenüber Anadolu Hissar, womit er den Bosporus vollends im Würgegriff
hielt. Eine deutlichere Kampfansage war nicht möglich. Der byzantinische
Kaiser, in seinem verzweifelten Bemühen um westliche Hilfe, ging
jetzt so weit, die Messe nach lateinischem Ritus zu feiern, worauf -
unendlich schwerfällig - Hilfe in Gang kam. Der Papst setzte sich
ein, doch Venedig verweigerte Unterstützung, solange die Heiligkeit
dem Arsenal noch Geld für Schiffe schuldete. Genua wollte Handel mit
dem Schwarzen Meer treiben - egal ob Griechen oder Türken in Konstantinopel
saßen. Hunyadi und Skanderbeg leckten ihre Wunden. Kurzum, was geschah,
war zu wenig und kam zu spät. Gleichwohl stammten drei der vier Schiffe,
auf denen Monagas von Chios aufbrach, aus Genua.
( ... )
( ... )
Was die Welt aber nicht ahnt,
Sie Bucholtz und mein verehrter Kollege Czartoryski inbegriffen, ist,
dass Gelderns Motive ganz andere waren als jene, die er vorschützte.
Weder handelte er aus Rachsucht, wie er in seinem Brief an Sie glauben
machen will, noch gar, um Ihre Zukunft zu sichern - mit Verlaub, nur
ein Rabenonkel hätte die Schwarzen Hände auf Sie junges Unschuldslamm
gehetzt! Nein - da hat er sich schon wesentlich besser um Ihre Sicherheit
gekümmert. Kann ich bitte einen Cognac haben?” Bucholtz hütete
sich, seine Verblüffung zu zeigen, als er zwei Schwenker füllte.
“Sehen Sie”, dozierte Nuaima, “das unterscheidet unsere Räte:
Mein Stellvertreter hätte sich nur dann ein Glas genommen, wenn
ich ihn förmlich dazu eingeladen hätte. Aber wir arbeiten
ja gerade an der Überwindung kultureller Differenzen, nicht wahr.
( ... )
Dossier Kaiser Rudolf
II.
( ... )
“Siehst du!” trumpfte Hornstift
auf, “damit hast du schon verspielt. Der Kaiser trinkt mit Vorliebe
Schwarzbier, allerdings nur das aus Krusovice. Wie bist du im Gasthof
eingeschrieben? Lass mich raten - als Kaufmann aus Venedig mit Namen
Cardomer, den du vielleicht auch noch mit englischem Akzent aussprichst?”
Stafford setzte sich beleidigt zur Wehr. “Jetzt halt aber dein
Schandmaul, legat! Es stimmt - ich bin nicht so weit herumgekommen
wie du. Ich war vorwiegend am Ratssitz tätig, du an der Front,
aber die Grundregeln unseres Gewerbes beherrsche ich: Ich bin William
Stafford, Gentleman aus Newquay/Cornwall ...”
“Schön”, sagte Hornstift, “... Edelmann auf Reisen ...
dann stellen wir dich als englischen Privatgelehrten vor. Der Typus
ist dem Kaiser vertraut. Am besten trittst du als Spezialist für
Geheimschriften auf. Rudolf schätzt zwar die Engländer nicht
sonderlich, doch alles Verschlüsselte kitzelt seine Neugier. Derzeit
befasst er sich wieder mit unserem Baconmanuskript.”
“Muss das sein?” stöhnte Stafford.
“Geheimschriften, Codes und Verschlüsselungen”, wiederholte
Hornstift, “und heute Nacht prüfe ich dich, ob ich wagen darf,
dich dem Kaiser vorzustellen.”
“Und warum heute Nacht?”
“Weil ich tagsüber keine Zeit hatte”, blaffte Hornstift,
“du siehst doch, wie überarbeitet ich bin! Den Trithemius hast
du ja wohl gelesen?”
“Den Abt von Sponheim?”
“Natürlich den! Den Magier der Codes, den Autor der Steganographie.”
“So leidlich”, sagte Stafford kleinlaut.
Stafford und Hornstift hockten eng beisammen auf zwei Schemeln,
flüsternd, damit niemand sie hörte. Vielleicht verstand ja
von den anderen Vier doch wer ein paar Brocken Latein. Stafford war nicht
wohl beim Gedanken an das so genannte Baconmanuskript, das Hornstift
vor zwei Jahren gefälscht und dem Kaiser zugespielt hatte.
“Fällt dir nichts Besseres ein?” fragte er.
“Ich könnte dich als Malerkollegen vorstellen”, sagte
Hornstift, “wenn du dir das eher zutraust.”
“Oh Gott!”
“Eben! Von dem Manuskript ist der Kaiser seit Wochen fanatisiert.
Von ihm verspricht er sich den Durchbruch in der Alchimie, den Stein
der Weisen ...”
“Um Gold zu machen?”
“Auch ... aber der Stein verleiht außerdem ewiges Leben,
und Rudolf ist oft krank, unentschlossen aus Furcht, ein früher
Tod könne ihn mitten aus der halbfertigen Arbeit reißen.
Der Stein weckt die Giganten aus dem Schlaf, und der Kaiser träumt
von den politischen Möglichkeiten - Gigantenregimenter die seinem
Wort überall im Reich Geltung verschaffen. Er wäre nicht
länger auf König Philipp angewiesen. Er könnte seinen
Bruder aus polnischer Gefangenschaft befreien, Katholiken und Protestanten
zum Frieden zwingen, der türkischen Bedrohung wirksam entgegentreten
...”
“Unfug”, sagte Stafford.
“Natürlich”, sagte Hornstift. “Doch solange er bei diesem
Unfug Zuflucht findet, statt Entscheidungen zu treffen, bleibt Europa
im Gleichgewicht.”
“Ich hab das fertige Manuskript nie gesehen”, sagte Stafford.
“Kein Wunder - dein magister imperii ließ mich nicht
vor”, erwiderte Hornstift. “Dreimal bat ich vergebens um Audienz.
Aber wir schrieben ja das Jahr 1585 ... reichlich Arbeit. Sixtus V.
war Papst, der neue Doge Pasquale Cicogna, die Verhandlungen über
das Pfefferkartell - dazwischen hast du irgendwann meinen Plan abgesegnet.
Keine Zeit, mich zu empfangen. Und wohl auch keine Lust. Und ich konnte
die Vorbereitungen in Prag nicht länger in der Schwebe halten.
Schließlich sollte Rudolf das Manuskript ja von einem Unbekannten
kaufen, für dreihundert Dukaten. Das musste rasch gehen, wenn es
nicht gefährlich werden sollte.”
Das Pfefferkartell! - dachte Stafford. Philipp II. von Spanien
war seit 1581 auch König von Portugal. Damit verfügte er
über die portugiesischen Pfefferflotten aus Indien. Um seinen chronisch
defizitären Staatshaushalt auszugleichen, schlug er Venedig ein
gemeinsames Pfefferkartell vor. Gegen Festpreis sollte Venedig die gesamte
Jahresernte in Lissabon übernehmen und auf Europa verteilen. Gelang
es Venedig, entsprechende Vertriebswege aufzubauen, war das ein gutes
Geschäft, vorausgesetzt, der Festpreis war nicht zu hoch, und Philipp
verkaufte kein Pfund Pfeffer auf eigene Rechnung.
Die Gründer erkannten als Erste, dass sich hinter diesem
scheinbar lukrativen Angebot ein Anschlag auf Venedigs Unabhängigkeit
verbarg. Die Zentrale war in Gefahr! Aus heutiger Sicht müssen
wir sagen, dass princeps Stafford, der zuvor das Kölner Archiv aufs
Spiel gesetzt hatte, diesmal umsichtig handelte.
Auf einem Festbankett der Contarini provozierte ein legat jenen
Skandal, der alle Levantehändler Venedigs gegen das Bündnis
aufbrachte. Philipp erwartete nämlich, dass Venedig den Pfefferhandel
mit seinen bisherigen Partnern, den Mamelucken in Alexandria, einstellte.
Außerdem sollte Venedig verhindern, dass jener Pfeffer, den mameluckische
Seeräuber Portugals Flotten abjagten, über die Türkei
in Europas Handel eingespeist wurde. Das aber hätte zwangsläufig
zum Zusammenbruch aller venezianischen Märkte in der Türkei
geführt. Vielleicht hätte es sogar neuen Krieg mit den Türken
gegeben, Krieg, in dem die Serenissima Repubblica von Philipps Hilfe abhängig
geworden wäre. Bei dem Bankett ließ sich ein Sekretär
des spanischen Botschafters provozieren, diesbezüglich ein “Na und?”
zu lallen. Womit sich das Pfefferkartell erledigt hatte. Cornelis Hornstift
war an diesem Abend längst in Prag.
Der Hofmaler zeichnete angespannt. Das Feuer unten im Burghof
störte, wie überhaupt jedes Licht von draußen, sogar
der Mond. Aber die Nacht war bitterkalt und klar. Zwecklos auf Wolken
zu hoffen! Und der Mond stand wenigstens vergleichsweise still und flackerte
nicht.
( ... )
Da stehen wir also nun
mit Gelderns kanonischen Akten kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg,
bei Rudolf und Hornstift in Prag. Doch wo geht Gelderns Kanon weiter,
meine Herren? Mit dem Dossier Jan van Werth, kurz vor Ende des Dreißigjährigen
Krieges, so wie es logisch wäre? Nein - warum sollte Gelderns
Kanon logisch sein! Er macht in London weiter und auf den Pfefferinseln.
Ich sagte bereits: Es gibt diesen Kanon relevanter Akten nicht! Die Zusammenstellung
ist purer Zufall oder die willkürliche Erfindung eines Diebs,
der Angst vor der eigenen Courage bekommt.
Gerrit Daniel de Kempenaer in seinem Prozess im Jahr 2000
Fourichon war ein Herr mittleren Alters, der einen viel zu
roten Kopf bekam, wenn er sich aufregte. Gleichwohl kochte der Strategiepraefect
vor Wut. Sein Anfall ging der Tischgesellschaft mittlerweile auf die
Nerven: princeps Steffek, dem successor Pasolini, Buys, dem legaten für
die Generalstaaten und Machado Bandeira, legat für Indien.
“Fields ist ein Schmierenkomödiant”, eiferte Martin Fourichon,
“ein Angeber, Schaumschläger und Windbeutel, was man dem anvertraut,
das ...”, Steffek, der John Fields eigens nach Venedig beordert hatte,
um ihm einen schwierigen Auftrag anzuvertrauen, hob beschwichtigend die
Hand. “... ist so gut wie kaputt!” insistierte Fourichon.
“Es gibt leider keinen Ersatz für ihn in Whitehall”, murmelte
Steffek zerstreut. “Was ist denn da los?” Schräg gegenüber
gerieten vor der Wassertreppe der Ca' D'Oro zwei Gondeln aneinander.
Die Passagiere, junge Damen, zankten um den Vortritt bei den Pali. Schrill
feuerten sie ihre Gondolieri an, hetzten sie auf, bis endlich der größere
der beiden Männer zur Forcola der anderen Gondel hinübergriff
und ihr einen kräftigen Stoß versetzte. Dabei verlor er das
Gleichgewicht und hing nun waagerecht zwischen den Booten - die Schienbeine
noch auf dem Heck der eigenen Gondel, die Hände umklammerten die
Forcola des gegnerischen Boots. Dessen venezianischblonde Passagierin
sprang auf und beugte sich zu ihm hinunter. Erst sah es aus, als wollte
sie ihm helfen, doch dann erkannte Steffek, dass sie sich am Anblick
der Hilflosigkeit ergötzte. Sie winkte ihrem schwarzen Gondoliere
und der Sklave schrammte das Ruder über die Fingerknöchel seines
Gegners. Mit einem Schrei ließ der Mann los und tauchte kopfüber
ins Wasser des Canal Grande.
“Das hätte Fields genauso gemacht”, brummte Fourichon,
während der Gondoliere sich triefend und mit Algen im Haar auf
die Treppe der Ca' D'Oro rettete. “Der ist für jede überflüssige
Gemeinheit gut.”
Steffek zuckte die Achseln. Er läutete, ein bisschen heftiger
als nötig - und der englische legat kam hereinstolziert. John
Fields war ein athletischer Mann mit einem straffen kleinen Gesicht.
Er trug Federhut, Wams, englische Kniebundhosen und Becherstiefel mit
blitzenden Sporen. Fourichon warf vielsagende Blicke in die Runde, doch
Steffek hob die Augenbrauen, sodass der Strategiepraefect seine despektierliche
Bemerkung verschluckte. Mit elegantem Schwung zog Fields den Hut und
da er genau in der Tür stand, streifte seine Feder sowohl den nachtblauen
persischen Teppich auf dem Balkon, wie auch den blanken Boden des Portego.
“Ihr wisst, legat, weshalb Ihr hier seid?” fragte Steffek.
Indessen feixten unterm Dach die Küchenjungen zur Strafpredigt,
die der majordomus dem Koch hielt: “Das Fleisch ist doch in Ordnung
- bitte, keine Made! Das Schaf kam heute früh mit dem Lastkahn,
den ich selber abgefertigt habe. Keine Fliege sag ich dir, nichts ...
siehst du hier Fliegen? Oder Fliegeneier? Wibbeln da Fleischmaden? Riechst
du vielleicht was? Bück dich! Riecht das faul? Nirgends! Das Tier
ist frisch geschlachtet, sein Fleisch - das schillert ja nichtmal. Es stinkt
doch nicht, das Fleisch - warum kommt so viel Pfeffer dran?”
Streng fixierte der Haushofmeister die Küchenjungen, deren
Gackern unter seinem Blick erstarb, während sie mit Todesverachtung
ins brühheiße Wasser griffen, um noch mehr Tomaten zu häuten.
Ihre Hoffnung, das Donnerwetter möge sich allein über dem Koch
entladen, trog.
“Und jetzt schau mal, wie er drüben den Zimt für
die Tomaten raspelt”, schimpfte der majordomus, “schau hin, weißt
du, was Zimt kostet? Und die Pfefferkörner sind kaum gemahlen,
sieh dir bloß die Pfefferkörner an, da bittesehr, wenn sie
im Mörser zu Hälften zerstoßen sind, dann ist das schon
viel! Warum geht das nicht feiner, heh? Es stinkt doch nicht, das
Fleisch! Warum kommt so viel Pfeffer dran? Warum reibt ihr die Keulen
so grobkörnig ein? Die Pfefferkörner lösen sich, weil
sie zu schwer sind! Da schau, was hab ich dir gesagt: sie sind zu grob,
zu dick, zu schwer und rieseln ab ins Feuer und verkohlen ... da ...
schon wieder ... weißt du, dass dort dein Monatssold verbrennt?
Und mir sagt man, ich solle Kosten senken! Mir rechnen sie am Ende des
Quartals vor ...”
Endlich fasste der Koch sich ein Herz und bat den Haushofmeister
unterwürfig in die Ecke bei der Mehlkiste, wo er ihm ein Glas
Friauler einschenkte.
“Hör zu”, flüsterte er, “der Engländer, der
heute bei den Herren speist, der gab mir Geld, damit ich beim Gewürz
nicht spare. Zwanzig Zechinen. Dafür sollte das Fleisch verschwinden
unter einer dicken Pfefferkruste. Keine Ahnung, was er bezweckt. Aber
wenn du willst, geb ich dir zehn Zechinen ab.”
Der Haushofmeister trank den Wein auf einen Zug und setzte
sein Glas in den Mehlstaub des Kistendeckels.
“Der Engländer?” fragte er.
“Der Engländer! Wenn du darauf bestehst”, sagte der Koch,
“ersetze ich den Pfeffer. Auch den Zimt. Von meinem Anteil selbstverständlich.”
“Selbstverständlich!” sagte der Haushofmeister. Dann rückte
er nochmals sein leeres Glas im Mehlstaub zurecht, lächelte dem
Koch freundlich zu und verließ die Küche.
Im Portego servierte man den ersten Gang - Tomatensalat mit
Zimt. Venedig importierte etwas Pfeffer für den Südeuropamarkt
aus Alexandria, wo die Mamelucken den Überlandtransport vom Roten
Meer zum Mittelmeer betrieben. Einen weiteren Bruchteil des europäischen
Pfefferbedarfs importierten zwei englische Handelscompanien - die Russia
Company und die Levant Company. Doch nach wie vor kam der meiste Pfeffer
über Lissabons Kontrakthändler. Und das hieß: Der Gewinn
floss in die Kassen des spanischen Königs, der über Portugal
herrschte. Allerdings war das Monopol der Portugiesen längst nicht
mehr so unangefochten, wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. Nicht nur,
dass die heimkehrenden Pfefferschiffe von englischen Piraten bedroht wurden,
nein, mittlerweile wagten auch holländische Segler sich um das Kap herum
und forderten Portugal in den Gewässern und Häfen seines asiatischen
Kolonialreiches heraus.
Die Ratsherren winkten ab, als zum zweiten Mal von den Zimttomaten
angeboten wurde. Nur Agostino Pasolini - er war derart verrückt
nach Zimt, dass er sogar bei Sitzungen verstohlen daran nuckelte -
ließ nachlegen.
Auf Barentsz’ gescheiterten Versuch, Asien über die Nordroute
zu erreichen, folgten mehrere Expeditionen auf der portugiesischen
Route, darunter erfolgreiche Seereisen der Compagnie van Verre, die
später in der Oude Compagnie aufging. Die Stimmen, man müsse
die niederländischen Compagnien vereinigen, wurden lauter. Schon
hatte die Oude Compagnie gemeinsam mit den Middelburgern die Verenigde
Zeeuwse Compagnie gegründet. Die Niederländer standen kurz vor
der Gründung einer Vereinigten Ostindischen Compagnie, die vollends
den Zerfall portugiesischer Macht auf den Pfefferinseln demonstrieren
- und in Nordwesteuropa ein neues Monopol errichten würde.
Das setzte Englands Kaufleute unter Zugzwang. Weder die Russland-
noch die Levantehändler waren mit ihrem Pfeffer gegen Holland konkurrenzfähig.
Viele von ihnen steckten in Schwierigkeiten. Andererseits bildete zumindest
die Londoner City eine machtvolle Interessengruppe, wenn auch teilweise
in Konkurrenz zu den Kaufmannschaften anderer englischer Häfen.
Aber London war London. Und es waren Leute wie der Ex-Botschafter in
Russland und spätere erste Gouverneur der Company Sir Thomas Smyth,
verbandelt mit den Moskauhändlern wie mit den englischen Siedlungen
in Virginia, die das Interesse der City bei Hofe vertraten. Sie richteten
die erste Petition an die Königin, die Bitte, einer Joint Stock Company
das Privileg für den Pfefferhandel zu erteilen - England zum Nutzen
und den Spaniern zwischen die faulen Zähne.
“Beim Merkur, ist das stark gepfeffert”, stöhnte Fourichon,
als der princeps ihm Erlaubnis gab, sein Referat fortzusetzen. “Das
Überangebot, mit dem wir es schon bald zu tun bekommen, ist unser
Haupteinwand gegen die englische East India Company”, erklärte
Fourichon, nachdem er eine halbe Karaffe Wasser geleert hatte. “Außerdem
lehnen wir neue Kolonien in Ostasien ab. Die Holländer, scheint's,
wollen aber genau diesen Weg beschreiten, der über kurz oder lang
zum Konflikt mit dem Orakelrat führt. Die Engländer müssen
ihnen das ausreden. Will sagen: Die Engländer müssen an der Ostindiencompagnie
beteiligt sein. Es darf keine zwei konkurrierenden protestantischen Compagnien
geben! Entweder muss die Englische Company von Anbeginn offen stehen für
die Niederländer. Die bereits existierenden niederländischen
Compagnien treten bei, sodass englische und niederländische Ostasieninteressen
verschmelzen. Oder - falls sich Englands Kaufleute und die Königin
hierfür noch nicht erwärmen - wir verzögern die Gründung
der englischen Company, um Zeit zu gewinnen. Sollte auch dies misslingen,
muss die Company scheitern. Dann fördern wir eben die Holländer
- und die Engländer schließen sich ihnen später an. Auch
das soll uns recht sein. Hauptsache, es entstehen - weil England bremst
- keine neuen Kolonien in Ostasien. Wenn unser Plan gelingt”, erklärte
Fourichon, “dann ist das bigotte Habsburg in zehn Jahren gebrochen. Die
Vereinigte Englisch-Niederländische Compagnie beherrscht dann die
Ozeane, während Venedig das Mittelmeer kontrolliert. Wäre da
nicht der Großtürke! Dieser Einwand wurde auch im Rat geäußert:
Habsburg, bis zur Wehrlosigkeit geschwächt, taugt nicht als Bollwerk
gegen die Hohe Pforte. Wir müssen also genau kalkulieren und scharf
unterscheiden. Kalkulieren indem, was an spanischer Flottenmacht im Mittelmeer
verloren geht, umgehend durch Venedigs Arsenal ersetzt wird. Unterscheiden,
indem wir Spanien zwar schwächen, doch nicht den Kaiser wehrlos machen.”
Bei den Gartenfenstern des Portego trat der Haushofmeister ein. Er winkte
dem ersten Servierer und ließ Steffek eine Botschaft ins Ohr flüstern.
“Jetzt nicht”, entschied der princeps und wandte sich an Fourichon:
“Fahrt fort, praefect!”
“Lasst uns versuchen”, sagte Fourichon, “Madrid und Prag zu
spalten. Bei Kaiser Rudolf bricht der Wahnsinn täglich hemmungsloser
durch und niemand hat das Ohr des Kaisers, wie einst Cornelis Hornstift
es hatte, es sei denn ...”
“Das gehört nicht hierher”, warf Steffek ein.
“Nun gut. Dennoch müssten wir die Tradition Hornstifts
wahren. Das Gleichgewicht im Reich erhalten. Die Türkengrenze schützen
- und ohne unseren legaten wird das schwer.”
“Wieso denn ohne ihn?” fragte Bandeira, der vor kurzem erst
von seinem Posten in Goa nach Europa zurückgekehrt war.
“Cornelis Hornstift ist Anfang September gestorben”, erklärte
Steffek. “Aber damit wollen wir unseren Freund Fields nicht belasten.
Wir haben heute zu entscheiden ... jetzt nicht - hatte ich doch gesagt!”
fuhr Steffek seinen Haushofmeister an, der sich durch den leeren Festsaal
unbemerkt der Balkontür genähert hatte. Aber der Mann gab
keine Ruhe:
“Ich muss Euch sprechen, Herr! Unbedingt!”
Der princeps entschuldigte sich bei der Tischgesellschaft und
folgte dem Haushofmeister unter den großen Kristalllüster
aus Murano.
Derweil lächelte Fields selbstgefällig in die Runde:
“Ich bin sicher, der Auftrag ist mein.”
“So? Seid Ihr sicher?” fragte Pasolini. “Darf man fragen, warum?”
Aus dem Portego blickte Steffek missbilligend herüber.
“Weil ich gewitzt und treu bin. Weil ihr gegessen habt, was
ich euch auftischte. Und weil ihr Herren noch lebt”, antwortete der
englische legat.
Steffek kehrte zurück. In seinen Augen glitzerte die Wut.
“Ich weiß es nicht, Ihr heimtückischer, eitler Fant”,
murmelte er, sich niedersetzend, “ob Ihr gut genug für uns seid.”
“Aber wir haben niemand sonst in Whitehall”, sagte Fourichon
mit einem winzigen Lächeln.
( ... )
“Noch immer keine Nachricht!”
Nepomuk Welt presste seine behandschuhte Faust an den Mund
und stürzte aus dem Zimmer, als der Doktor Feodor Jurenews Ader
punktierte. Sapin hielt ihm die Kupferschale für das Blut, während
Costa-Cabral blass am Fenster stand und schaute, wie der Blutstrahl,
nach seinem Geschmack viel zu schlapp, in das Gefäß plätscherte.
“So ein Blödsinn!” raunzte der Doktor und wandte sich
Kartaschow zu. “Der Postmeister wird langsam wunderlich. Wir sind belagert.
Wo soll da Post herkommen?”
“Doktor Bildt?” sagte Costa-Cabral.
“Hm?”
“Denkt Ihr nicht, dass Ihr die Patienten genug zur Ader gelassen
habt? Seit Wochen geht das jetzt schon so. Sie werden täglich
schwächer.”
“Das Gift muss raus!” sagte der Arzt.
“Aber ein bisschen Leben sollte drinbleiben”, erwiderte Costa-Cabral.
Am siebzehnten September 1700 hatten Costa-Cabral, Sapin und
die vier Neuen ihr Festmahl im Meinert'schen Gasthof gefeiert. Am achtzehnten
September waren sie aufgebrochen und in verzweifelter Hast umgekehrt,
um in Narwa den Arzt zu konsultieren. Als Narwas Siechenhaus am zwanzigsten
September von allen Zivilpersonen geräumt wurde, trugen sie ihre
Kranken in den Gasthof. Meinerts Küchenmägde, die vom selben
Hühnchen gegessen hatten wie die legaten, waren zu diesem Zeitpunkt
tot. Zwar hatte Costa-Cabral den Doktor bezahlt, damit er auch die jungen
Frauen behandelte, doch sie hatten im Heißhunger gewaltige
Portionen der giftigen Speise verzehrt - einfach zu viel.
Am dreiundzwanzigsten September begann Zar Peter die Belagerung
Narwas. Acht Tage später landete der schwedische König Karl
XII. bei Pernau. August der Starke hatte sich mittlerweile aus Polen
zurückgezogen, und Karl XII. eilte in Gewaltmärschen auf Narwa
zu, mit hungernden Truppen und ständig umkreist von den Schwadronen
des russischen Reitergenerals Boris Petrowitsch Scheremetjew.
( ... )
( ... )
“Da ist noch ein Relief!”
rief er. “Schauen Sie, Casanova!”
Ich schlug meine Stiefelschäfte um, damit sie im Schritt
nicht mehr zwackten und besah mir das zweite Relief. Tatsächlich:
Da prangte ein weiteres bärtiges Männergesicht an der Wand
- an der Wand des mittleren der drei Gänge.
“Baphomet!” flüsterte Patu voller Ehrfurcht.
“Wie bitte?”
“Baphomet, eine mehrköpfige bärtige Gottheit, die
der Ritterorden der Templer angeblich verehrte. Ursprünglich waren
es wohl drei Köpfe. Der französische König wollte sich
ihres Vermögens bemächtigen. Und dabei spielte die ketzerische
Götzenverehrung eine gewisse Rolle. Schauen Sie nur: hier auf dieser
Wand und drüben beim rechten Gang genau auf derselben Höhe.
Das ist der Baphomet der Templer! Der leere Umriss in der Mitte ... vielleicht
einmal der dritte Kopf?”
“Dann meint Guernon den linken Gang und hat den anderen Kopf
wahrscheinlich nie gesehen”, schloss ich und klappte die Stiefelschäfte
wieder hoch. “Vorwärts, Patu!”
Gut eine halbe Stunde später ruhten die Körper des
Sekretärs und des Stierkopfes, beide von den Ratten schon ziemlich
erleichtert, in der alten Kammer des Pariser Archivs. Der Stierkopf
übrigens war eine bemalte Maske aus Pappmaché.
Nun ging die Plackerei erst richtig los. Ich frage mich noch
heute, wie Guernon den Weg geschafft hat - einer der wenigen Punkte,
die mir Respekt abnötigen. Sogar für uns Junge, Gesunde war
es mehr als beschwerlich. Jede Aktentruhe kostete eine halbe Stunde.
Zweihundert Meter bis zum Gang. Den steilen Gang hinauf. Durch den Keller.
Die Treppe zum Hof. Und zuletzt mussten wir jedes Teil noch auf den Karren
wuchten.
Erst bei der letzten Truhe nahmen auch wir dann jenen Geruch
wahr, den Guernon so beredt beschworen hatte - brennendes Pech. Wie
auf Kommando klappten wir die Blenden unserer Laternen zu, sodass nur
noch schmale Lichtstreifen durchdrangen.
“Seien wir vernünftig!” mahnte ich. “Eine Truhe ist noch
übrig.”
“Die sprengen wir notfalls”, sagte Patu, “und wenn wir selber
dabei draufgehen ...!”
Leichtsinnig folgten wir der Neugier. Am gefährlichsten
war der Weg durch die überschwemmte Galerie, weil unser Geplätscher
hier nicht nur an der Decke Lichtreflexe auslöste, sondern auch
weithin hörbar war. Am Ende der Galerie stießen wir noch
auf den Haufen empört fiepender Nager, denen wir den Schmaus geraubt
hatten. Dann sahen wir das fremde Licht und blendeten unsere Laternen
vollends ab. Wir krochen weiter. Sie waren zwanzig oder dreißig,
alles Stierköpfe.
Ihre pseudotemplerische Zeremonie näherte sich offenbar
dem Höhepunkt. Es war eine Rede gehalten worden, die wir verpasst
hatten. Nun schloss der Redner mit den Worten: “Daher, Ritter der Armen
Ritterschaft Christi vom Salomonischen Tempel im Labyrinth, lasst uns
diesen Arsch hier küssen, anstelle des Arsches von Versailles.”
Offenbar keine besonders königstreue Gruppe. Einer nach
dem anderen trat vor, zog die Stiermaske vom Gesicht und presste seine
Lippen auf den speckigen Steinhintern, der an der Stirnseite der Kammer
aus dem Fels gemeißelt war. Patu schnappte nach Luft.
“Templer?” flüsterte er. “Aber wieso dann Stiermasken?
... wegen des Labyrinths? Minotaurische Templer? ... pah, was ein Irrwitz!
Das sind ... Bischof Dessaigne ... Louis Ricard - der Steuerpächter
der Bretagne und der Gerichtspräsident von Marseille ... mischen
wir uns ein?” fragte Patu begierig.
Ich schüttelte den Kopf. “Wozu? Sollen sie Templer spielen!”
Nun wussten wir zumindest, dass wir es mit harmlosen Irren zu tun hatten,
Antiroyalisten, die ihrem Hang zur Geheimbündelei frönten.
Vermutlich hatten sie sich vor Bertrand und Guernon mindestens so erschreckt,
wie jene vor ihnen. Ein tragischer Zufall, mehr nicht. Leise wateten wir
zurück. Nur noch die letzte Truhe, doch wir hatten unseren Rhythmus
eingebüßt, die Muskeln waren abgekühlt - und diese sechzehnte
und letzte Aktentruhe wurde zur allerschwersten. Erst im Morgengrauen
kutschierten wir die zwei Ochsenfuhrwerke mit dem geretteten Archiv nach
Paris.
In den folgenden Monaten baute ich das Haus des legaten Guernon
wieder auf und schuf ein dauerhaftes Lager für das Pariser Archiv,
den sechsstöckigen Keller, so sicher, dass er später die Revolutionswirren
unentdeckt überstand. Im September hielt ich eine Vollmacht in
Händen, die mir erlaubte, über den Kopf des immer noch schwer
kranken Guernon hinweg das Pariser Archiv nach meinem Gutdünken zu
reorganisieren. Horrea-Angelegenheiten waren bei Patu bestens aufgehoben,
sodass ich meinem neuen Freund völlig freie Hand ließ. Die
freien legaten und vor allem die Schwarzen Hände gewöhnte ich
wieder an straffe Führung. Jawohl - ich wage zu behaupten, Frankreichs
Geschichte hätte eine andere Wendung genommen, hätte man mich
in Paris belassen.
Der legat wurde nie mehr ganz gesund. Nachdem er sich einigermaßen
vom Katakombenfieber erholt hatte, kam er zwar wieder soweit auf die
Beine, dass er versuchte, mir in Venedig Schwierigkeiten zu machen,
doch Patu und ich hatten princeps Petko Karawelow mit unserer Aktion
gehörig beeindruckt, sodass er uns gegenüber dem nominellen
legaten deckte. Nach ein paar Monaten bekam ich dann auch heraus, wie
ich Guernon mit gewichtigen Fragen wie der Inneneinrichtung seines neuen
Amtssitzes vollauf beschäftigt hielt - von Fieberschub zu Fieberschub.
Das Fieber kam, wie schon die Dienerschaft erzählte, immer
öfter, immer heftiger - und jedes Mal blieb ein bisschen weniger
von Guernon am Leben.
Schließlich verstarb Philippe Auguste Baron de Guernon.
Patu und ich meldeten seinen Tod an princeps Karawelow. Aber das Antwortschreiben
stammte schon vom neuen princeps Stefan von Szemere. Es ernannte nicht
mich zum neuen legaten, auch nicht Patu, sondern jenen blassen Herren,
der während der kommenden Jahre erneut die Zügel schleifen
ließ und als hauptsächlichen Erfolg vermeldete, dass er
alle drei Monate mit Seiner Majestät dem König speise.
Mein Bruder, der mir inzwischen nach Paris gefolgt war, tat
alles andere als zu reüssieren. Die schöne O-Morphi hatte
ich leichtfertig an den König verloren - heute, da jede Leidenschaft
vertrocknet ist, kann ich mir eingestehen, dass ich sie damals sehr vermisste.
Hinzu kam das ärgerliche Duell mit dem Chevalier de Talvis. Und so
war ich nicht einmal allzu betrübt, als mich im Jahr 1752 der Befehl
des neuen princeps zwang, Paris für einige Zeit zu verlassen.
Die Archivkammer in den Katakomben war uns noch oft nützlich.
Mir half sie damals und bei späteren Aufenthalten in Paris, die
dunklen Streuner der Hauptstadt um mich zu scharen und aus diesem melancholischen
Karneval des Tempelrittertums, aus diesen Freimaurern, Schauspielern,
Salonkabbalisten und Cagliostrojüngern einen recht wirksamen Nachrichtendienst
zu formen. Einige Pariser legaten der Jahrzehnte, die noch ins Land
gingen, bevor wir endlich die Revolution auslösten, verdanken den
Kammern sogar ihr Leben. So mag man denn auch dies anrechnen im Hauptbuch
über das Wirken des Baron Guernon und es ihm zugute halten, dass
er uns durch seine Dummheit die geheimen Kammern wieder ins Gedächtnis
rief. Dann steht der arme Mann am Ende doch nicht ganz als unnütz
da.
Dossier Goethe
( ... )
Goethe hatte beschlossen,
abzusagen. Wenn er sich nun plötzlich Seite an Seite mit Aufwieglern
und Umstürzlern fand, was würde sein Weimarer Herzog davon halten?
Er durfte doch nicht seine Stellung bei Hofe aufs Spiel setzen, das Fundament,
auf dem Ruhe und Sicherheit für seine Arbeit fußen!
Goethe hat es mir haarklein erzählt. “Sie lassen mich
also zappeln?” fragte - laut Goethes Auskunft - der Marchese Guardini
im Palazzo Medici unter Benozzo Gozzolis Zug der Heiligen drei Könige.
Dort fiel die Entscheidung, nirgendwo sonst, mein Herr!
Durch die weiße, dem Trecento entlehnte Felslandschaft
schlängelte sich der Zug der Könige und ihres wimmelnden
Gefolges durch Schluchten und über Grate ins Tal, während
auf der dritten Kapellenwand Maultiere, Packpferde und Lastkamele schon
wieder bergan kletterten. Goethe war von dieser chaotischen Vielfalt gleichermaßen
fasziniert wie beunruhigt. Er musste den Kopf klären, sofort. Dennoch
zögernd tat er dem Marchese seine Absage kund. Guardini bat, er
bettelte, dann drohte er, bot schließlich Geld.
“Was für ein merkwürdiger Brückenzollturm dort
im Hintergrund”, sinnierte Goethe.
“Ein Letztes könnte ich Ihnen anbieten”, sagte Guardini.
“Sollten allerdings meine Vorgesetzten das Angebot übertrieben
finden, dann sitzt mein Kopf recht locker auf den Schultern. Sie haben
von den Grabungen in Herculaneum und Pompeji gehört? Der König
von Neapel lässt sie durchführen. Nun will ich Ihnen aber verraten,
dass die Gründer ein wachsames Auge darauf haben, besonders auf
Pompeji. An eben dem Tag, als der Vesuv ausbrach, fuhr unser Archiv auf
drei Maultierkarren durch Pompeji. Im Chaos des Vulkanausbruchs blieben
etliche Kisten mit Dokumenten zurück. Andere wurden verschüttet.
Inzwischen schreitet die Grabung zügig fort, in Richtung des Gasthofs,
unter dem das fragliche Gewölbe liegt. Wenn nun etwas gefunden würde,
antike Dokumente, und wir sie Ihnen anvertrauten ... und Sie nehmen die
Entdeckung antiker Papyri und Codizes zum Anlass, die Geschichte der Gründer
zu schreiben. So hätten Sie Ihren antiken Bezug.”
Goethe wird schwindlig, als er erfasst, in welchen Tiefen der
Zeit dieses Angebot wurzelt. Hundekläffen. Die Meute hetzt den
Hirsch. Kommt nah. Kommt näher. Zwingt Goethe, ins Gestrüpp
zu springen. Hoch zu Ross prescht der Jäger heran, schwingt den Wurfspieß,
doch er ist noch nicht dicht genug auf. Vorbei.
Goethe bleibt mit klopfendem Herzen zurück. Die Landschaft
der Toskana klärt den Kopf, die grüne Pracht. Obstgärten,
dort der Olivenhain, die Felder wohl bestellt, die Furchen gerade. Kein
Wunder, dass das Land hier gut bestellt ist, ruft Goethe sich zur Ordnung.
Die Medici, die Landesherren, bezahlen schließlich den Maler.
Und Goethes Auge wandert weiter, hinunter auf die Straße zu den
Heiligen drei Königen des Jahres 1439.
Der Schimmel des byzantinischen Kaisers Johannes VIII. Paläologos
tänzelt gefährlich nah vorbei, pass lieber auf, statt wie
gebannt den Ständer des rotgolden aufgezäumten Hengstes anzustarren!
Der Kaiser leiht im Bild seine Gesichtszüge dem König Melchior
vom Morgenland, trägt einen schwarzen, pelzverbrämten Mantel,
halbärmelig mit goldener Pflanzenstickerei. Hopp Goethe, Platz
da vorn! Der Kaiser will vorbei, muss von Ferrara nach Florenz, seiner
historischen Mission entgegen. Der Kaiser muss katholisch werden, damit
der Westen eingreift zugunsten der bedrängten Stadt Byzanz. Mach
Platz, ab in die Büsche, da kommt schon der nächste König,
diesmal ein Reiter ohne Sporen, würdiger Greis mit Rauschebart auf
einem Maultier, dessen Fellzeichnung die eines Apfelschimmels ist: der
orthodoxe Patriarch Josephus von Byzanz. Er muss über ein Bächlein,
in dem Enten quaken. Auch Patriarch Josephus ist zum Übertritt bereit,
will seinen Glauben wechseln, um Verbündete zu werben.
Kaiser und Patriarch konvertieren. Der Papst ist Venezianer
und weiß genau, wie die Handelsströme des Westens durch den
Bosporus fließen. Und im Hintergrund vermittelt die reichste Familie
ihrer Zeit - die Medici. Eine einzigartige historische Chance! Konstantinopel
ist gerettet! Wäre gerettet - wenn nicht der Patriarch Josephus
in Florenz verstürbe. Der konvertierte Kaiser muss nun ohne Patriarchen
nach Byzanz zurück. Die orthodoxe Priesterschaft gehorcht dem Kaiser
nicht, wie sie Josephus gehorcht hätte. Es bleibt alles beim Alten.
Und darum schickt der Westen keine Hilfe. Und darum gehört Byzanz
vierzehn Jahre später den Türken.
Aber so weit sind wir noch nicht. Zuerst kommt noch der dritte
König. Ein elfjähriger Knabe, Lorenzo de'Medici, später
wird er der Prächtige heißen. Vorbei. Dahinter, im Gefolge,
tun die wirklich Mächtigen bescheiden:
Piero de'Medici, Lorenzos Vater und der alte Cosimo, der Drahtzieher.
Hat dem Konzil zu Ferrara die Fourage abgeschnitten und dann großmütig
das ganze Konzil nach Florenz eingeladen. Winkt nun den schwarzen
Bogenschützen beiseite, damit er Platz macht für Goethe.
Cosimo winkt Goethe leutselig zu: Sei gegrüßt, Freund,
willst du nicht auch Vermittler sein zwischen den Welten? Du weißt,
dies hier ist mir misslungen, wer konnte ahnen, dass der Patriarch, ich
sage einmal vorsichtig - verstarb? Vorbei. Vertan. Verpasst die kosmische
Sekunde. Aber erkannt hab ich sie doch. Ergriffen hab ich die Gelegenheit
und das beste daraus gemacht. Doch du ...? Was ist, Geheimrat, bist du
nicht gut zu Fuß? Hältst du nicht mit? Da bieten dir die Gründer
an, ihre Geschichte aufzuschreiben und du - zauderst? Du könntest
dich am Licht der Zukunft wärmen - und zitterst vor ein paar Obskuranten?
Die Gründer formen die Welt um und du bangst um die Gunst deiner
Weimarer Obrigkeit? Was tust du hier an meiner Seite? Da wollen sie dir
schenken, was man in Pompeji ausgräbt und du - suchst Ausflüchte?
Weißt du nicht, dass ich Unsummen ausgab für meine Antikensammlung?
Und du sagst nein zur geschenkten Klassik? Mir verdankst du die Renaissance.
Mir schuldest du die Wiederentdeckung deiner geliebten Antike. Und mir
erzählst du, dass du dir zu fein bist für die Geschichte der
Gründer? Pack dich, Geheimrat, zischt Cosimo, pack dich oder stell
dich deinem Schicksal, und winkt den schwarzen Bogner heran.
Goethe erinnert sich noch, dass er stammelte: “Aber ich beginne
erst, sobald sich Codizes und Papyri sämtlich in meiner Hand befinden.”
Marchese Guardini hat dazu genickt.
( ... )
“Sind die vorderen
sechs Gänge lehrreicher als dieser?” fragte Goethe. Ich schüttelte
den Kopf. “Dann lassen Sie uns machen, dass wir hochkommen!” Auf der
Hälfte des Wegs hielt er und fragte: “Schön, ich verstehe,
dass jetzt, mit diesem König, alles schwierig und unsicher ist -
doch warum haben Sie nicht in den siebzehn Jahrhunderten zuvor Ihren Kram
ausgegraben?”
“Weil wir nicht wussten, wo beginnen. Bedenken Sie die meterhohe
Staub- und Steinschicht! Sie deckte alles zu! Wer einfach nur ein Loch
grub, wusste nie, wo er auskam. Man konnte sich nur orientieren, wenn
man sehr großflächig grub, und das rief sofort Plünderer
auf den Plan oder Beobachter wie diese Amerikaner eben. Aber wir hatten
stets ein wachsames Auge auf Pompeji, schon bevor 1740 Rocco de Alcubierre
die systematische Grabung begann. Danach schickten wir Winckelmann. Zu
Anfang wurden die Grabungen schlampig und unsachgemäß durchgeführt.
Frisch abgetragene Erde wurde einfach nach hinten gekippt, auf das zuvor
ausgegrabene Areal, wodurch sich die Topografie dauernd änderte.
Man war nur an Wertsachen interessiert, nicht an Häusern oder Alltagsgegenständen.
Winckelmann fand kein Gehör. Weder hier vor Ort, noch bei Hofe in
Neapel. Er wurde schikaniert. Schließlich durfte er nicht einmal
mehr die ausgegrabenen Funde katalogisieren. Da wurde es ihm dann zu viel
und er reiste ab, noch bevor 1765 der Isistempel entdeckt wurde, und man
die Fresken der Priestergemächer Battista Casanova anvertraute. Der
besorgte die Illustration für Winckelmanns Geschichte der antiken
Bauwerke. Leider zerstritten sie sich, und Winckelmann erhielt von Casanova
lauter falsche Zeichnungen vom Isistempel ...”
“Ist dieser Fälscher Casanova etwa mit dem Casanova aus
Karlsbad verwandt, der mich im Namen von princeps Molnay einlud?” fragte
Goethe alarmiert.
“Ich weiß nicht. Übrigens kennt unser legat Casanova
den Cagliostro. Wenn es also dabei bleibt, dass Sie Ihr großes
Werk über die Gründer mit Pompeji beginnen und mit Cagliostro
beschließen, dann sollten Sie Schloss Dux in Böhmen aufsuchen,
und Casanova nach Eindrücken aus erster Hand befragen.”
Als wir zum Einstieg kamen, hatte der Rock zwar einen Regenschauer
abgekriegt, aber gestohlen war er nicht. Goethe blickte sich triumphierend
zu mir um. Von den Amerikanern keine Spur. Dafür liefen wir nun
wieder Tischbein in die Arme, der uns gleich seine Skizzen erklärte
und Goethes Urteil hören wollte.
“Wir müssen fort”, sagte ich, tippte Goethe auf die Schulter
und zeigte auf das Taschentuch mit den Sesterzen, das er immer noch
festhielt. Diesmal setzte er sich über den beleidigten Tischbein
hinweg.
“Kommen Sie”, drängte er, “Marchese Guardini will mich
vor dem Kerker bewahren.”
Im Gehen stopfte er das Tuch in den Rock. Er stutzte, griff
wieder in die Tasche und zog ein Billett hervor, das er dort offensichtlich
nicht erwartet hatte. Der Brief war adressiert, nicht ganz korrekt, an
“His Excellency Johann W. von Goethe, Privy Counsellor to the Duke of
Saxonia-Wimar” und enthielt nur zwei Sätze: “Dienen Sie Vergangenheit
oder Zukunft? Wir zahlen das Doppelte. Henry W. Adams jr., Ambassador
of CNM”
( ... )
( ... )
Der princeps und sein praefect
waren eben durch die Tür, als ihnen der successor nachrief: “Ihr
wisst Herr, dass wir damit noch nicht quitt sind!”
Zuerst erschien Manini im Rahmen, wollte sich empören,
sah dann aber Bucholtz’ zerschundenes Gesicht und zog es vor zu schweigen.
Czartoryski schob ihn beiseite. “Wir sind nicht einmal morgen
quitt, Karl, nicht einmal, wenn sie dich hoffentlich einstimmig bestätigt
haben. Wir beide, Karl, sind quitt, wenn ich tot bin. Wenn du dann
auf meinem Stuhl sitzt und meine Last trägst, zu der auch dein
eigener Nachfolger gehören wird, dann Karl, dann sind wir quitt.”
ENDE
Copyright © 2007 Stefan Frank